Kindersoldaten im Wahrheitskrieg der EU

25.11.2022

Die EU-Kommission drängt in die Schulen, um die kommende Generation „resistent“ gegen vermeintliche „Unwahrheiten“ zu machen. Per „psychologischer Impfung“ sollen die Gehirne widerstandsfähig gegenüber unerwünschten Überzeugungsversuchen werden. Johannes Mosmann beschreibt die Strategie der „psychologischen Impfung“ und analysiert anhand einer Prüfungsaufgabe aus den EU-Leitlinien für Lehrkräfte die pervertierte „Medienkompetenz“, die dabei vermittelt wird.

Quellen
Auf dem Blog von Norbert Häring zu lesen
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Die Zielsetzung ist ähnlich wie im Korea-Krieg, als das Militär amerikanische Soldaten, die z.B. in Gefangenschaft geraten könnten, gegen Beeinflussung durch den Gegner widerstandsfähig machen wollte. Die EU will psychologische „Angriffe“ aus dem Osten auf die „Einstellungen“ ihrer Bürger abwehren, beginnend bei den Jüngsten.

Am 5. Juli 2022 stimmte das EU-Parlament dem „Digital Service Act“ zu. Die Konsequenzen für die Möglichkeiten freier Meinungsbildung und -äußerung habe ich in einem früheren Beitrag bereits aufgezeigt. Die meisten der damit beschlossenen Maßnahmen treffen jegliche Art von „Falschbehauptung“, unabhängig davon, ob sie absichtlich oder unabsichtlich getätigt wurde, und ob sie legal oder illegal ist.

Sofern allerdings unter dem häufig kolportierten Begriff der „Desinformationen“ die absichtliche Verbreitung von Lügen Seitens einer ausländischen Macht verstanden wird, haben NATO, Bundeswehr und Geheimdienste eigene Befugnisse jenseits dieses Gesetzesrahmens. Tatsächlich werden mit dieser Begründung NATO, Bundeswehr und Geheimdienste bereits seit 2015 am „Kampf“ gegen „Fake-News“ beteiligt. In Helsinki betreiben NATO und EU-Kommission gemeinsam ein Zentrum gegen hybride Bedrohungen, das ausländische Propagandaangriffe abwehren soll.

Welche Volksmeinungen die Wahrheitskrieger aktuell als das Werk Putins verstanden wissen wollen, kann der Datenbank der „East StratCom Task Force“ entnommen werden. Mit Stand von Oktober listet der gemeinsame Dienst von EU, EAD und NATO allein über den Ukraine-Konflikt 5.755 gezielte „Desinformationen“ auf, und viele tausend weitere zu anderen Themen wie Corona oder Klimawandel. Demnach verbreitet Russland unter anderem die folgenden „Falschbehauptungen“, um westliche Demokratien zu destabilisieren:

Wohlgemerkt: Wer solche und ähnliche Meinungen äußert, macht sich demnach nicht nur versehentlicher „Falschbehauptungen“ schuldig, sondern beteiligt sich an einem militärischen Angriff auf unser Hoheitsgebiet. Nach dieser Logik verläuft die Front zwischen NATO und Russland mitten durch Europa und hat sich seit Beginn der Pandemie kaum verschoben. Kritiker der Corona-Politik sind in aller Regel für Verhandlungen mit Russland, während Maßnahmen-Befürworter meist auch Waffenlieferungen befürworten.

Allerdings wechseln viele nun ins „feindliche“ Lager. Obwohl Bundesregierung und EU-Kommission sich größte Mühe geben, Friedensaktivismus mit Rechtsradikalismus zu assoziieren, fordern laut Forsa-Umfragen mittlerweile 77% der Deutschen, den Krieg diplomatisch zu beenden – und eine Mehrheit ist gar für Gebietsabtretungen an Russland.

Offenbar können allein nachträgliche „Entlarvung“, Unterdrückung und Zensur von „Fake-News“ der Regierung noch nicht den gesellschaftlichen Rückhalt für ihre Politik sichern. Deshalb wollen EU-Kommission und Bundesregierung nun auch „vorbeugend“ tätig werden und Kinder für „Desinformation sowie für die von böswilligen Akteuren“ verwendeten Taktiken „sensibilisieren“.

Konzepte zur Erlangung einer so verstandenen „Medienkompetenz“ sollen in den Grund- und Sekundarschulen aller Mitgliedsstaaten verankert werden. Im Februar 2022 legte der „Sonderausschuss zu Einflussnahme aus dem Ausland auf alle demokratischen Prozesse in der Europäischen Union“ des EU-Parlaments dem Plenum einen „Entwurf zur Entschließung“ vor. Darin fordert er „in der Erwägung, dass die Vorbeugung und proaktive Maßnahmen, einschließlich Prebunking, weitaus wirksamer sind als die anschließende Überprüfung von Fakten und Widerlegung von Behauptungen, die eine geringere Reichweite haben als die ursprüngliche Desinformation“ alle Mitgliedstaaten auf, „Medienkompetenz und digitale Kompetenz“ von „der frühen Jugend bis hin zur Erwachsenenbildung in ihre Lehrpläne aufzunehmen.“

Am 09. März 2022 stimmte das EU-Parlament dem Entwurf zu und begrüßte die entsprechende Beauftragung der „Expertengruppe zur Bekämpfung von Desinformation und zur Förderung der digitalen Kompetenz durch Bildung und Ausbildung“, die sich „unter anderem auf kritisches Denken, die Ausbildung von Lehrern, Prebunking, Entlarvung und Faktenüberprüfung sowie das Engagement von Schülern konzentrieren wird.“

Den Teufel an die Wand malen

„Prebunking“ ist ein Fachbegriff der Inokulations-Forschung und kann als Gegensatz zu „Debunking“ verstanden werden. Klassisches „Fact-Checking“ betreibt „Debunking“, entlarvt also Behauptungen als „falsch“, nachdem sie getätigt wurden. Das „Prebunking“ dagegen soll die psychische Einstellung des Empfängers so präparieren, dass er die fragliche Behauptung bereits für falsch hält, bevor er mit ihr in Kontakt kommt.

