Anarchismus - Geistesleben und Wirtschaftsleben

Anarchismus als Individualismus oder Chaos

01.04.2000

Aus Anarchismus und soziale Dreigliederung - Ein Vergleich

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An Kropotkin ist vielleicht deutlich geworden, daß der Anarchismus sich nicht auf das Ideal der Freiheit reduzieren läßt. Beim Syndikalismus wird sich zeigen, daß Kropotkin keine Ausnahme darstellt . Manche Anarchisten betonen, sobald es um wirtschaftliche Fragen geht, genauso wenn nicht eher die Brüderlichkeit als die Freiheit. Darauf kommt man nicht, wenn man vom Anarchismus nur das kennt, was Steiner darüber sagt.

Was hat nun Steiner überhaupt über den Anarchismus gesagt ? Es wurde schon erwähnt, daß er bei Kropotkin nicht den Anarchisten beim Namen nennt. Was versteht er aber selbst unter Anarchismus ? Was hält er für anarchistisch und was meint er damit ?

Es sollen aber nicht alle Stellen herangezogen werden, wo er diese Worte je benutzt hat. Es wird vielmehr darum gehen, was Steiner vom Anarchismus einerseits im Geistesleben und andererseits im Wirtschaftsleben hält. Bei älteren Stellen ist dies besonders schwierig, weil Steiner eben oft undifferenziert bleibt.

Eine Stelle wurde schon zitiert. Der Einheitsstaat ist anarchistisch, weil er alle Lebensbereiche durcheinanderwirft. Die Stelle ist aber eher eine Ausnahme. Bei den meisten anderen Stellen, die ich finden konnte, spricht Steiner von Anarchismus, anarchistisch vor allem im Sinne von Freiheit und frei.

Anarchismus und Sozialismus hält er daher für unvereinbar . Anarchistischer Sozialismus sei dasselbe wie hölzernes Eisen. Seine eigene Erfahrung mit dem Sozialismus legt es nah. Als er sich innerhalb der Berliner "Arbeiterbildungsschule" für Lehrfreiheit einsetzt, wird ihm von den Leitern entgegen gehalten, daß der Sozialismus nichts mit Freiheit, sondern mit vernünftigem Zwang zu tun habe. Gemeint ist natürlich die Vernunft der Leiter und nicht die Vernunft der Arbeiter. Wäre es nach letzteren gegangen, hätten sie Steiner als Lehrer behalten. Wie es aus der Forderung nach Lehrfreiheit schon zu ersehen ist, hält aber Steiner Anarchismus und Geistesleben für sehr gut vereinbar. Er sieht nämlich selbst die Freiheit als das Ideal des Geisteslebens an.

Ich bin allerdings überrascht gewesen, wie wenig Stellen ich über den Anarchismus im Geistesleben finden konnte. Hier zeigt sich Steiner ziemlich vorsichtig. Es gibt aber immerhin eine Stelle, wo er vom Geistesleben sagt, es tendiere zum Anarchismus, sobald es vom Staat unabhängig wird . Anarchismus meint er hier positiv im Sinne von Freiheit. Durch seine weitgehende Verstaatlichung werde dies aber verhindert. Was herauskommt, ist ein Geistesleben, das beim geistig Alten bleibt. Statt der Anarchie herrscht die Hierarchie. Es gibt allerdings ein Geistesleben, das inzwischen mehr oder weniger staatsfrei geworden ist, den Weg zur Anarchie aber trotzdem nicht gefunden hat: die katholische Kirche. Dort findet sich immer noch keine Spur von dieser Anarchie, die Novalis für das Zeugungselement der Religion hält. Dies zeigt, daß die Entstaatlichung nicht mehr ist als eine äußere Freiheit, nicht mehr als die Möglichkeit der Freiheit. Steiner macht wiederholt darauf aufmerksam. Wird das Geistesleben von heute auf morgen entstaatlicht, wird es höchstwahrscheinlich als erstes einen Geistesminister ernennen. Es gibt eben keinen Zwang zur Anarchie. Sie würde sich sonst selbst widersprechen. Es spricht natürlich nicht gegen die notwendige Entstaatlichung. Es spricht nur dafür, diese Entstaatlichung voll auszunutzen.

