Hartz IV und seine Alternativen

01.10.2004

Als Mittel gegen die Arbeitslosigkeit soll in Deutschland ab 2005 die staatliche Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau gesenkt und von Auflagen abhängig gemacht werden. So müssen Arbeitslose z.B. ihr Vermögen möglichst aufbrauchen, bevor ihnen geholfen wird. Mit den geplanten Einsparungen sollen Verbesserungen der Sozialhilfe finanziert werden. Das sind - stark vereinfacht - die Grundzüge von Hartz IV.

Ist diese Reform wirklich ohne Alternativen? Diese Frage stellt sich nicht erst seit den Massenprotesten der letzten Wochen. So wie Politik bis heute gedacht wird, gibt es nämlich keine Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ohne massive Nebenwirkungen. Das sieht man daran, wie Kommunisten und Nationalsozialisten das Problem der Arbeitslosigkeit "gelöst" hatten. Die Arbeitslosigkeit wäre da wohl das kleinere Übel gewesen. Ähnlich ist es auch mit Hartz IV. Sollte die Reform wirklich greifen und zur Senkung der Arbeitslosigkeit führen, werden sich viele Menschen nach der Zeit zurücksehnen, wo ihr Arbeitsplatz zwar gefährdet war, sie aber von ihrem Lohn einigermassen leben konnten.

Hartz und seine Arbeitsmarkt-Experte

Aber wieso versprechen sich - abgesehen von den Ex-Kommunisten und Rechtsextremen - alle Parteien von Hartz IV eine Senkung der Arbeitslosenquote? Es gibt doch kaum offene Stellen. Die Aussicht, als Arbeitsloser noch schneller als bisher zu verarmen, wird wohl nichts daran ändern, daß es einfach zu wenig Arbeitsplätze gibt. Sollte man meinen. Viktor Steiner, Arbeitsmarkt-Experte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, also jemand, der auf der Höhe der Wissenschaft steht, hält es aber für einen Irrglauben und verteidigt Hartz IV: "Jobs gibt es, sie können nur aufgrund ungünstiger Bezahlung und ungünstiger Arbeitsbedingungen nicht besetzt werden. Außerdem könnte es noch mehr von diesen Jobs geben, falls die Löhne sinken." Seine Prognose: 200.000 neue Arbeitsplätze mit Löhnen in der Größenordnung von 5 Euro die Stunde. Wie weit die Löhne bei den bisherigen Arbeitsplätzen in Mitleidenschaft gezogen werden, vermag Viktor Steiner nicht zu sagen und spricht von einem "gewissen Verdrängungseffekt". Fest steht aber: Je größer der Verdrängungseffekt, je mehr Arbeitsplätze, weil sich die Arbeitgeber mehr Arbeitnehmer leisten können. Viktor Steiner ist nicht umsonst Arbeitsmarkt-Experte. Selbst auf dem Biomarkt werden Zucchinis verscherbelt, wenn es gegen den Herbst hin plötzlich zu viel davon gibt. Auch Arbeitnehmer müssen in unseren schweren Zeiten mit ihrem Stundenlohn herunter, wenn sie gekauft werden wollen. Sonst vergammeln sie in den Vitrinen der Marktwirtschaft.

In dieser Art der Wissenschaft steckt so viel Menschenverachtung, daß man sich fragt, wieso die Proteste gegen Hartz IV nicht noch stärker ausfallen. Dies liegt wohl an dieser allgemeinen Resignation, die bis in die Montagsdemonstrationen hinein zu spüren ist. Obwohl Initiatoren wie attac und die lokalen Sozialforen klar gemacht haben, daß sie nicht zurück zum alten Sozialstaat wollen, fehlt es ihnen - genauso wie den Arbeitsmarkt-Experten - an einer umfassenden Strategie gegen die Arbeitslosigkeit. Und dies gilt leider auch von manchen anthroposophischen Autoren, die versuchen Alternativen zum Arbeitsmarkt und zur damit einhergehenden Arbeitslosigkeit aufzuzeigen.

Grundeinkommen statt Arbeitsmarkt?