Das kann zum Beispiel dadurch geschehen, dass Schüler in einer virtuellen Umgebung selbst Fake-News produzieren und sich so scheinbar in „böswillige Akteure“ hineinversetzen. Treffen sie dann im Alltag auf eine Nachricht, der dieselbe Kommunikationsstrategie zu Grunde zu liegen scheint, lehnen sie deren Inhalt von vorne herein ab.

Diesem Verständnis von „Prebunking“ folgen etwa die Lernspiele „Fake it to Make it“ oder „Get Bad News“, welche die East StratCom Task Force für den Einsatz in Schulen empfiehlt. Bei „Fake it to Make it“ müssen die Schüler unter steigendem Kostendruck mit aufwühlenden Falschnachrichten permanent neue Gewinne generieren. „Get Bad News“ wiederum erfordert, „seriöse“ Meldungen anzugreifen, indem Profile gefälscht, Verschwörungstheorien verbreitet oder Regierungen kritisiert werden.

Aus ihren politischen Zielen machen die Spielentwickler kein Geheimnis. Amanda Warner, Entwicklerin von „Fake it to Make it“, erklärt ihre Motivation im Interview so: „Ich war nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen sehr erschüttert .… Ich glaube zwar nicht, dass Fake News notwendigerweise zu Trumps Wahlsieg geführt haben, aber sie haben ihn sicher nicht verhindert. Deshalb habe ich beschlossen, etwas zu tun und habe begonnen, ein Spiel über Fake News zu entwickeln.“

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat das Spiel ins Deutsche übersetzt und Materialien für den Einsatz im Schulunterricht dazu bereitgestellt.

„Get Bad News“ wurde von der etwas undurchsichtigen niederländischen Medienorganisation DROG entwickelt. Ihr Chef Ruurd Oosterwoud der auch NATO-Generäle trainiert, verfasste seine Masterarbeit über Desinformation in Russland. Dies bescherte ihm zunächst einen Posten im niederländischen Außenministerium. Dort musste er dann aber fassungslos zusehen, wie eine Mehrheit seiner Landsleute gegen das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine stimmte. Oosterwoud führte dies auf russische Propaganda zurück – und ersann „Get Bad News“. „Wenn wir Fake-News wie Spam erkennen, hat Russia Today verloren“ erklärte er seine Zielsetzung.

Die vom Bundesbildungsministerium geförderte Organisation Wissenschaft im Dialog stellt eine entschärfte Version für unter 15-Jährige bereit, und das britische Außenministerium finanziert Übersetzungen in 12 Sprachen.

Ein aufgeblasenes Bedrohungsszenario

Die in den Spielen simulierte „Böswilligkeit“ existiert durchaus in der realen Welt. Wir alle kennen die von Gewinninteressen getriebenen Aufreger auf Youtube, Facebook oder Twitter. Auch trifft es zu, dass die Empörung über Regierungen oder Konzerne oftmals zum Selbstzweck gerät. Und ja, der Kreml fördert Sichtweisen, die ihm günstig erscheinen. Das konnte man gut an den Agitationen des russischen Nachrichtensenders Russia Today während der Corona-Krise beobachten.

Während die russische Regierung im eigenen Land strenge Corona-Maßnahmen durchsetzte, animierte sie zugleich Maßnahmen-Kritiker im Westen zum Widerstand. Erstens widerlegt das aber nicht die Argumente der Maßnahmen-Kritiker. Zweitens handelt es sich bei russischer „Desinformation“ sachlich gesehen eben um Verlautbarungen pro-russischer Medien, unterstützt durch eine Troll-Armee aus St. Petersburg.

Das Institut für Sicherheitsstudien an der Johns-Hopkins-Universität untersuchte deren Methoden bereits 2020. Das Ergebnis fasste der leitende Politikwissenschaftler Thomas Rid wie folgt zusammen: „Das Verhalten, das wir aus dieser Firma in St. Petersburg sehen, ist in hohem Maße unprofessionell und schludrig, sowohl in der Verschleierung als auch in der Durchführung selbst. Nicht nur Medien, auch Experten, Behörden und Politiker haben den Einfluss der Internet Research Agency nach meinem Dafürhalten übertrieben und systematisch überschätzt – gerade weil diese Operationen so leicht zu erkennen waren.“

Damit gibt der Sicherheitsexperte der Irin Clare Daly recht, die für die Linke im Europaparlament sitzt und sich, leider erfolglos, gegen o.g. Entwurf zur Entschließung stellte:

„Die Untersuchung wurde genutzt, um Drohungen russischer und chinesischer Einmischung aufzublasen, materielle Ursachen für die Krise der politischen Legitimität in Europa zu ignorieren, abweichende Meinungen von der offiziellen EU-Außenpolitik zu stigmatisieren und Sicherheitsgründe für Einschränkungen der Meinungsfreiheit und anderer Grundrechte zu schaffen. Dem daraus resultierenden Bericht mangelt es so sehr an Ausgewogenheit und Objektivität, dass er selbst Desinformation darstellt. Die Prävalenz von „Fachwissen“, das von atlantischen und NATO-Denkfabriken gesammelt wurde und sich für Interessen einsetzt, die von Konflikten profitieren, muss selbst als eine Form der ausländischen Einflussnahme betrachtet werden. Die politische Ausrichtung, zu der sich dieser Bericht verpflichtet, führt zu einem ernsthaften und dauerhaften Schaden für den demokratischen Charakter der europäischen Gesellschaften. Die Nachwelt wird dieses Dokument bedauern.“

Russland verfügt weder über die Kompetenzen, noch über die technischen Möglichkeiten, einen „Informationskrieg“, wie ihn die NATO ausmalt, tatsächlich zu führen. Der Westens dagegen schon. Die psychologische Erforschung und Manipulation nationaler Impulse, die systematische Förderung von Oppositionellen in aller Herren Länder, die Ausbildung und Finanzierung von Terrororganisationen, die Kooperation mit den „Big Five“ der Digitalindustrie, die vollständige Kontrolle über die digitale Infrastruktur der Meinungsbildung, die Manipulation der Such-Algorythmen und „Demonetarisierung“ unliebsamer Verlage sowie jetzt auch noch die „Inokulation“ der kommenden Generation im Namen der „Freiheit“ – von solchen „Waffen“ kann Russland nur träumen.

Eine Firewall fürs Gehirn

Nicht jede Verschwörungstheorie ist abwegig, nicht jede Regierungs- oder Konzernkritik Selbstzweck und nicht jede öffentliche Erregung ökonomisch getrieben. Und wichtiger noch: Die Jagd nach aufregenden Schlagzeilen, die Emotionalisierung und Polarisierung des Diskurses, der ökonomische Druck, die politische Beeinflussbarkeit und der Hang zu Verschwörungstheorien sind keine Alleinstellungsmerkmale regimekritischer oder russlandfreundlicher Medien.

Genau dieses Vorurteil wird den Schülern aber durch derartige Lernspiele antrainiert. Insbesondere dann, wenn „Get Bad News“ Kritik an der Gentechnik oder an der WHO ins Spiel bringt, müssten aufmerksame Pädagogen eigentlich den Braten riechen. Der Lerneffekt besteht letztendlich darin, dass die Heranwachsenden gesellschaftliche Strömungen personifizieren und hinter Meinungen, die der EU-Kommission zuwider laufen, eine Verschwörung „böswilliger Akteure“ vermuten sollen.

Die Entwicklung von „Get Bad News“ wurde durch Sander van der Linden vom „Social Decision Making Lab“ in Cambridge wissenschaftlich betreut. Der renommierte Forscher gilt als bedeutendster Vertreter der Inokulations-Theorie. In der Begleitstudie zu einem in Kooperation mit Youtube durchgeführten Prebunking-Testlauf erklärt Van der Linden den Wirkmechanismus so:

„Die Inokulations-Theorie folgt einer Analogie zur medizinischen Immunisierung und geht davon aus, dass es möglich ist, eine psychologische Resistenz gegen unerwünschte Überzeugungsversuche aufzubauen, ähnlich wie medizinische Impfungen eine physiologische Resistenz gegen Krankheitserreger aufbauen. Psychologische Impfbehandlungen enthalten zwei Kernkomponenten:
1. eine Vorwarnung, die ein Gefühl der Bedrohung durch einen bevorstehenden Angriff auf die eigene Einstellung hervorruft, und
2. eine abgeschwächte (Mikro-)Dosis von Fehlinformationen, die eine präventive Widerlegung oder Vorverurteilung der erwarteten irreführenden Argumente oder Überzeugungstechniken enthält.“

Es wird also nicht nur eine „Impfreaktion“ auf „böswillige“ Verhaltensmuster, sondern insbesondere auch auf bestimmte Inhalte im Schülergehirn veranlagt.

Dass der „Sonderausschuss zu Einflussnahme aus dem Ausland auf alle demokratischen Prozesse in der Europäischen Union“ dem EU-Parlament die Anwendung von „Prebunking“ empfahl, ist kein Zufall. Sander van der Linden ist nämlich, neben Jon Roozenbeek, Co-Autor einer entsprechenden NATO-Studie, die er am 15. November 2021 dem Sonderausschuss vorgestellt hatte.

Nachdem das EU-Parlament den entsprechenden Entwurf des Sonderausschusses im März annahm und die „Expertengruppe“ für Medienpädagogik damit beauftragte, sich auf die Inokulation von Schülern zu „konzentrieren“, legte diese nun ein erstes Ergebnis ihrer Arbeit vor: Die „Leitlinien für Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte zur Bekämpfung von Desinformation und zur Förderung der digitalen Kompetenz durch allgemeine und berufliche Bildung“.

