Was hat Waldorfschule mit Weltpolitik zu tun?

01.09.2010

Die Deutschen und die Idee der sozialen Dreigliederung

Wenn wir das Geistesleben Europas ins Auge fassen, so gleicht es einem System von Fäden, die vielfach verschlungen sind, wir mögen aber welchen immer dieser Fäden verfolgen, so kommen wir doch auch heute nach Deutschland als dem Kreuzungspunkte, in dem sich alle treffen. Das wissenschaftliche, künstlerische und wirtschaftlich-soziale Leben Europas ist ein Zusammenhang von Kräften, die sämtlich in Deutschland ihr Zentrum haben. Rudolf Steiner

Ein altes Gespenst meldet sich zurück

Das politische Klima zwischen Deutschland und seinen europäischen Nachbarn hat sich in den vergangenen Wochen dramatisch verschlechtert. „Merkel unter EU-Staatschefs zunehmend isoliert“ titelte beispielsweise Die Welt am 22. Juni. Der Sarkozy-Berater Jacques Attali spricht aus, was die Nachbarn Deutschlands so beunruhigt: „Es scheint so, als gerate Europa unter deutsches Diktat.“[1] Offenbar bricht eine alte Wunde wieder auf.

Was war geschehen? Nun, die Deutschen haben wie kein anderes Volk gelernt, an die Thesen der Wirtschaftswissenschaft zu glauben. Vor allem glauben sie daran, dass es wichtig sei, viel zu produzieren und viel zu exportieren. Deshalb sollen die arbeitenden Menschen in Deutschland immer länger arbeiten und dafür immer weniger bekommen. Denn wer Weltmeister des Exports werden will, der muss konkurrenzlos billig sein, und der muss Kapitalgebern hohe Gewinne durch niedrige „Lohnstückkosten“ ermöglichen. Also hat sich Deutschland aufgemacht, das Billiglohnland Europas zu werden.

In Deutschland ist ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor mit Stundenlöhnen von bis zu weit unter 6 Euro errichtet worden, um den „Wirtschaftsstandort Deutschland“ zu sichern. Dass das die europäischen Nachbarn zwingen wird, ebenfalls die Löhne zu drücken, hat man dabei ausgeblendet. Die Regierungen Frankreichs, Italiens, Spaniens, Griechenlands, Portugals und Irlands haben versucht, mitzugehen, aber sie sehen sich außerstande, so weit zu gehen wie die Deutschen.

Deutschland exportiert weit mehr in die Nachbarländer, als es von ihnen importiert. 2009 betrug der Handelsbilanzüberschuss gegenüber Spanien 12 Milliarden, gegenüber Großbritannien 20 Milliarden und gegenüber Frankreich sogar 27 Milliarden – das bedeutet, Menschen in Deutschland haben Waren und Dienstleistungen von entsprechendem Wert erstellt und in die jeweiligen Länder geliefert, ohne eine Gegenleistung zu erhalten. Die Deutschen haben davon natürlich nichts. Aber auch Spanier, Engländer oder Franzosen haben nichts davon. Denn mit welchem Geld sollen sie die Produkte aus Deutschland kaufen, wenn die eigene Wirtschaft dank der Billigware aus Deutschland kaputt geht?

Am Beispiel Spaniens sieht man, wie das doch geht: die Deutschen haben den Spaniern das Geld geliehen, mit denen die Spanier die Produkte aus Deutschland kaufen konnten. Denn, so der Hintergedanke, wenn uns die Ausländer was schuldig sind, dann müssen sie uns später einmal die Rente zahlen. Nur – und da hakt der Hintergedanke – wer produziert das dann, was die deutschen Rentner der Zukunft konsumieren? In Wahrheit ist die Exportweltmeisterei eine Einbahnstraße. Wenn Landwirtschaft und Industrie anderer Länder nämlich schrumpfen, weil sie mit der deutschen Lohndrückerei nicht konkurrieren können, wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie irgendwann etwas zurückgeben, immer geringer. Für beide Seiten ist darum nur eine ausgeglichene Handelsbilanz erstrebenswert – dass ein anhaltender Exportüberschuss durch das bloße Anhäufen von Schuldtiteln zu einem Ausgleich in ferner Zukunft führen könne, ist ein Phantasma. [2]

Die französische Wirtschaftsministerin Christine Lagarde versuchte vergangenen Monat, die Deutschen zur Vernunft zu rufen: „Wenn man sich die Lohnstückkosten anschaut, dann waren die Deutschen in dieser Hinsicht ungeheuer gut. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das ein nachhaltiges Modell ist – langfristig und für die gesamte Gruppe. Wir brauchen offensichtlich eine bessere Angleichung.“[3] Die Deutschen, so die Ministerin weiter, sollen ihre Löhne anheben und die Exporte zurückfahren. Die Antwort von Bundeskanzlerin Merkel lautete: „In der Diskussion, die wir innerhalb der Eurogruppe und der Europäischen Union führen, geht es vor allem darum, dass es uns gelingen muss, die Wettbewerbsfähigkeit aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union und speziell der Eurostaaten anzugleichen, und zwar nicht in Richtung der Schwächeren, sondern in Richtung der Stärkeren. Das ist das Ziel, das Deutschland verfolgt. Wenn wir dieses Ziel nicht erreichen, werden wir in der Welt nicht wettbewerbsfähig sein.“[4]

Das Land der Dichter und Denker

Man darf das Charakteristische in der Auseinandersetzung zwischen Christine Lagarde und Angela Merkel nicht übersehen: Die französische Ministerin benennt ein sachliches Problem und argumentiert aus der Wirklichkeit heraus. Die Bundeskanzlerin antwortet, aber sie antwortet rein ideologisch. Dabei kann man Engländern und Franzosen natürlich diese oder jene Interessen unterstellen. In jedem Falle sind ihre Argumente aber im Hinblick auf ihre praktischen Interessen wirklichkeitsgemäß. Die Phrasen von Angela Merkel, man müsse in der Welt konkurrenzfähig bleiben und die Löhne weiter drücken, stehen dagegen nicht einmal in einem Zusammenhang mit deutschen< Interessen. Da hat sich ein Gedanke ganz losgelöst von allem Wirklichkeitsbezug und wird um seiner selbst willen vertreten – koste es, was es wolle.