Mit seinem Ansatz einer sozialen Dreigliederung geht Rudolf Steiner davon aus, daß nur Leistungen auf den Markt gehören. Nicht nur das Kapital und der Grund und Boden, sondern auch die Arbeit müssen demnach aus dem Kreislauf des Wirtschaftslebens herausgenommen und nach den Prinzipien des Geisteslebens bzw. Rechtslebens gehandhabt werden. Das heißt erst einmal, daß es keinen Arbeitsmarkt mehr geben kann. Es wird vielmehr das Arbeitsrecht so ausgebaut, daß nicht mehr der auf dem Markt erzielte Stundenlohn darüber entscheidet, wie viele Stunden gearbeitet werden muß, sondern genau das Gegenteil. Es soll demokratisch festgelegt werden, welche Stundenzahl bei den jeweiligen Berufen zumutbar ist. Der Stundenlohn muß dann entsprechend so gemessen werden, daß jeder, auch der Ungeschickteste, davon leben kann. Erst wenn dies gewährleistet ist, ist es möglich, nicht mehr für sich, sondern für die anderen zu arbeiten. Die Tatsache, daß alle an einer solchen Arbeitsteilung gewinnen, bezeichnet Rudolf Steiner 1905 als soziales Hauptgesetz und ab 1918 als die Brüderlichkeit als Prinzip des Wirtschaftslebens. Dem demokratischen Staat steht es dagegen zu, Kindern, Eltern, Altgewordenen und Kranken auch dann ein Einkommen bzw. Teileinkommen zu sichern, wenn sie gar nicht - oder nur beschränkt - für andere arbeiten. Hier gilt nicht das Prinzip der Brüderlichkeit, sondern der Gerechtigkeit.

Das ist noch lange nicht alles, was Rudolf Steiner zum Thema Arbeitsmarkt beizutragen hat. Dies reicht aber bereits um klarzustellen, daß es bei einer sozialen Dreigliederung nicht darum gehen kann, einfach allen ein bedingungsloses Grundeinkommen vom Staat ausbezahlen zu lassen. Dies wäre ein Fehleinschätzung des Staates und seiner Aufgaben. Die Idee eines solchen Grundeinkommens ist leider unter Dreigliederungsinteressierten weit verbreitet. So zuletzt in Das Goetheanum 35/2004, Seite 9, wo es als Alternative zu Hartz IV angesehen wird.

Was der Staat wirklich gut kann, ist eine Kürzung der Arbeitszeit zu beschliessen und - zum Entsetzen unserer Arbeitsmarkt-Ideologen - mit den Vertretern der Wirtschaft über Mindeslöhne zu verhandeln. Zu einer Überwindung der Arbeitslosigkeit würde es aber erst beitragen, wenn der Staat parallel dazu dafür sorgt, daß die Wirtschaft kein bedingungsloses Einkommen mehr auszahlen kann. Daß es heute, wie von Hartz richtig gesehen, nur noch neue Jobs geben kann, wenn der Lohnniveau sinkt, liegt nämlich daran, daß auf der anderen Seite die Einnahmen aus dem Besitz von Unternehmen bzw. Aktien und Zinseszins-Geschäften unkontrolliert weiter steigen. Diese Einkommen koppeln sich von der eigenen Leistung ab. Um den Anspruch der Geldgeber zu bedienen, werden Mitarbeiter auch dann massenhaft entlassen, wenn die Unternehmen bereits Gewinne machen. Statt 5 Prozent sollen es 10 oder besser 15 Prozent werden und das natürlich unbefristet. Wer es nicht ganz so eilig hat, setzt lieber auf das sichere exponentielle Wachstum des Zinseszinses. Auch diejenigen, die damit nur ihre Rente , das heißt ihr zukünftiges Grundeinkommen finanzieren müssen, erhalten ein System am Leben, das nur noch die Wahl zwischen hoher Arbeitslosigkeit und Niedriglöhnen zuläßt, weil es nicht mehr genug zu verteilen gibt. Daß dies durch die Riester-Rente noch dazu staatlich subventioniert wird, ist besonders perfide, wenn man bedenkt, daß gerade die Altgewordenen eigentlich zu denjenigen gehören, die Anspruch auf ein staatlich ausbezahltes Grundeinkommen hätten. Stattdessen schaufeln sie sich ihr eigenes Massengrab.