Steiner ist aber nicht immer so gut auf den Anarchismus im Geistesleben zu sprechen. Einmal lehnt er es ausdrücklich ab, wenn seine Philosophie der Freiheit zum theoretischen Anarchismus abgestempelt wird. Und diesmal nicht weil er sich für praktisch hält. Was ihn stört, ist eindeutig die Zurechnung zum Anarchismus. Sie würde seiner Meinung nach erst dann stimmen, wenn Menschen nur als Untermenschen unter einen Hut zu kriegen sind. Er ist aber überzeugt, daß sie auch als Menschen, als Individuen sich einigen können. Wenn zwei Menschen durch eine Tür wollen, brauchen sie weder Staat noch Gesetz um sich zu einigen, wer als erster durchgeht . Hier unterscheidet Steiner also zwischen seinem ethischen Individualismus und dem Anarchismus. Wie läßt sich das mit der oben erwähnten Stelle zusammenbringen, wo er selber beide gleichsetzt  ? Entscheidend dabei ist, wer konkret zu einer solchen Gleichsetzung kommt. Wenn zwei dasselbe sagen, ist es eben nicht dasselbe. Im Ablehnungsfall kommt die Gleichsetzung von einer Zeitschrift, dem Athenaum. Anarchismus wird im üblichen Sinn verstanden: Chaos und weiter nichts. Das kann Steiner weder auf sich noch auf den Menschen sitzen lassen. Von Mackay läßt er sich das aber sagen. Als Sänger der Anarchie meint dieser darunter vor allem die Freiheit. Ihm gegenüber darf also Steiner ethischen Individualismus und Anarchismus gleichsetzen. Anderen gegenüber macht er es ungern, weil er nur zu leicht mißverstanden werden kann.

Bezeichnend ist, daß Steiner im selben öffentlichen Brief an Mackay ein Beispiel dafür gibt, was er unter Gleichheit im Geiste versteht. Obwohl er und Mackay ganz verschiedene Wege gegangen seien, treffen sie im Endergebnis einander. Der Weg ist die Freiheit. Beide können sich dann im Geiste einigen, und diesmal nicht bloß darüber, wer als erster durch die Tür soll. Daß Mackay auf den Weg vielleicht mehr Wert legt als Steiner, steht auf einem anderen Blatt.

Bleibt man aber beim Thema der Freiheit, so stellt sich folgende Frage: Gibt sich Steiner als Individualist wirklich mit den Menschen zufrieden ? Reicht es aus, wenn sie bloß keine Untermenschen sind ? Oder verlangt seine Freiheit nich doch Übermenschen ?

Viele Einwände entfallen, wenn Steiner sein Freiheitsideal auf das Geistesleben beschränkt. Im Wirtschaftsleben würde eine rein moralische Rücksicht auf fremde Interessen den Menschen völlig überfordern. Diese Rücksicht muß zur Einrichtung werden, zu dem was Steiner Assoziation nennt. Ohne sie wird jede Tür zum Verkehrsproblem. Nur Übermenschen könnten sich hier einigen.

Vorausgesetzt, man bezieht die Freiheit allein auf das Geistesleben: Setzt Steiner nicht in anderer Hinsicht Übermenschen voraus? Die freie Konkurrenz im Geistesleben ist nämlich nicht nur von Steiner, sondern auch seinerzeit von Nietzsche begrüßt worden. Bei Nietzsche liebt der Übermensch seine Gegner, weil er sich durch den Kampf mit ihnen steigern kann. Dies ist zwar lieb gemeint, grenzt aber an Mißbrauch der Mitmenschen. Laut Steiner darf der äußere Kampf der Meinungen natürlich keiner Zensur unterliegen. Er läßt sich aber durch den inneren Kampf der Meinungen ersetzen. Ich bin mir selbst der beste Gegner und brauche außer mich sonst keinen. Was ich denke, kann ich selbst der härtesten Prüfung unterziehen. Wenn es nur um innere Logik geht, ist Einsamkeit das beste.

Was habe ich nun davon ? Habe ich mein Denken erst einmal in der Hand, dann kann ich auf eine geistige Bruderschaft eingehen, sobald es mir nicht nur um Logik geht. Bin ich mir mit anderen Menschen einig, so brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Eine solche Bruderschaft wird mich nicht schwächen. Geistige Freundschaft brauche ich also, anders als der Übermensch, nicht mehr zu meiden. Steiner kann sich daher in seiner Antwort auf die "Welträtsel" von Haeckel für die Bruderschaft statt für den Kampf ums Dasein entscheiden. Diese Bruderschaft ist aber trotz ihres Namen nicht mit Brüderlichkeit zu verwechseln. Auch nicht mit irgendwelcher geistiger Brüderlichkeit. Höchstens mit dem, was Steiner unter Gleichheit im Geiste versteht. Sie setzt den inneren Kampf und damit die Selbstbeherrschung voraus. Das meint Steiner auch unter geistiger oder innerer Freiheit. Nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit der Freiheit. Fehlt sie, führt die Bruderschaft nicht zur weiteren Stählung.