Mit der Neigung, eine Idee auch gegen jede Wirklichkeitslogik zu verfolgen, ist den Deutschen von jeher auch ihre besondere Rolle in der Weltpolitik bestimmt. Deutsche haben den Sozialismus erdacht, und Deutsche haben den Neoliberalismus erdacht. Letzterer ist die gedankliche Verarbeitung des englischen Liberalismus durch Wirtschaftstheoretiker aus Deutschland und Österreich. Der Unterschied zwischen Liberalismus und Neoliberalismus liegt darin, dass die englische Wirtschaftslehre eine Beschreibung der Praxis ist, die deutsche dagegen ein theoretisches Konstrukt: Das wichtigste Buch des Liberalismus, „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ von Adam Smith, kann kaum als ein geschlossenes Gedankensystem angesehen werden. Es ist im wesentlichen eine Beschreibung der tatsächlichen Vorgänge im England jener Zeit. Und in England macht sich eben Mitte des 18. Jahrhunderts durch den Einschlag des Egoismus ein gewisser Wohlstand bemerkbar, so dass Smith glauben muss, eine „unsichtbare Hand“ führe die Gesellschaft zum Guten, wenn sich jeder seinem Egoismus ergebe. Ganz anders dann die Weiterführung dieses Liberalismus durch Walter Eucken, Alexander Rüstow, Franz Böhm und Wilhelm Röpke zum Neoliberalismus: die Deutschen versuchen, sich ein geschlossenes Gesellschaftssystem auszudenken. Manche gehen dabei so weit, dass sie eine „Ordo“ als schematische Gesellschaftsform für einzelne Länder konstruieren.[5]

In Deutschland versuchen die Neoliberalen dann, ihr Konstrukt auf die Wirklichkeit zu pfropfen, indem sie die „Soziale Marktwirtschaft“ installieren. Und um die ganze Welt zum Neoliberalismus zu bekehren, schließen sie sich in der von August Friedrich von Hayek gegründeten Mont Pelerin Society mit den englischen und amerikanischen Liberalen zusammen. Die Mont Pelerin Society, zu deren Gründungsmitgliedern übrigens auch Ludwig Erhard zählt, wird dann die einflussreichste Denkfabrik des 20. Jahrhunderts, von ihr gehen die Initialzündung für 93 weitere neoliberale Think Tanks in der ganzen Welt aus.[6] Sie bestimmen die Inhalte von Schulbüchern, besetzen Lehrstühle an den Universitäten, verfassen Reden für Politiker und platzieren Szenen in Nachmittagssoaps. Die Deutschen sind also nach wie vor die „Dichter und Denker“ der Welt, auch wenn diejenigen unter ihnen, die lieber andere für sich denken lassen, nichts davon mitbekommen.

Das Denken schlägt die Wunde – und heilt sie

Die beiden großen Ideologien, die gegenwärtig die Menschheit tyrannisieren, sind Kopfgeburten aus Deutschland. Weil aber ausgerechnet in Deutschland auch der Impuls für die gerade entgegengesetzte Art lebt, das Denken zu gebrauchen, liegt darin die große Tragödie der neueren Geschichte.

Jener Impuls wurde von vielen großen Dichtern und Denkern empfunden, deren Namen Deutsche noch heute gerne gedenken, und besonders tief von ihrem Dichterfürsten: Johann Wolfgang Goethe. Dieser Dichter und Denker zeigte, wie das Denken aufgefasst und geführt werden muss, damit es nicht mehr nur Theorien über die Wirklichkeit stülpt, sondern aus der Wirklichkeit herausschält, was in ihr selber liegt. Darin liegt die wahre kulturhistorische Bedeutung Goethes, dass er im Denken den Schlüssel fand, der es heraus aus der Studierstube und hinein in die Wirklichkeit zu führen vermag.

Was macht Goethe nämlich? Er studiert die Theorie von Isaac Newton, wonach die Farben im Licht enthalten seien. Und er bemerkt, dass sich Newton zwar von der Erfahrung belehren lassen will, dabei aber selektiert, weil in seinem Geist die Theorie bereits vorliegt. Tatsächlich hat Newton deshalb nichts weiter zu tun als diejenigen Erfahrungen aufzusuchen, welche die bereits abgeschlossene Gedankenbildung zu beweisen scheinen. So will sich Goethe nicht zur Wirklichkeit stellen! Für ihn ist klar: Wenn eine Idee über einen physikalischen Zusammenhang eine Berechtigung haben soll, dann muss sie durch die Zusammenstellung der zu untersuchenden Erfahrungstatsachen selbst auch Erfahrung werden. Sie muss sich jedem menschlichen Geist mit Notwendigkeit aus der Zusammenstellung gewisser Einzeltatsachen ergeben. So geht Goethe den umgekehrten Weg zu Newton: Er bezieht die Tatsachen mit ein, die Newton ausklammert, weil sie nicht zum Beweis seiner Theorie taugen, verzichtet auf alle Theoriebildung und sucht danach, ob sich ihm der die einzelnen Tatsachen verbindende Zusammenhang als Erfahrungswert zeigt. Und es gelingt.

Dass heute trotzdem behauptet wird, Goethe habe sich geirrt und die Farben seien im Licht enthalten, liegt zum Teil daran, dass man sich darüber täuscht, in welchem Verhältnis die Idee des Enthaltenseins in Newtons Gedankensystem zu den wirklich beobachteten Vorgängen steht. Zum anderen Teil liegt es aber daran, dass das Ergebnis, das Goethe präsentiert, eben nicht in ein Schulbuch geschrieben werden kann wie Newtons Theorie, weil es eben keine Theorie ist, sondern eine Erfahrungstatsache. Es gibt daher nur einen Weg, sich von der Wahrheit zu überzeugen, dass Licht und Dunkelheit in gleicher Weise am Zustandekommen der Farberscheinungen beteiligt sind: man muss rausgehen und die Versuche selber machen. Newton dagegen kann man auch im Kopf beweisen, weil Newton an der entscheidenden Stelle die Wirklichkeit gar nicht mehr braucht, sondern sich der Denkgewohnheit bedient, wonach ein Ding in dem anderen irgendwie drinnen ist.

Nach der anorganischen Natur wendet sich Goethe der organischen Natur zu. Im Gegensatz zur Schulwissenschaft schleppt er jedoch nicht die Methode, die sich für die Erkenntnis der anorganischen Natur als geeignet erwiesen hat, mit in das neue Gebiet. Eben weil Goethe seinem Prinzip eines radikalen Empirismus stets treu bleibt, sucht er die Erkenntnismethode von dem jeweiligen Erkenntnisgegenstand abzuleiten. Und während sich die Erklärung für ein physikalisches Phänomen durch das Herstellen der äußeren Bedingungen, unter denen dieses Phänomen notwendig auftreten muss, dem Denken erschließt, bleibt der Grund der besonderen Form eines Organismus dem Denken verschlossen, so lange es nur auf die äußeren Bedingungen sieht. Das heißt nicht, dass die äußeren Bedingungen nicht in Betracht kommen. Gerade Goethe beschreibt zum ersten Mal die konkrete Form in Abhängigkeit von den äußeren Bedingungen und greift insofern Darwin vor. Gleichwohl ist es für Goethe doch etwas, was sich unter den klimatischen Bedingungen A in der einen und unter den klimatischen Bedingungen B in der anderen Gestalt zeigt. Und dieses etwas ist nicht eine Einzeltatsache, sondern selber ein Zusammenspiel von Einzeltatsachen.