Dreigliederung der Reform

Die soziale Dreigliederung wäre aber keine, wenn alle Reformen - so weitgehend sie auch sein mögen - allein vom Staat auszugehen hätten. Was ich an Maßnahmen bisher aufgelistet habe, kann der Staat jederzeit im Angriff nehmen, wenn sich eine Mehrheit solche Reformen zutraut. Anders als bei der Arbeitszeit und den Mindestlöhnen läßt sich beim Zinseszins- und Aktienproblem sogar auf freiwilliger Basis Abhilfe schaffen, indem man möglichst auf noch zu gründende alternative befristete Währungen umsteigt. Zu einer umfassenden Alternative zu Hartz IV gehört aber mehr.

Auf seiten des Wirtschaftslebens stellt sich die Frage, wie die Mindestlöhne nicht nur versprochen, sondern auch gehalten werden können. Es gehört zur hohen Weisheit der Arbeitsmarkt-Experte zu behaupten, daß die Marktgesetze von selbst die Unternehmen dazu bringen, dort zu investieren, wo die Löhne niedrig sind und die Arbeitssuchende dazu, dorthin zu wandern, wo sie bessere Löhne kriegen. Die Marktgesetze hätten aber bis Hartz IV nicht greifen können, weil die Arbeitslosenhilfe zu hoch war und die Leute, statt nach Bayern, lieber in den Sozialstaat hinein gewandert sind. Die Marktwirtschaft gleicht aber dem Fahrer eines Rettungswagens, der auf den Einsatz der Sirene verzichtet, mit der Begründung, er würde schon in die richtige Richtung fahren und möchte die anderen Fahrer lieber nicht stören. Nur daß derjenige, der umgefahren wurde, dann schon längst tot ist, wenn der Rettungswagen ankommt. Der wirtschaftliche Strukturwandel ist nichts für Politiker, aber auch nichts für Marktideologen. Er ist nur dann schnell genug, wenn alle Marktakteure, die es noch können, gemeinsam am selben Strang ziehen, um den Betroffenen zu helfen. Daß die Arbeitslosigkeit heute gerade in den neuen Bundesländern so hoch ist, liegt auch daran, daß Helmut Kohl nach der Wiedervereinigung so naiv war zu glauben, daß seine real existierenden Kapitalisten sein einig Vaterland über ihre eigenen Interessen legen und in Ostdeutschland investieren würden.

Und das Geistesleben? Der spätere Rudolf Steiner unterscheidet nicht nur wie 1905 zwischen Arbeit und Einkommen, sondern zwischen Arbeitswille, Arbeitsfähigkeit und Einkommen. Den Arbeitswillen verspricht er sich von der oben genannten demokratischen Bestimmung der Arbeitszeit und vom Wissen, daß bei einer sozialen Dreigliederung keiner mehr Einkommen beziehen kann, ohne im Gegenzug sein Mögliches geleistet zu haben. Er sieht aber darin keinen vollwertigen Ersatz für die bisherigen finanziellen Anreize. Es bedarf darüber hinaus eines Geisteslebens, der einen nicht nur arbeitsfähig, sondern auch bis ins hohe Alter lernbegierig macht. Sonst wird der Mensch durch den Strukturwandel überfordert, weil er einen neuen Beruf lernen soll, aber nichts mehr haßt, als die Schulbank zu drücken. Die Fähigkeiten sollen so weit entwickelt werden, daß sie Antrieb zum Handeln werden. Also - statt Arbeitsmarkt - ein von den Wirtschaftsakteuren koordinierter Strukturwandel, ein demokratisches Arbeitsrecht und eine Arbeitswut, wie man sie bisher nur von freien Künstlern kennt.

Erst wenn man alle diese Elemente zusammennimmt, ergibt sich eine gangbare Alternative, oder besser, ergeben sich einander ergänzende und stützende Alternativen zu Hartz IV. Hoffentlich kommt niemand auf die Idee, von Steiner I, II und III zu sprechen ...

Sylvain Coiplet


Quelle: Die Drei, 10/2004, Originalversion des Autors