In ihrem Abschlussbericht erklären die „Experten“ für Medienpädagogik lapidar: „Roozenbeek & van der Linden (2021) hatten in einem kürzlich erschienenen Forschungspapier wichtige Ansätze zur Bekämpfung von Desinformation aufgezeigt, darunter Prebunking und Debunking.“ Sie präzisieren dann in den Fußnoten:

„Die Autoren verweisen auch auf das Konzept des oft zitierten Ansatzes der Impfung. Dieser ‚Vorbeugen ist besser als Heilen‘-Ansatz, der eng mit Prebunking verbunden ist, basiert auf der so genannten ‚Impftheorie‘ und bezieht sich auf das Potenzial, eine Art psychologischen ‚Impfstoff‘ oder ‚Antikörper‘ gegen falsche Informationen zu entwickeln, der den Einzelnen auf künftige Desinformationen vorbereitet. Beispiele hierfür sind Spiele, Videos und Infografiken.“

Dementsprechend empfiehlt die Expertengruppe den Einsatz von „GoViral“ im Klassenzimmer, einem weiteren, von Van der Linden am „Social Decision Making Lab“ in Cambridge mitentwickelten Computerspiel zur Erzeugung geistiger „Immunität“.

Ladehemmungen beseitigen

Die Wurzeln der Inokulations-Theorie liegen im Korea-Krieg. Edward Hunter, Journalist und CIA-Agent, lancierte Zeitungsberichte über die Umerziehung des koreanischen Volkes durch China. Ob er in diesem Zusammenhang auch den Ausdruck „Gehirnwäsche“ erfand, wie er zeitlebens geltend machte, ist umstritten, da das Wort zeitgleich auch in Akten des MKULTRA-Projekts auftauchte. Hunters Korea-Berichte erwiesen sich zwar als Fälschungen, verfehlten jedoch nicht ihre Wirkung.

Im März 1958 sagte Hunter vor dem „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ im Repräsentantenhaus aus. Er behauptete, nicht das Schlachtfeld, sondern die öffentliche Meinung sei der wahre Kriegsschauplatz. Russland habe den USA den „totalen Krieg“ erklärt und plane die vollständige Eroberung der USA durch Infiltration der Gehirne von US-Amerikanern. Dem Kreml sei es bereits gelungen, die us-amerikanische Führungsriege zu „erweichen“ und zum Irrglauben an die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz zu verführen:

„In Korea verfügten wir über Atomwaffen, verloren aber den Krieg und waren aufgrund des von den Kommunisten geschaffenen politischen und psychologischen Klimas nicht in der Lage, diese Waffen einzusetzen.“

Die US-Regierung müsse die Zurückhaltung beim Atombomben-Einsatz als ein medizinisches Problem verstehen und entsprechende Methoden entwickeln, um die Gehirne künftig widerstandsfähiger gegen psychologische „Attacken“ der „Roten“ zu machen.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Gehirnwäsche-Versuche der US-Regierung mit Projekten wie „Artischocke“, „Bluebird“ oder MKULTRA, bei denen die CIA mit ehemaligen KZ-Ärzten zusammenarbeitete, längst bizarre Formen angenommen. Dank Hunters Berichten konnte nun aber laut und vor allem auch im akademischen Kontext über „Mind Control“ nachgedacht werden.

Um das grundsätzliche Problem zu veranschaulichen, beschrieb der CIA-Agent mehrere Fälle, in denen gefangengenommene US-Soldaten nach ihrer Befreiung Verständnis für den Feind zeigten und gegenüber den USA kritisch eingestellt waren. Einige wollten sogar in Korea bleiben.

William J. McGuire von der sozialpsychologischen Fakultät in Yale, auf den sich Roozenbeek & van der Linden in ihrer NATO-Studie beziehen, untersuchte diese Fälle und versuchte, das Problem zu lösen. Er stützte sich dabei auf die Arbeit von Carl Hovland, der am selben Institut zuvor bereits den „sleeper effect“ entdeckt hatte. Demnach neigen Menschen dazu, eine Nachricht für wahr zu halten, wenn diese nach neun Wochen im Bewusstsein reaktiviert wird – unabhängig davon, ob sie tatsächlich wahr ist. Die Erinnerung an die Glaubwürdigkeit der Quelle geht mit der Zeit verloren, die Botschaft selbst lebt jedoch im Unterbewusstsein fort und kann deshalb durch bloße Wiederholung zur festen Überzeugung werden.

William J. McGuire entwickelte die Methode der „Persuasion“ zunächst weiter und bewies sodann, dass auch der umgekehrte Weg möglich ist: mittels entsprechender psychologischer Techniken kann die innere Einstellung konserviert und dauerhaft vor „Angriffen“ von Andersdenkenden „geschützt“ werden.

Dazu ist es nötig, der Konfrontation mit einem möglicherweise überzeugenden Argument des Gegners durch „Impfung“ mit einem schwächeren Argument vorzugreifen. Der zu schützende Organismus lernt dabei, in einen Verteidigungsmodus zu gehen, bevor er das für ihn gefährlichere Argument durchdenken kann. Das Argument des Gegners aktiviert dann beim Erstkontakt sofort die bereits veranlagte ablehnende Haltung.

Um das zu erreichen, muss im „geschützten Rahmen“ mit „abgeschwächten“ Falschinformationen geübt werden. Das kann die Schule sein, aber auch ein entsprechend moderierter öffentlicher Debattenraum.

Idealerweise kennt man die zu erwartende Argumentation des Gegners, und bringt sie, bevor er sie äußern kann, in „abgeschwächter“ Form selbst an die Öffentlichkeit. Wenn der Gegner sich dann verständlich machen will, bleibt das fruchtlos, weil seine Erklärung das zuvor präparierte psychologische Immunsystem der Bevölkerung aktiviert.