Unter den verschiedenen äußeren Bedingungen setzen sich die Glieder des Organismus auf verschiedene Weise in Beziehung, und das Ergebnis ist die konkrete Gestalt. Das, was sich da jeweils in Beziehung setzt, ist also in der konkreten Gestalt bereits eine Abwandlung. Goethe bestreitet deswegen nicht, dass die eine Art aus der anderen hervorgeht. Er findet nur, dass man, wie weit man auch in der Zeit zurückgehen mag, stets nur von Abwandlung zu Abwandlung schreiten wird, weil kein Organismus anders da sein kann als eben unter bestimmten äußeren Bedingungen. Dasjenige, was sich unter den einen Bedingungen so, und unter den anderen Bedingungen ganz anders bestimmt, kann dagegen logischerweise selbst niemals äußerlich als konkrete Gestalt vorliegen. Für Goethe stellt sich daher die Frage: wie erfasst der menschliche Geist den Faktor, der zusammen mit den äußeren Bedingungen die konkrete Gestalt eines Organismus ergibt, wenn dieser Faktor selbst eben nur in Form der konkreten Gestalt sinnenfällig werden kann?

Goethe erkennt, dass der menschliche Geist, um den Unterschied etwa zwischen zwei Tiergattungen zu bemerken, die besondere Form beider Gattungen in Beziehung zur Idee des tierischen Organismus als solchen setzen muss. Bei dem einen Tier ist das eine Organ, bei dem anderen Tier das andere Organ stärker ausgebildet – Grundlage für die Bestimmung der jeweiligen Art ist deshalb ein Begriff des Systems des tierischen Organismus. Und zu jenem Begriff kann der Mensch auf keinem anderen Weg kommen als auf dem, dass er angesichts der besonderen Art innerlich ein Bild des prinzipiellen Verhältnisses der einzelnen Organe zueinander schafft, wie es vor der Bestimmung zur besonderen Art vorliegen muss. Der Begriff für das Physikalische ist Gesetz, der Begriff für das Organische Bild. Goethe unterscheidet deshalb die durch die äußeren Bedingungen veränderte Form von dem ihr zu Grunde liegenden Typus.

Ein Bewusstsein von den zwei ganz verschiedenartigen Denktätigkeiten erlangt zu haben, durch die jeder Mensch einerseits die tote Natur und andererseits die lebendige Natur erfassen muss, ist Goethes großer Verdienst. Man verkennt Goethe deshalb vollständig, wenn man ihn etwa wegen seiner Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen einen Wissenschaftler nennt. Was Goethe zu einem Wissenschaftler macht, ist die Tatsache, dass er den Zwischenkieferknochen überhaupt beim Menschen sucht. Er muss ihn auch beim Menschen suchen, weil er nicht annehmen kann, dass der Typus des Organismus beim Menschen aussetzt.

Vom Goetheanismus zur Anthroposophie

Im Alter von 25 Jahren veröffentlicht Rudolf Steiner sein Erstlingswerk „Die Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“. Ein Jahr vor seinem Tod gibt er dieselbe Schrift erneut heraus und schreibt darüber in dem Vorwort zur Neuauflage: „Indem ich sie heute wieder vor mich hinstelle, erscheint sie mir auch als die erkenntnistheoretische Grundlegung und Rechtfertigung von alle dem, was ich später gesagt und veröffentlicht habe.“ Rückblickend erklärt er außerdem, was ihn zu der systematischen Ausarbeitung der Goetheschen Erkenntnisart bewegt habe: „Überall war das Eingeständnis vorhanden, dass der Mensch mit seinem Erkennen an gewisse Grenzen stoße, über die er nicht hinaus in das Gebiet der wahren Wirklichkeit dringen könne. All dem gegenüber stand bei mir die innerlich erlebte und im Erleben erkannte Tatsache, dass der Mensch mit seinem Denken, wenn er dies genügend vertieft, in der Weltwirklichkeit als einer geistigen drinnen lebt.“

Die Antwort Rudolf Steiners auf die Eigenart der Deutschen lautet also nicht: weg vom Denken, sondern: tiefer hinein ins Denken. Unter einer Vertiefung des Denkens versteht Rudolf Steiner aber offenbar dasjenige, was er in seinem Jugendwerk als die Erkenntnisart Goethes herausarbeitet: Der rationelle Empirismus gegenüber der anorganischen, und die rationelle Organik gegenüber der organischen Natur. Bei dieser Erkenntnisart ist der Gedanke nicht das Wesentliche, sondern dient der Seele lediglich als Übung, um den Sinn für die Wirklichkeit zu öffnen. Das Denken muss so stark werden, dass es gegenüber der Wirklichkeit den sich einschleichenden Vorurteilen stand halten kann. Im Falle der anorganischen Natur bedeutet das, nicht aus Bequemlichkeit auf eine theoretische Erklärung, wie sie die Vorstellung des Enthaltenseins von Farbe in Licht ist, auszuweichen, sondern beim bloßen Zusammenstellen der äußeren Bedingungen zu bleiben, bis sich der objektive Gehalt als Erfahrungstatsache ergibt. Gegenüber einem jeden Lebendigen bedeutet es, angesichts dieses Lebendigen innerlich rege zu werden, um die konkrete Bildung aus ihrem Typus hervorgehen zu lassen. Die Ideen, die die Seele auf diese Art gewinnen kann, haben einen anderen Charakter als die Gedanken, die sie im Studierzimmer ausbrütet: sie sind selbst jener objektive Gehalt der äußeren Erfahrung. Die Anthroposophie Rudolf Steiners ist eine Methode für die entsprechende Umwandlung der Seele. Sie will letztendlich dazu anregen, Gedanken nicht um der Gedanken willen zu bilden, sondern für die Entfaltung derjenigen Fähigkeiten, welche die Seele braucht, damit sie sich mit der Offenheit eines Goethe in die Welt stellen kann.