Dies habe ich natürlich deswegen betont, weil Steiner das Ideal der Brüderlichkeit nicht mit dem Geistesleben, sondern mit dem Wirtschaftsleben in Verbindung bringt. Beim Wirtschaftsleben versteht er aber unter Anarchismus meistens auch die Freiheit. Nur ist sie dort fehl am Platz. Es gibt also keinen Grund mehr, den Anarchismus, wie noch beim Geistesleben, als etwas Positives anzusehen. Anarchisch ist nun wieder gleichbedeutend mit chaotisch, zufällig.

Es gibt natürlich eine Ausnahme und sie hat wiederum mit Mackay zu tun. In der Auseinandersetzung mit ihm bekennt sich Steiner selbst zum geistigen, aber auch zum politischen und wirtschaftlichen Anarchismus. Ein harter Brocken. Meint er unter Anarchismus hier die Freiheit, dann läßt es sich nicht so leicht mit seinen späteren Aussagen über die soziale Dreigliederung zusammenbringen. Zum politischen Anarchismus läßt sich aber sagen, daß sehr viel von dem, was Steiner zum Geistesleben zählt, damals und heute noch vom Staat verwaltet wird. Der geistige Anarchismus muß daher erst einmal politisch werden, um rein geistig werden zu können. Er muß vom Staat die Eigenständigkeit des Geisteslebens fordern. Es ist zwar Politik. Das liegt aber nicht am geistigen Anarchismus selbst, sondern am Staat, der sich breit gemacht hat. Unter wirtschaftlichem Anarchismus kann Steiner die individuelle freie Verfügung über die Produktionsmittel gemeint haben. Diese Freiheit begründet er später damit, daß das Kapital, anders als das Geld, und anders als es die meisten behaupten, nicht zum Wirtschaftsleben gehört, sondern zum Geistesleben. Hinter diesem sogenannten wirtschaftlichen Anarchismus würde sich dann, wie schon hinter dem politischen, ein eigentlich geistiger Anarchismus verbergen. Dafür spricht eine Stelle aus der Zeit der Dreigliederungsbewegung, wo Steiner ziemlich unerwartet von wirtschaftlicher Freiheit in Bezug auf seine Kernpunkte spricht:

"Sie werden bemerken, daß die völlige, auch wirtschaftliche Freiheit gerade durch dasjenige dem Menschen gesichert wird, was Die Kernpunkte der Sozialen Frage wollen. Da handelt es sich nicht um ein bürokratisches oder mechanistisches Leninisieren oder Trotzkiisieren, sondern da handelt es sich um ein Assoziieren, durch das auf der einen Seite gerade das industrielle Leben in der richtigen Art ins Auge gefaßt wird und durch das auf der anderen Seite die Freiheit des Menschen voll gewahrt wird."

Damit können nur seine dortigen Ausführungen über das Kapital gemeint sein. Es heißt natürlich nicht, daß Steiner nun im nachhinein in Frage stellt, daß das Kapital zum Geistesleben zu rechnen sei. Er geht nur auf den üblichen Sprachgebrauch ein, um seine Gedanken den Zuhörern verständlicher zu machen. Dadurch stehen Anarchismus und Freiheit plötzlich in einem positiven Bezug zum Wirtschaftsleben.

Die Regel ist es aber nicht. Wenn Steiner sonst vom Wirtschaftsleben sagt, es sei anarchisch, dann ist es als Kritik gemeint. Eine Kritik, die sich an die Marktwirtschaft richtet. Seitdem der Individualismus die alte Wirtschaftsordnung beseitigt hat, ist die Wirtschaft der Anarchie verfallen. Hier bin ich wiederum überrascht gewesen, wie oft Steiner diese Kritik äußert. Nach meinen bisherigen Recherchen sind es acht Stellen. Nimmt man sie alle zusammen, so wird einiges klarer. Sein Lob der alten Wirtschaftsordnung kann zum Beispiel sehr leicht mißdeutet werden. Zum Glück gibt es eine Stelle, wo er auch die alte östliche Wirtschaft als absolutistisch ablehnt. Die Alternative zur anarchistischen Marktwirtschaft kann also nicht die Planwirtschaft sein, wie sie aus dem alten Ägypten oder Zweistromland bekannt ist. Unter den Priesterkönigen gab es zwar keinen Platz für den Egoismus. Sie haben aber doch inzwischen abgewirtschaftet. Alle Versuche, diese Art der Wirtschaft wiederzubeleben, sind nicht umsonst gescheitert. Dem französischen Sonnenkönig, oder genauer gesagt, seinem Minister Colbert, gelingt es zwar, im eigenen Lande einen Merkantilismus einzuführen, der trotz seines Namens weniger auf den Markt als auf große Pläne beruht. Spuren davon gibt es dort bis heute noch, in der Form der Funfjahrespläne. Die Franzosen unterliegen aber 1763 den Engländern in Amerika, so daß die Welt einen anderen Gang nimmt. Diese Niederlage ist die Geburtstunde der heutigen anarchistischen Weltwirtschaft. Der zweite Versuch einer Planwirtschaft, der russische Kommunismus, ist auch inzwischen gescheitert. Er konnte genauso wenig wie Frankreich die Welt erobern. Die Zeit für eine Weltmonarchie oder diese Art der Weltrevolution ist eben vorbei.