Roozenbeek & van der Linden erläutern die weitere Geschichte der Theorie so:

„Obwohl sich das ursprüngliche Paradigma als in hohem Maße replizierbar erwiesen hat, wurde es lange Zeit nicht in dem Kontext getestet, der McGuire zu seiner Idee inspirierte: Gehirnwäsche und Propaganda. Dies begann sich 2017 zu ändern, als Forscher begannen, die Impftheorie im modernen Kontext der Online-Fehlinformation anzuwenden. Van der Linden et al. zum Beispiel untersuchten, ob es möglich ist, Menschen gegen Fehlinformationen über den Klimawandel zu impfen.“
Inoculation Theory and Misinformation, 
S. 8, NATO Strategic Communications Centre 2021

Dann kam Corona, jetzt der Ukraine-Krieg – und damit die große Stunde der „psychologischen Impfung“.

Die neue Medienpädagogik in der Praxis

Die EU-Leitlinien für Lehrkräfte kommen sympathisch daher, gespickt mit hübschen Grafiken und verständnisvoll anmutenden Erläuterungen von Unterrichtssituationen. Eingangs werden die zentralen Begriffe dieser „Medienpädagogik“ erklärt, darunter auch das „Prebunking“. Dieses sei die „Widerlegung eines überzeugenden Arguments, bevor das Argument verbreitet wurde.“ Gleichwohl betonen die Verfasser, dass Initiativen, die auf der Inokulations-Theorie beruhen, zwar „vielversprechend“ seien, aber noch kein Allheilmittel darstellten.

Dementsprechend umfasst das Papier ein breites Spektrum pädagogischer „Tools“, von denen viele auf den ersten Blick durchaus sinnvoll erscheinen. Beispielsweise werden die Pädagogen dazu aufgerufen, sensibel mit der Tatsache umzugehen, dass Schüler möglicherweise bereits mit Desinformationen infiziert sind. Diese solle man nicht vor den Kopf stoßen, sondern ihnen das Gefühl geben, dass sie ihre Meinung frei äußern können. Die abschließende Empfehlung, wie die erreichte „Medienkompetenz“ dann geprüft werden sollte, lässt gleichwohl keine Zweifel an den Absichten dieser „Pädagogik.“ Als Beispiel für eine Prüfungsaufgabe wird genannt:

„Wahr oder gefälscht? Unterstreichen Sie nach den folgenden Schlagzeilen „wahr“ oder „gefälscht“.
a. Die Regierung manipuliert die öffentliche Wahrnehmung der Gentechnik, um die Akzeptanz solcher Techniken zu erhöhen. (wahr oder gefälscht)
b. Die Einstellung gegenüber der EU ist sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas weitgehend positiv. (wahr oder gefälscht)
c. Bestimmte Impfstoffe sind mit gefährlichen Chemikalien und Toxinen belastet. (wahr oder gefälscht)
Bitte begründen Sie Ihre Antworten zu Frage 1 – Warum halten Sie die Schlagzeilen für wahr oder falsch? Wie können Sie herausfinden, ob die Schlagzeilen richtig oder irreführend sind?
Hinweis: Die Schlagzeilen a und c sind gefälschte Schlagzeilen und b ist eine echte Schlagzeile. Die Beispiele a und c sind Beispiele für Verschwörungstheorien. 1c ist emotional manipulativ. Fragen Sie eine sachverständige Person oder führen Sie für die Informationen einen Fakten-Check in anderen glaubwürdigen Quellen durch, um herauszufinden, was richtig ist.“

Diese Prüfungsfrage ist in mehrfacher Hinsicht irreführend und erlaubt zudem keine einzige richtige Antwort.

Zunächst einmal fordert der Begriff der „Kompetenz“ zwingend einen Maßstab, an dem er gemessen werden kann. In diesem Fall ist das die „Wahrheit“ oder „Unwahrheit“ einer Aussage. Dieser Maßstab wird jedoch stillschweigend vorausgesetzt und in keiner Weise reflektiert. Welche Instanz fällt hier das Urteil darüber, dass a und c unwahr, b dagegen wahr ist? Offenbar weder die zu prüfenden Schüler, noch deren Lehrer.

Wahrheit ist jedoch grundsätzlich nur innerhalb der jeweils aktuellen Bezugnahme des urteilenden Subjekts auf sein Erkenntnisobjekt möglich. Sie „existiert“ nicht an und für sich. Zwar empfiehlt das Papier zum Ersatz für den individuellen Erkenntnisakt und das verhinderte Evidenz-Erlebnis die Orientierung an „glaubwürdigen Quellen“. Dieser Hinweis ist jedoch eine Tautologie. „Glaubwürdig“ ist nämlich die Quelle, deren Aussage wahr ist.

Pädagogen und Schüler drehen sich also im Kreis. Statt eines Erkenntnisurteils wird das Vorurteil über eine „Wahrheit“ bemüht, von dem wiederum die „Glaubwürdigkeit“ der Quelle abhängig gemacht wird. Das ist Erziehung zu Unmündigkeit und Medien-Inkompetenz.

Vor diesem Hintergrund verwandeln sich auch die vielen guten Ratschläge, die das Papier den Pädagogen an die Hand gibt, zu Instrumenten der Manipulation. Beispielsweise wird sinnigerweise empfohlen, die Schüler dafür zu sensibilisieren, wie Fake-News unsere Emotionen triggern.