Die Urform des sozialen Organismus

Der wissenschaftlichen Grundhaltung Goethes bleibt Rudolf Steiner auch treu, als er sich noch während des Ersten Weltkrieges verstärkt dem Studium des sozialen Lebens zuwendet. Er beobachtet die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse seiner Zeit – auch im Spiegel der wissenschaftlichen Erklärungsversuche – und erkennt, dass jede Gesellschaft auf dem Zusammenwirken dreier möglicher Arten beruht, wie Menschen zueinander in Beziehung treten können: 1. Menschen stellen im Hinblick auf das Allgemeinmenschliche Gesetze auf. 2. Menschen tauschen im Hinblick auf die verschiedenartigen Bedürfnisse Waren. 3. Menschen bilden sich im Hinblick auf ihre individuellen Erkenntnisziele. Die Einheit einer Gesellschaft kann deshalb niemals an den Anfang, sondern immer nur an das Ende gestellt werden. Sie ist das Ergebnis des Zusammenspiels dieser drei verschiedenartigen Prozesse, so wie die Einheit des menschlichen Organismus das Ergebnis des Zusammenspiels von Nervensystem, Stoffwechselsystem und Kreislaufsystem ist. Die Umkehrung dieser Tatsache, der Versuch, das soziale Leben von einer wie auch immer gedachten Einheitlichkeit abzuleiten, definierte Rudolf Steiner als „Nationalismus“, und in dem so definierten Nationalismus sieht er die Ursache für den modernen Krieg.

Aufgrund der Beobachtung der verschiedenartigen Prozesse spricht Rudolf Steiner von drei Lebensbereichen, in denen sich das menschliche Zusammenleben stets organisiert: Rechtsleben, Wirtschaftsleben und Geistesleben. Mit der bloßen Unterscheidung der drei Lebensbereiche hat Steiner allerdings noch nichts Neues für die Wissenschaft gewonnen. Jeder Mensch kann nämlich Rechtliches, Wirtschaftliches und Kulturell-Geistiges voneinander unterscheiden. Neu ist nur, dass Steiner nicht bezweifelt, dass die Menschen recht damit haben. Denn obschon jeder Mensch instinktiv von drei Lebensbereichen spricht, negiert er diese Differenzierung, sobald er sich in der höheren Sphäre der Wissenschaftlichkeit wähnt. Die Wissenschaft sagt nämlich, je nachdem, ob sie z.B. Rechtswissenschaft ist oder Wirtschaftswissenschaft: „Die Wirtschaftsfrage ist in Wahrheit bloß eine Rechtsfrage“ oder „Die Rechtsfrage ist in Wahrheit bloß eine Wirtschaftsfrage“. Man begreift also zunächst schon, dass es da drei gibt, oder man begreift wenigstens zwei, aber dann will man diese Differenzierung ungeschehen machen und das eine auf das andere zurückführen.

Rudolf Steiner denkt anders. Wer vor einer Schule steht, kann sich sagen: diese Mauern haben Menschen erbaut, sie haben dabei gegessen, was von anderen Menschen produziert wurde, und sie haben Maschinen benutzt, die in entlegenen Ländern gebaut wurden. Damit weist mich dieses Schulgebäude auf die Weltwirtschaft hin, aus der es hervorgegangen ist. Was jedoch zwischen Lehrer und Schüler vorgeht, kann ich aus diesen Prozessen nicht erklären. Sollte der Lehrer den Schüler schlagen oder in anderer Weise gegen geltendes Recht verstoßen, dann greift das Recht in die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ein, dann spricht in einer Demokratie das ganze Volk mit. Der Vorgang des Lehrens und Lernens lässt sich von einem derartigen Vorgang aber wiederum nicht ableiten. Allein dasjenige, was zwischen Lehrer und Schüler vorgeht, sofern es kein Wirtschaftsprozess und kein Rechtsprozess ist, macht aber die Schule zu einer Einrichtung des Kulturlebens und lässt mich angesichts des Schulgebäudes überhaupt von einer „Schule“ sprechen.

Auf dieselbe Art betrachtet Steiner auch die Einrichtungen des Rechtslebens und die Einrichtungen des Wirtschaftslebens. Was etwa eine Bank als solche kennzeichnet, ist ihr innerer Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben. Deshalb ist es auch unmöglich, das Bankwesen mit der Demokratie zu fassen, was ja als Forderung derzeit sehr populär ist, denn sollte man eine Bank tatsächlich zu einer Einrichtung des demokratischen Staates machen, dann würde sich das Bankwesen zwangsläufig außerhalb dieser Einrichtung organisieren. Das Wirtschaftsleben entzieht sich eben aufgrund seiner Verschiedenheit von allem Rechtlichen prinzipiell der Rechtsverwaltung.

Rudolf Steiner rechnet also jede Einrichtung entsprechend ihrer Funktion für das Ganze einem der drei Lebensbereiche zu. Die drei Funktionsmöglichkeiten sind selbst das Erste, es hat keinen Sinn, gedanklich hinter diese zurückzugehen, oder die eine aus der anderen zu erklären. Alle drei Funktionsbereiche bewirken zusammen die Realität des gesellschaftlichen Lebens. Der Geist, der sich in der Kultur bildet, ergreift den Herstellungsprozess der Waren, und ist seinerseits umgekehrt davon abhängig, zu konsumieren, was ihm die Wirtschaft verschaffen kann. Deshalb wird aber der Umfang des Kulturlebens wiederum dadurch begrenzt, dass Menschen auf rechtlichem Gebiet die Arbeitszeit festsetzen, die für die Warenproduktion aufgewendet werden darf. In solcher Weise stehen die drei Bereiche des sozialen Lebens in Wechselwirkung miteinander.

Rudolf Steiner verwendete für das Ganze einer Gesellschaft den Begriff „Organismus“, weil analog zu dem natürlichen Organismus auch im Zusammenleben der einzelne Lebensbereich nicht als Wirkung des anderen Lebensbereiches zu erklären ist, sondern nur als Glied eines Ganzen verstanden werden kann. Der dreigliedrige soziale Organismus ist daher der Typus des sozialen Lebens.

Typus, Ideal und Realität

Mit dem Typus des sozialen Organismus hat Rudolf Steiner das Urbild dessen beschrieben, was jeder Menschengemeinschaft funktional zu Grunde liegt, und was sich dann unter dem Einfluss äußerer Umstände in der konkreten Form der jeweiligen Gesellschaft zeigt. Die eigentliche Leistung Rudolf Steiners besteht jedoch darin, auch die konkrete Gestalt der modernen Gesellschaft unter Berücksichtigung der äußeren Umstände aus ihrem Typus abgeleitet zu haben. Diese Ableitung ist der Inhalt seines sozialwissenschaftlichen Hauptwerkes: Die Kernpunkte der sozialen Frage.