Steiner lehnt also gleichermaßen den Anarchismus wie den Absolutismus im Wirtschaftsleben ab. Und das Erstaunliche dabei: Er hat an beiden genau dasselbe auszusetzen, nämlich den Verzicht auf die Anwendung der eigenen Vernunft. Am Anarchismus kritisiert er also die Fremdbestimmung und den Mangel an Bewußtsein. Es wird alles dem blinden Markt überlassen. Es fällt aber schon schwieriger, der Planwirtschaft Blindheit vorzuwerfen. Der Plan ist doch gerade der Versuch, ins Wirtschaftleben Bewußtsein hereinzukriegen. Entscheidend dabei ist, wer bewußt sein soll. Wer bei der Planwirtschaft lenkt, der ist bewußt. Wer dagegen nach dem Plan zu handeln hat, der Ausführer, der hat blind zu gehorchen. Er wendet zwar Vernunft an, aber nicht die eigene, sondern eine fremde. Dies ist genau das, was Steiner in seinen Kernpunkten unter Organisation versteht und deswegen auch ablehnt. Organisiert wird man von außen. Marktwirtschaft und Planwirtschaft sollen ersetzt werden durch Assoziationen, die ein Handeln aus Einsicht möglich machen.

Die Entstaatlichung des Wirtschaftslebens heißt nicht, daß den Preisen freien Lauf gelassen wird. Die Anarchie der heutigen Marktwirtschaft soll vermieden werden. Das heißt konkret, daß die Preise von den Assoziationen aktiv gestaltet und nicht der Anarchie von Angebot und Nachfrage überlassen werden sollen. Die Assoziationen werden dafür zu sorgen haben, daß sich die Preise an den Konsumbedürfnissen orientieren. Hier berührt man wiederum einen Punkt, wo Steiner leicht mißverstanden werden kann. Seine Betonung des Konsums gegenüber der Produktion wird oft dahin verstanden, daß das Einkommen sich, statt nach der Leistung, nach dem Bedarf richten soll. Dem steht eine Stelle entgegen, wo Steiner den Markt nicht wie sonst pauschal als anarchisch abtut, sondern zwischen verschiedenen Märkten unterscheidet. Abzulehnen sind demnach der Arbeitsmarkt und der Kapitalmarkt. Arbeit und Kapital gehören nämlich nicht zum Wirtschaftsleben, sondern, wie schon erwähnt, jeweils zum Rechtsleben und zum Geistesleben. Dort haben Märkte keinen Platz. Mit einem Leistungsmarkt ist aber Steiner völlig einverstanden. Ein solcher Markt ist nicht anarchisch. Nicht umsonst spricht Steiner immer wieder von Leistung und Gegenleistung als Prinzip des Wirtschaftslebens. Das meint er auch unter Brüderlichkeit.

Was bisher an Definition des wirtschaftlichen Anarchismus herausgekommen ist, würde viele Anarchisten nicht gerade begeistern. Eine anarchistische Wirtschaft haben sie sich ganz anders vorgestellt. Kropotkin hat sich mit anderen Anarchisten zum Beispiel auch für eine Konsumorientierung der Wirtschaft stark gemacht. Dies ist auch ein wichtiger Streitpunkt mit den Marxisten gewesen, da letztere immer auf die Produktion fixiert gewesen sind. Die Anarchisten sind es auch, die als Syndikalisten dem frühsozialistischen Ideal der wirtschaftlichen Assoziation immer treu geblieben sind, während die Marxisten davon abgekommen sind und zur Verstaatlichung der Wirtschaft aufgerufen haben.

Die Frage ist, warum es zu keiner Zusammenarbeit zwischen Dreigliederern und Anarchisten gekommen ist, wenn die Übereinstimmungen doch so stark gewesen ist. Sie hätten sich an zwei Stellen treffen können. Gemeinsam haben sie oft das Ideal der Freiheit im Geistesleben und das Ideal der Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben. Das nächste Kapitel über die Religion scheint mir zu erklären, warum es mit Mackay zu keiner Zusammenarbeit kommen konnte. Im Kapitel über die Assoziation wird es dann um die gescheiterte Zusammenarbeit mit den Syndikalisten gehen.