Das tun aber eben nicht nur die von der EU als „Fake“ klassifizierten News, sondern alle News, und insbesondere auch die hier als grundsätzlich „glaubwürdig“ deklarierten Massenmedien oder „Autoritäten“. Wenn Bundesaußenministerin Annalena Baerbock behauptet, mit der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine werde „unsere Freiheit verteidigt“, so hat dies genauso viel oder wenig mit der Wirklichkeit zu tun, wie wenn Putin den Angriff auf die Ukraine als „Spezialoperation“ bezeichnet.

Beide Formulierungen sind keine Fakten-Berichte, sondern symbolhafte Bildsprachen mit dem Ziel, entsprechende Stimmungen zu erzeugen. Es macht qualitativ keinen Unterschied, ob die Schüler die Funktionsweise von Propaganda am Beispiel der Rede eines russischen oder der eines westlichen Politikers kennenlernen. Entscheidend ist, dass sie verstehen, wie sie funktioniert. Stattdessen sollen die Schüler aber offenbar zu dem Vorurteil erzogen werden, dass das eine Lager immer die Wahrheit sagt, während das andere immer lügt.

Zu diesem Zweck haben sie laut Leitlinien „die glaubwürdigen Quellen“ zu „identifizieren“. Die Lehrkraft soll gar Vertreter der Fakten-Check-Organisationen in den Unterricht einladen und mit der Klasse den „Internationalen Tag des Fakten-Checks“ besuchen.

Informationen sind keine Fakten

Wirkliche Erziehung zur Medienkompetenz würde von der entgegengesetzten Prämisse ausgehen: Keine Quelle ist prinzipiell „glaubwürdig“, keine Aussage grundsätzlich „wahr“. Der Internetnutzer hat es niemals direkt mit Fakten, sondern immer mit Berichten anderer Menschen zu tun, und muss deshalb immer zu verstehen suchen, wie der jeweils Berichtende eingestellt ist, was er möglicherweise bezweckt, welche Gefühle er im Leser erzeugt usw.

Das absolute Mindestmaß an Medienkompetenz besteht darin, zu verstehen, dass wir es im digitalen Raum niemals und nirgendwo mit der Wirklichkeit, sondern stets mit Bildern derselben zu tun haben, die selbstverständlich subjektiv geprägt sind. Inwieweit eine Aussage wahr oder eine Quelle glaubwürdig ist, muss der Schüler selbst von Fall zu Fall beurteilen lernen.

Den Schülern anzutrainieren, sich an „glaubwürdigen Quellen“ oder gar an Fakten-Checks zu orientieren, verhilft nicht zur Medienkompetenz. Ein guter Deutschunterricht, der beispielsweise für die Bildgewalt der Sprache sensibilisiert, dagegen schon. Ich selbst durfte noch erleben, wie mein Lehrer uns Schüler einen Text über die „Freiheit“ lesen ließ, der uns begeisterte. Anschließend offenbarte er uns, dass der Verfasser Adolf Hitler hieß. Wir waren schockiert, dass wir das nicht bemerkt hatten. So kamen wir ins Gespräch darüber, was das Wort „Freiheit“, abgesehen vom Faktenbezug, in uns ausgelöst hatte. Wir verstanden, dass wir stets die psychologische Ebene von Sprache, den historischen Kontext und die möglichen Absichten der „Quelle“ mitberücksichtigen müssen. Das war äußerst wirkungsvoll.

Passend zur Zeitlage könnte man heutigen Schülern ja vielleicht den folgenden Ausspruch einer anderen historischen Persönlichkeit zur Diskussion vorlegen: „Man beginnt nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt mehr und mehr einzusehen, daß die Freiheit des Geistes und die Freiheit der Meinung Grenzen finden müssen, wo sie sich mit den Rechten und Verpflichtungen des Volkes und Staatskörpers zu stoßen beginnen.“

Seit jener eindrucksvollen Unterrichtsstunde achte ich bei jeder Nachricht, ganz gleich, wer die Quelle sein mag, niemals nur auf die abstrakte Wortbedeutung, sondern immer auch auf die „Bildgestaltung“, also z.B. darauf, wie etwas gesagt, oder was gar nicht gesagt wird, aber auch auf das, was der Autor unbeabsichtigt über sein Weltbild verrät, usw.

Aber auch in Fotos oder Videos sehe ich niemals nur „Beweise“ für vermutete Fakten, sondern immer auch „Bilder“ im psychologischen Sinn. Das Foto der Leiche des zweijährigen Alan Kurdi, die 2015 an der türkischen Mittelmeerküste angespült wurde, dokumentierte einerseits ein Ereignis. Als bloßes Dokument wäre es jedoch wirkungslos geblieben. Seine politische Sprengkraft lag in der besonderen Bildsprache, die als einfaches Symbol für komplexe Zusammenhänge funktionierte.
Die mit dem Bild assoziierten „Wahrheiten“ bewegten Öffentlichkeit und Politik, wurden durch das Foto aber tatsächlich gar nicht dokumentiert. Damit will ich weder andeuten, dass ich die Echtheit des Fotos leugne, noch, dass ich mit der emotionalen Botschaft des Bildes nicht einverstanden war, sondern nur, dass ich Dokument- und Bildebene unterscheide.

Genauso unterscheide ich bei den Leichenfotos aus Butscha scharf zwischen dem, was sie möglicherweise dokumentieren und dem, was sie „sagen“ und gesellschaftlich bewegen, und so bei jedem anderen Foto auch. In aller Regel dokumentieren Fotos oder Videos im medialen Gebrauch nicht oder nicht exakt das, was sie als Bilder aussagen. Ein Kunstunterricht, der diesen Namen verdient, könnte den Schülern wiederum in dieser Beziehung eine sichere Grundlage für den kompetenten Mediengebrauch verschaffen.