Eine Schwierigkeit könnte hier dadurch entstehen, dass man als „äußere Umstände“ nur Sinnenfälliges gelten lassen will. Gemeint ist jedoch nicht das, was ein Mensch als „äußere Welt“ bezeichnen mag, sondern das, was für den Typus des sozialen Organismus äußerlich ist, insofern es zu ihm hinzutritt und in der einen Zeitepoche die Gesellschaftsform A, in der anderen Epoche die Gesellschaftsform A' hervorbringt. Es kommen mehrere in diesem Sinn „äußere“ Umstände in Betracht, eine von ihnen soll hier herausgegriffen werden: die seelisch-geistige Entwicklung der Menschheit.

Auch der theokratischen Gesellschaft des alten Ägypten liegt der dreigliedrige soziale Organismus zu Grunde. Nur empfinden sich die Menschen nicht als geistige Individualitäten, sondern als Unterglieder einer geistigen Wesenheit. Aufgrund der Bewusstseinsverfassung der Menschen bleibt die Verwaltung der drei Lebensbereiche in der Hand einer Priesterkaste, weshalb Wirtschaft, Recht und Kultur auch nicht zu einer differenzierten Ausgestaltung drängen. Die geistige Führung bestimmt, wie der Einzelne sich bilden soll, was er zu arbeiten hat und was ihm zusteht. Heute wollen die Menschen nicht länger die Staatsreligion übernehmen müssen, sie wollen nicht in einen Beruf hineingezwungen werden, sie wollen ihre individuellen Bedürfnisse befriedigt sehen, kurz: sie wollen Freiheit. Die äußere Bedingung, die dem dreigliedrigen sozialen Organismus heute seine Gestalt gibt, ist also der Individualismus. Der menschliche Geist tritt als individuelle Errungenschaft in Erscheinung und ist nicht länger an irgendeine Blutlinie gebunden. Insofern ist der Individualismus keine Weltanschauung, sondern eine entwicklungsgeschichtliche Tatsache. Gegenüber der Form des sozialen Organismus, die dieser unter dem Einfluss einer vergangenen Bewusstseinsverfassung erhalten hat, tritt diese Tatsache jedoch als Forderung auf: Durch den Einschlag des Individualismus verlieren die alten Verwaltungsorgane ihre Funktion, und es wird nötig, neue Verwaltungsorgane für Wirtschaft, Recht und Kultur zu finden.

Nun stehen die Menschen aber nicht nur unter dem Einfluss der neuen Zeit, sondern stecken gleichzeitig mit ihrer Seele in den Gewohnheiten fest, die ihnen von vergangenen Kulturepochen anerzogen wurden. Insbesondere nach dem theokratischen Element, dem Eingebettet-Sein in eine höhere Ordnung, hat der Mensch eine tiefe Sehnsucht und konserviert daher die Institutionen, die sich unter dem Einfluss der ägyptischen Seelenverfassung gebildet haben – mit denen sich das soziale Leben aber nicht mehr verwalten lässt, weil in der Realität doch überall der Individualismus durchschlagen muss.

Rudolf Steiner kommt also zu einem doppelten Ergebnis: Der dreigliedrige soziale Organismus strebt unter dem Einfluss des Individualismus der Form zu, die er in Die Kernpunkte der sozialen Frage entwickelt. Gegenüber der sozialen Realität ist aber diese Form Ideal, weil gerade der Individualismus verlangt, dass der Mensch die ihm gemäße Form bewusst hervorbringen muss. Dieser hängt aber zugleich dem heimlichen Wunsch einer Führung durch höhere Mächte nach und konserviert die überkommene Theokratie im Nationalstaat und in der Eigentumsmacht. Dadurch ist die soziale Realität das Chaos.

Die Idee der sozialen Dreigliederung

Der Individualismus führt zu einer Ausdifferenzierung der drei Glieder des sozialen Organismus: Die Menschen verlangen nach Mitbestimmung auf rechtlichem Gebiet. Gleichzeitig fordern sie, dass das Rechtliche nicht übergreife auf das kulturelle Gebiet, damit jeder Mensch, ganz gleich wessen Staates Bürger er sein mag, seine Kultur selbst bestimmen kann. Der Versuch, die Staatsgewalt zum Anwalt eines Kulturinteresses zu machen, wie er sich zum Beispiel in der Zertifizierung von Bildung oder in der Zulassung von Therapieformen äußert, steht immer offensichtlicher im Widerspruch zum Freiheitsstreben vieler Menschen. So löst sich das Kulturleben, trotz aller Widerstände, allmählich heraus aus dem Nationalstaat. Auf der anderen Seite hat sich das Wirtschaftsleben unter dem Einfluss des Individualismus schon längst emanzipiert. Die Menschen entwickeln speziellere Bedürfnisse, bestimmte Charaktere entfalten ein besonderes Gespür für den Handel, und findige Geister zerlegen die Warenproduktion in immer weitere Teilprozesse, sodass einerseits die Produktpalette wächst, während andererseits selbst das einfachste Produkt nur noch durch direkte oder indirekte Mitarbeit der ganzen Welt hergestellt werden kann. Der Wirtschaftsraum kennt schon längst keine Staatsgrenzen mehr.

Der Ort der Wirtschaft ist die Welt, durch Arbeit und Konsum werden Menschen in dieser Welt miteinander verbunden. Die Verbindungslinien, die dabei entstehen, fallen nicht zusammen mit dem Geltungsraum einer Rechtsordnung, sondern bilden Geflechte in völliger Unabhängigkeit von staatlichen Grenzziehungen. Es ist den Menschen bislang allerdings nicht gelungen, die Kontrolle über dieses Gebilde zu erlangen, weil sie gegenwärtig alles vernünftige Handeln auf sozialem Gebiet allein in der rechtliche Sphäre suchen. Sie kennen nur den Bürger, das Wirtschaftssubjekt ist ihnen noch unbekannt. So pfuschen sie mit dem Staat in das chaotisch wuchernde Wirtschaftsgebilde hinein, um dem eigenen Staatsgebiet einen Vorteil zu verschaffen.