Wahrheit ohne Kontext?

Alle drei Aussagen in der oben zitierten Prüfungsfrage sind logisch richtig und daher prinzipiell möglich. Ob sie darüberhinaus auch „wahr“ oder „unwahr“ sind, kann ohne Bezug auf das konkrete Geschehen schlechterdings nicht entschieden werden.

Zum Beispiel die Aussage a: „Die Regierung manipuliert die öffentliche Wahrnehmung der Gentechnik, um die Akzeptanz solcher Techniken zu erhöhen.“ Gemäß Leitlinie sollen die Schüler diese als Fälschung und zudem als Beispiel für Verschwörungstheorien erkennen. Doch was ist konkret mit „Gentechnik“ gemeint? Falls Rote Gentechnik gemeint ist, könnte die Aussage anhand eines Berichts über die Kampagne der Bundesregierung für mRNA-Impfstoffe in einen konkreten Kontext gestellt werden. War diese Kampagne manipulativ, und wenn ja, inwiefern? Sollte dagegen Grüne Gentechnik gemeint sein, könnte die Aussage zum Beispiel anhand eines Berichts der Frankfurter Rundschau vom 03.07.2012 auf folgende Weise konkretisiert werden:

„Als sich vor fünf Jahren die französische Regierung gegen gentechnisch veränderte Pflanzen aussprach, war in Unterlagen der US-Botschaft in Paris sogar von ‚Vergeltung‘ dafür die Rede. Seit mehr als zehn Jahren versucht das US-Außenministerium nachweisbar, gentechnisch verändertem Saatgut zum weltweiten Durchbruch zu verhelfen. Denn in den USA hat die Grüne Gentechnik ihren Siegeszug abgeschlossen, neues Wachstum muss jetzt aus dem Ausland kommen. US-Botschaften weltweit sind zum organisatorischen Rückgrat dieser Mission geworden. Sie stehen in Kontakt mit Wissenschaftlern, katholischen Geistlichen, Saatgutriesen, Entwicklungshilfeorganisationen, Politikern. Nach der Lektüre der Depeschen kann man getrost behaupten, dass die US-Regierung die wichtigste Lobby-Organisation der Gentechnik ist.“

Der Bericht stützt sich auf Depeschen des US-Außenministeriums, die Wikileaks zugespielt wurden.

In diesem Kontext ist die Aussage a, anders als die EU-Leitlinie für Lehrkräfte behauptet, sehr wahrscheinlich wahr. Jedenfalls kann der Schüler am konkreten Beispiel die Wahrheit der Aussage und auch die Glaubwürdigkeit der Quellen kritisch prüfen. Die Instanz, die über beides entscheidet, ist dann der Schüler selbst. Das wäre wiederum Erziehung zu wirklicher Medienkompetenz.

Nebenbei würden die Schüler auch dafür sensibilisiert, dass diese Fakten nur Dank Wikileaks überprüfbar sind. Ohne Julian Assange, der dafür mit seiner Freiheit bezahlt, könnten die Schüler in der Tat nur schwer die Falschbehauptung ihrer Lehrer widerlegen, bei Aussage a handle es sich um eine Verschwörungstheorie.

In einem anderen Kontext mag dieselbe Aussage gleichwohl falsch sein. Aber um den Kontext, von dem Wahrheit und Unwahrheit einer jeden Aussage abhängen, geht es in der Übung offenbar nicht. Vielmehr sind die Schüler dazu angehalten, die abstrakte Vorstellung, die Regierung manipuliere die öffentliche Meinung, pauschal für falsch zu halten, ohne einen möglichen Faktenbezug herstellen oder gar prüfen zu können. Andernfalls kassieren sie schlechte Noten und riskieren ihren „Bildungserfolg“. Dieses Vorgehen stellt seinerseits eine Manipulation durch die Regierung dar, noch dazu eine ausgesprochen perfide.

Dasselbe gilt für die zweite Aussage: „Die Einstellung gegenüber der EU ist sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas weitgehend positiv“. Diese sollen die Schüler gemäß EU-Leitlinie pauschal für richtig halten. Doch wessen Einstellung zu welchem Aspekt der Europäischen Union ist gemeint, wer wurde wann und wo und mit welcher Methode befragt? Schon der Versuch, auf dieser abstrakten Ebene über „Wahrheit“ oder „Unwahrheit“ entscheiden zu wollen, ist Ausdruck von Inkompetenz oder manipulativer Absicht.

Die dritte Aussage sollen die Schüler dann wieder als Verschwörungstheorie abtun: „Bestimmte Impfstoffe sind mit gefährlichen Chemikalien und Toxinen belastet“. Das Frauenhofer Institut berichtete jedoch am 03. Januar 2019, dass es erstmals gelungen sei, Impfstoffe ohne Rückstände giftiger Chemikalien herzustellen. Diese und viele andere Forschungsbemühungen gäbe es nicht, wenn c tatsächlich unwahr wäre.