Will der Mensch nun aber nicht nur als Leistungserbringer, sondern auch als Bürger eines Staates etwas gewinnen in der Weltwirtschaft, kann er das auf keinem anderen Weg als durch Manipulation des Leistungstausches, weil das Attribut „deutscher“ oder „chinesischer“ Staatsbürger für diesen Leistungstausch selber vollkommen irrelevant ist. Eine Staatsangehörigkeit kann einem Menschen nur dann einen wirtschaftlichen Vorteil verschaffen, wenn er als Angehöriger dieses Staates Rechte in dem Leistungstausch geltend machen kann, die der Handelspartner nicht geltend machen darf. Der staatliche Eingriff in die Wirtschaft bringt daher nicht nur Ungerechtigkeit in den Leistungstausch, sondern wirkt zurück auf den Staat: Der Bewahrer der Menschenrechte verwandelt sich in einen Kämpfer für nationale Vorrechte. Staatsübergreifende Gremien wie das Europaparlament, die UNO, die Weltbank, die WTO sind die Schauplätze des Schacherns um Vorrechte für das eigene Staatsgebiet, der Hunger in Afrika und Asien sowie die Kriege in Irak und Afghanistan sind die grausamen Konsequenzen.

Hinter dem staatlichen Kampf für wirtschaftliche Vorteile steht in der Regel wiederum die Mission einer Volkskultur. Im Laufe der neueren Geschichte verbinden sich zunächst gewisse Kulturinteressen mit den Staaten, diese Staaten verfolgen dann wiederum wirtschaftliche Eigeninteressen, sodass sich dann, während faktisch die Wirtschaft zu einer weltweiten Einheit strebt, Volkswirtschaften gegenüber stehen, die in die Entwicklung der Weltwirtschaft manipulativ einzugreifen suchen, um dem eigenen Staat bzw. der eigenen Volkskultur einen wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen, und so in eine Konkurrenz hineinkommen. Diese Verquickung von Kultur, Staat und Wirtschaft versucht Rudolf Steiner aufzubrechen. In dem Widerspruch zwischen dem entwicklungsgeschichtlich bedingten Auseinanderstreben von Wirtschaft, Kultur und Recht auf der einen Seite und dem Versuch ihrer Gleichsetzung im überkommenen Nationalstaat auf der anderen Seite sah Rudolf Steiner die Ursache für Krieg und Hunger. Die soziale Frage war für ihn deshalb gleichbedeutend mit der Frage danach, wie das nach Freiheit strebende Geistesleben einerseits und das über die Staatsgrenzen hinauswachsende Wirtschaftsleben andererseits sich jeweils eine ihnen selbst angemessene Organisationsform geben könnte, wo doch der Staatsapparat zu eng für sie geworden ist. Das ist seine Idee der sozialen Dreigliederung.

Die Dreigliederungsbewegung von 1919

Deutschland wird als Chef-Ideologe nicht auf der europäischen Landkarte geduldet werden. Wenn Deutschland eine Zukunft haben soll, dann müssen genügend viele Deutsche ihr Denken dazu gebrauchen, dem sozialen Wollen der Menschheit in die Wirklichkeit zu helfen, anstatt dieses mit einer Theorie zu vergewaltigen. Dieser Tatsache war sich Rudolf Steiner bewusst, als er unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg die Initiative ergriff, um Wirtschaft und Kultur der Rechtsverwaltung zu entreißen. Der „Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus“ sollte bei politischen Entscheidungsträgern Verständnis für die Notwendigkeit finden, Wirtschaft und Kultur in die Selbstverwaltung zu entlassen, und fand namhafte Unterstützer, wie z.B. Hermann Hesse, Paul Natorp oder Wilhelm Lehmbruck.

Gleichzeitig initiierte Rudolf Steiner auch die Bildung der entsprechenden Selbstverwaltungsorgane. Er rief die Arbeiter öffentlich dazu auf, die Leitung der Betriebe zu übernehmen, und sich in überbetrieblichen Betriebsräten zusammenzuschließen. Damit sollte zunächst die Behinderung der Entwicklung einer solidarischen Wirtschaft durch das Eigentumsinteresse beiseite geräumt werden. Die Betriebsräte sollten sich wiederum mit Konsumenten- und Händlervertretern zusammentun, wofür Steiner den Unternehmensverbund „Der kommende Tag“ gründete. Der Verbund umfasste Betriebe so unterschiedlicher Branchen wie Landwirtschaft, Maschinenfabrikation und Gesundheitswesen. So gedachte Rudolf Steiner ein Beispiel dafür zu geben, wie Menschen Produktion und Konsum fernab aller Rechtsbelange selbst verwalten und dabei auch gegensätzliche Interessen ausgleichen können. Das entsprechende wirtschaftliche Selbstverwaltungsorgan bezeichnete Rudolf Steiner als Assoziation (Der genaue Aufbau einer Assoziation: siehe hier. Diese ersten Versuche zur Bildung eines Verwaltungsorgans, das sich an rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten orientiert, sind am Widerstand der Gewerkschaftsführer, die die alten Verhältnisse brauchten, um selbst gebraucht zu werden, gescheitert – und seither nicht wieder aufgegriffen worden.

Zusammen mit dem Unternehmer und Dreigliederer Emil Molt gründete Steiner noch im selben Jahr die erste freie Waldorfschule. Auch sie war als ein Beispiel gedacht, diesmal dafür, wie man das Kulturleben dem Staat entreißen könne. Es ging Steiner also nicht allein um die Waldorfpädagogik, sondern um eine weltweite Bewegung für Bildungsfreiheit, der sich alle Menschen anschließen sollten, ganz gleich, welche Pädagogik sie bevorzugten: „Wenn diejenigen, die schwärmen für die Ideen der Waldorfschule, nicht einmal soviel Verständnis entwickeln, dass ja dazu gehört, Propaganda zu machen gegen die Abhängigkeit der Schule vom Staat, mit allen Kräften dafür einzutreten, dass der Staat diese Schule loslöst, wenn Sie nicht auch den Mut dazu bekommen, die Loslösung der Schule vom Staat anzustreben, dann ist die ganze Waldorfschul-Bewegung für die Katz, denn sie hat nur einen Sinn, wenn sie hineinwächst in ein freies Geistesleben. Zu alledem brauchen wir das, was ich nennen möchte ein internationales Streben für jegliches Schulwesen, aber ein internationales Streben, das nicht etwa bloß jetzt in der Welt herumgeht und überall Grundsätze verbreitet, wie Schulen eingerichtet werden sollen – das wird schon geschehen, wenn vor allen Dingen die Gelder beschafft werden für solche Schulen. Was wir brauchen, ist ein Weltschulverein in allen Ländern der Zivilisation, dass so schnell wie möglich die größte Summe von Mitteln herbeigeschafft werde. Dann wird es möglich sein, auf Grundlage dieser Mittel dasjenige zu schaffen, was der Anfang ist eines freien Geisteslebens.“[7]

Unter Freiheit des Schulwesens verstand Rudolf Steiner einerseits den völligen Verzicht auf staatliche Anerkennung der Lehrer. Dem Staat sollte nicht zugestanden werden, entscheiden zu können, wer ein guter Lehrer ist und wer nicht. Das sollten Korporationen des Geisteslebens unter sich ausmachen – selbstverständlich auch des nicht-anthroposophischen Geisteslebens. Außerdem sollten die Lehrer vollständig auf die finanzielle Unterstützung des Staates verzichten, und sich von Schenkungen derjenigen Menschen abhängig machen, die eine Berechtigung in der jeweiligen Schule sahen. Denn Freiheit bedeutete für Steiner auch, dass man nicht andere Menschen zwingen darf, ein Geistesleben zu finanzieren, das sie nicht für gut befinden. Das ist aber der Fall, wenn sich Kultur über eine Steuer finanziert. Der Umweg über die Demokratie führt stets dazu, dass Minderheiten zugunsten der mehrheitsfähigen Kulturphänomene untergehen.

Rudolf Steiner sah in diesen Versuchen nichts Geringeres als seinen Beitrag zu dem seiner Ansicht nach einzig möglichen Weg, einen internationalen Frieden zu sichern: „Die innere Gliederung des gesunden sozialen Organismus macht auch die internationalen Beziehungen dreigliedrig. Jedes der drei Gebiete wird sein selbständiges Verhältnis zu den entsprechenden Gebieten der andern sozialen Organismen haben. Wirtschaftliche Beziehungen des einen Landesgebietes werden zu ebensolchen eines andern entstehen, ohne dass die Beziehungen der Rechtsstaaten darauf einen unmittelbaren Einfluss haben. Und umgekehrt, die Verhältnisse der Rechtsstaaten werden sich innerhalb gewisser Grenzen in völliger Unabhängigkeit von den wirtschaftlichen Beziehungen ausbilden. Durch diese Unabhängigkeit im Entstehen der Beziehungen werden diese in Konfliktfällen ausgleichend aufeinander wirken können. Interessenzusammenhänge der einzelnen sozialen Organismen werden sich ergeben, welche die Landesgrenzen als unbeträchtlich für das Zusammenleben der Menschen erscheinen lassen werden. – Die geistigen Organisationen der einzelnen Landesgebiete werden zueinander in Beziehungen treten können, die nur aus dem gemeinsamen Geistesleben der Menschheit selbst sich ergeben. Das vom Staate unabhängige, auf sich gestellte Geistesleben wird Verhältnisse ausbilden, die dann unmöglich sind, wenn die Anerkennung der geistigen Leistungen nicht von der Verwaltung eines geistigen Organismus, sondern vom Rechtsstaate abhängt. In dieser Beziehung herrscht auch kein Unterschied zwischen den Leistungen der ganz offenbar internationalen Wissenschaft und denjenigen anderer geistiger Gebiete. Ein geistiges Gebiet stellt ja auch die einem Volke eigene Sprache dar und alles, was sich in unmittelbarem Zusammenhange mit der Sprache ergibt. Das Volksbewusstsein selbst gehört in dieses Gebiet. Die Menschen eines Sprachgebietes kommen mit denen eines andern nicht in unnatürliche Konflikte, wenn sie sich nicht zur Geltendmachung ihrer Volkskultur der staatlichen Organisation oder der wirtschaftlichen Gewalt bedienen wollen. Hat eine Volkskultur gegenüber einer andern eine größere Ausbreitungsfähigkeit und geistige Fruchtbarkeit, so wird die Ausbreitung eine gerechtfertigte sein, und sie wird sich friedlich vollziehen, wenn sie nur durch die Einrichtungen zustande kommt, die von den geistigen Organismen abhängig sind.“[8]

Die Waldorfschule in der Welt

Die Euro-Krise ist durchaus eine Chance. Bei vielen dämmert es, dass das Wirtschaftsleben durch die Konkurrenz der Nationen eine Eigendynamik bekommt, die ökonomisch gar nicht zu begründen ist. Denn abgesehen von ein paar wenigen Aktionären, die das Missverhältnis zu nutzen wissen, kann grundsätzlich niemand etwas dadurch gewinnen, dass ein Land das andere in der Produktivität übertrumpft. Wenn man die Produktion an einem Ort konzentriert, um Handel mit der dann „schwächeren“ Peripherie zu treiben, haben sowohl die „Stärkeren“, als auch die „Schwächeren“ verloren. Solange man rein ökonomisch denkt, können beide Handelspartner nur ein Interesse an einem ausgeglichenen Verhältnis von Leistung und Gegenleistung haben. Deshalb lautet die Frage, die gegenwärtig in Europa diskutiert werden will: wie kann auf wirtschaftlichem Gebiet die Kooperation an die Stelle der Konkurrenz treten?

Und da hinein trampeln jetzt die Deutschen mit ihrem phantastischen Nationalismus und mit einem Korb voll phantastischer Vorschläge für die großen Nationen Europas. Diese müssen bei der Lohndrückerei eben mitziehen, um konkurrenzfähig zu bleiben! Und: man werde den „Schwachen“ das Stimmrecht entziehen!

Die freie Waldorfschule ist der Versuch, derartiger Phantasterei vorzubeugen und die Kinder zu praktischen Menschen zu erziehen. Dieser Absicht sind gerade diejenigen Unterrichtspraktiken geschuldet, die theoretische Köpfe für unpraktisch halten müssen. Wenn die Waldorfschüler etwa die Buchstabenformen aus Bildern heraus entwickeln, dann erscheint das jenen Theoretikern bestenfalls als eine nette Verpackung für das zu vermittelnde Wissen. Das ist aber gar nicht die Absicht der Waldorflehrer, in dieser oberflächlichen Weise „kindgerecht“ zu sein. Der Hintergrund ist ein anderer: Die Verbindung zwischen einem Laut, den das Kind mit dem Mund formt, und dem Zeichen, das es mit den Händen macht, ist ein Denkakt. Wenn sich der Lehrer nun bloß hinstellt und sagt: „Das ist A, sag einmal A“, dann verbindet das Kind zwei Erscheinungen, weil es ein anderer Mensch verlangt, zwischen denen für das Kind selbst aber kein Zusammenhang besteht. Wenn das Kind dagegen für den Laut ein Zeichen aus einem Bild herausarbeitet, erlebt es: „Ich selbst verbinde Laut und Zeichen“. Der Denkakt wird bewusst. Auf diese Art versucht die Waldorfschule, dem blinden Autoritätsglauben und der Ideologiebildung schon auf frühester Stufe vorzubeugen. Die Kinder sollen sich niemals einer Idee unterwerfen, sondern sie sollen lernen, mit ihrem Denken die Wirklichkeit bewusst zu durchdringen. Und dieses Motiv zieht sich durch sämtliche Lehrplanempfehlungen Rudolf Steiners.