Wie gefährlich derartige Giftstoffe sind, ist natürlich eine andere, sehr komplizierte Frage. Doch selbst wenn es überhaupt keine Begleitstoffe gäbe, könnte eine Kennzeichnung der Aussage c als „unwahr“ niemals richtig sein, und zwar aus folgendem Grund: Diese Aussage steht nicht für sich selbst, sondern fungiert wiederum als Symbol für ein ganzes Spektrum möglicher kritischer Aussagen über Impfstoffe. Wie die EU-Kommission, so wissen doch auch Lehrer und Schüler, dass hier Bezug auf die Corona-Pandemie und die Impfskepsis vieler Menschen genommen wird, und ordnen c entsprechend ein.

Die Impfskepsis beruht aber insbesondere auf Argumenten wie denen, dass mit den Corona-Impfungen die mRNA-Technologie erstmals auf dem Menschen angewandt, ehemals bindende Mindestanforderungen für die Zulassung über den Haufen geworfen, Kritiker mundtot gemacht wurden, man sich zur Impfung gedrängt fühlte oder das persönliche Risiko in keinem Verhältnis zum zu erwartenden Schutz stand.

Nur ein kleiner Teil der Impfskeptiker fürchtete sich tatsächlich vor giftigen Beimischungen. Mit der Aussage über giftige Zutaten in Impfstoffen wird den Schülern das schwächste und vielleicht auch unsympathischste Argument gegen Corona-Impfungen vorgelegt. Dieses können sie leichter lächerlich finden – und werden damit zugleich präpariert, stärkere Argumente ungeprüft abzulehnen. Hier kommt also wiederum die Inokulations-Theorie zum tragen.

Das aktuell beste Wissen

Neben GoViral wird derzeit eine Fülle weiterer „Tools“ zur Erzeugung einer „Resilienz“ gegen Unwahrheiten für den Einsatz in Schulen erprobt und über die Kanäle der EU beworben. Einen guten Überblick bietet auch hier die Webseite der East StratCom Task Force. Sie erklärt ihre Mammut-Aufgabe so:

„Das Aufräumen des Informationschaos ist eine enorme Herausforderung, doch wir sind optimistisch, denn das Bild wird jedes Jahr ein bisschen klarer. Genauso wie wir die Ausbreitung von COVID-19 eindämmen müssen, ist es wichtig, dass wir nicht abwarten und Tee trinken, bis sich die endgültige Wahrheit herauskristallisiert. Wir müssen jetzt handeln und uns auf das aktuell beste Wissen berufen.“

Zwar wirken viele der empfohlenen Methoden und Programme zur Erzeugung einer „Resilienz“ gegen alles, was nicht dem „aktuell besten Wissen“ der EU-Kommission entspricht, noch recht unausgereift. Sie entwickeln sich jedoch mit rasanter Geschwindigkeit und kommen bereits in den Schulen an.

Am 29. September 2022 veröffentlichten die Nachdenkseiten ein internes Papier der Bundesregierung, die dessen Echtheit inzwischen bestätigte. Es belegt, dass die Bundesregierung im Hinblick auf die Meinungsbildung zum Ukraine-Krieg Einfluß auf die Curricula der Schulen nehmen und zudem Schülerprojekte wie die „Kinderreporter“ für eine Stärkung der „Nachrichtenkompetenz und damit Resilienz gegenüber Desinformation 6-14-Jähriger“ nutzen will.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Schulbehörden von allen Schulen – auch von den „freien“ – Medienkonzepte für die „Resilienz“ der Schülergehirne fordern werden. Die Pädagogische Forschungsstelle des Bundes freier Waldorfschulen forscht bereits unter dem Projekttitel „Zukunftsprojekt zur Stärkung der Medienmündigkeit mit der Buzzard App“ zum Einsatz einer Anti-Verschwörungstheorien-Software. Erste Waldorfschulen nutzen die App im Unterricht.

Der Ansatz klang zunächst durchaus vielversprechend: Die Macher von Buzzard beabsichtigten eigentlich, Mainstream-Medien und unabhängige Journalisten wie z.B. das Team der Nachdenkseiten gleichwertig zu behandeln und so die freie Urteilskraft der Schüler herauszufordern.

Nach heftigen Medienprotesten gegen diese Gleichbehandlung benannte das Unternehmen jedoch ein Kuratorium von „Experten“, darunter den ehemaligen Chefredakteur der Bild am Sonntag, die nun zu „Quellenauswahl und Kriterien“ beraten. Über die Redaktion der Nachdenkseiten schreibt Buzzard nun, diese verstoße „immer wieder“ gegen „journalistische Standards“.

Gerade das Schicksal solcher gutgemeinter Versuche zeigt, welchen Kräften das Bildungswesen heute ausgesetzt ist. Statt sich jedoch als Resonanzkörper für die Schwingungen der Gesellschaft anzubieten, hat Schule den Heranwachsenden zu ermöglichen, sich diesen erkennend gegenüberzustellen – und die Schüler deshalb insbesondere auch vor einer Politisierung der Pädagogik zu schützen. Das, und nichts anderes, ist die Aufgabe von Schule in medialer, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht.

Wird die kommende Generation dagegen mit dem „aktuell besten Wissen“ der Regierung präpariert, dann wird das Wissen morgen nicht besser als heute sein. Dann wird das Morgen von ewig Gestrigen definiert, und die Vergangenheit in die Zukunft hinein konserviert. Über welche Gestaltungsmöglichkeiten unsere Kinder als Erwachsene verfügen werden, hängt deshalb entscheidend davon ab, wieviel Resilienz ihre Lehrer gegenüber der aktuellen politischen Einflussnahme entwickeln können.