Wenn dieser Impuls für ein praktisches Denken von der deutschen Kulturwelt aufgenommen worden wäre, könnte die Antwort an die französische Wirtschaftsministerin lauten: „Wir Arbeiter und Konsumenten in Deutschland haben ebenfalls kein Interesse daran, die französische Wirtschaft kaputt zu machen, denn wir leiden ja nicht weniger darunter als die Arbeiter und Konsumenten in Frankreich. Wir haben erkannt, dass die Realität des Wirtschaftslebens das staatlich verordnete Konkurrenzprinzip nicht verträgt. Wir wollen deshalb die französische Wirtschaftsministerin beim Wort nehmen und uns mit Vertretern der Arbeiter und Konsumenten in Frankreich zu einem übernationalen Rat zusammentun, um die Konkurrenz durch Kooperation zu ersetzen!“

Diese Stimme muss aus Deutschland kommen, wenn der Friede von Dauer sein soll, und sie wird nur kommen, wenn genügend Menschen in Deutschland einen Sinn für die praktischen Fragen ihrer Mitmenschen entwickeln. Die rechtzeitige Verwandlung des theoretischen Denkens in ein praktisches Denken hängt allerdings wiederum davon ab, ob die deutsche Kulturwelt in den kommenden Jahren mit der Entfaltung eines freien Bildungswesens rechnen darf. Niemals kann sich nämlich ein praktisches Denken entwickeln, wenn die Lernziele von einer Behörde festgelegt werden, und nicht die Wahrheitsliebe, sondern der Wunsch auf ein Vorwärtskommen den Lernenden zu seinem Urteil drängt. Man wird sich auch hier trauen müssen, praktisch zu denken. Eine Schule, die dem Staat nicht erlauben will, Lernziele und Ausbildung der Lehrer zu bestimmen, erfüllt natürlich nicht die Bedingungen der staatlichen Schulpflicht. Deshalb hat für alle Menschen, die eine Berechtigung in der Idee einer freien Waldorfschule sehen, derzeit eine Aufgabe Priorität: das öffentliche Einstehen für die Abschaffung der Schulpflicht. Wenn in diese Forderung wenigstens so viel Kraft gegeben wird wie in den Traum einer Vollfinanzierung durch den Staat, dann hat die Bewegung für ein freies Geistesleben eine reelle Chance. Dann wird man aber auch sehen, dass gerade die Forderung nach mehr Steuergeldern die aller unpraktischste ist.

Ein freies Geistesleben kann nur ein solches Geistesleben sein, das seine Existenzmittel aus der bewussten Zuwendung der Menschen erhält, die es anerkennen. An Stelle der Zwangsschenkung in Form der Steuer muss eine echte, freiwillige Schenkung treten. Ernährt sich eine Bildungseinrichtung nämlich von Geld, das den Menschen per Steuer abgenommen wird, verliert dieses Geistesleben seine Anbindung an den bewussten Willen der Menschen. Diese Anbindung ist aber das „Qualitätsmanagement“, welches das Geistesleben so dringend braucht. Nicht den Menschen, die es ernähren, ist ein steuerfinanziertes Geistesleben verpflichtet, sondern den Mächten, die diese Steuern eintreiben. Und die machen die Kinder zu theoretischen Köpfen.

Stärker werden die Waldorfschulen nur, wenn sie immer weniger auf den Steuerzwang und immer mehr auf das Verständnis der Menschen bauen. Deswegen soll hier natürlich nicht die Abschaffung der bestehenden Waldorfschulen gefordert werden. Nur könnte man den ursprünglichen Gedanken einer freien Finanzierung wieder aufgreifen. Freie Finanzierung heißt: Nicht die Eltern sollen für ihre Kinder bezahlen, sondern alle die Menschen, die eine Berechtigung in der Schule sehen. Das wird dann gerade keine Elite-Schule. Denn wenn man es ernst meint mit dem freien Geistesleben, wenn man sagt: ich entscheide selbst, welchen Geist ich nähren will, dann steht dieser Entschluss in keiner Beziehung zu der Frage, ob gerade das eigene Kind von jenem Geist profitiert. Das wird nicht von heute auf morgen möglich sein, zumal die Menschen über die Steuern die staatlichen Schulen mitfinanzieren müssen. Aber diesen Gedanken weiter zu tragen und wenigstens für einzelne Schulen zu verwirklichen, wird sich als viel praktischer erweisen, als weitere hundert Jahre vor der verschlossenen Türe des Staates auf Almosen zu warten, weil die Menschen, die dann die Schule bewusst tragen, in einer ganz anderen Weise dafür eintreten können, dass der Staat mit seinen Think Tanks aus der Schule hinausgeworfen wird. Und dann darf der Heranwachsende eines Tages auch in der Physik-Prüfung einer Waldorfschule schreiben, was er für wahr hält in Bezug auf die Naturphänomene – das aber ist, wie hier gezeigt, der erste Schritt zur Errichtung einer menschenwürdigen Gesellschaft und zur Sicherung eines dauerhaften Friedens in Europa.

Johannes Mosmann, ehemaliger Waldorfschüler

Erstmals erschienen in Kursiv, Ausgabe Sommer 2010.

Anmerkungen

  • [1] Aus: Breite EU-Front gegen Merkel, Handelsblatt, 16.06.10 28
  • [2] Vergl. Stephan Eisenhut: Arbeitsplätze auf Kredit, Die Drei, Ausgabe 6/2010, bestellbar unter Die Drei
  • [3] Aus: EU-Länder kritisieren deutsche Exportstärke, Focus Online, 15.03.2010
  • [4] Aus einer Rede zur Eröffnung der deutsch-saudi-arabischen Wirtschaftskonferenz am 26.05.2010. Siehe auch: Merkel weist Kritik an deutscher Exportmacht zurück, Financial Times, 15.03.2010 30
  • [5] Über die Theorie des Neoliberalismus: Johannes Mosmann, Wie kann die Menschenarbeit ihre Bestimmung finden?, Die Drei 2010/6, bestellbar unter Die Drei
  • [6] Vergl. Dieter Plehwe u. Bernhard Walpen: Buena Vista Neoliberal? In: Klaus-Gerd Giesen: Ideologien in der Weltpolitik, Wiesbaden 2004, S. 49-88 31
  • [7] Rudolf Steiner: GA 337b, S. 249ff 42
  • [8] Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage, GA 23, S. 112ff 43

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