Zum Verhältnis von Geistesleben und Wirtschaftsleben

01.07.2003

In seiner Idee der "Dreigliederung des sozialen Organismus" hat Rudolf Steiner schon 1919 versucht, auf die Bedeutung des Geisteslebens für die Gesundung des sozialen Lebens aufmerksam zu machen. Leider werden seine Gedanken heute, wenn überhaupt, nur als Schlagworte aufgegriffen. Die wenigsten Menschen sind sich im Klaren, das Begriffe wie "Geistesleben" oder "Wirtschaftsleben" bei Rudolf Steiner ausgesprochen präzise verwendet werden. So ist der Begriff des "Geistesleben" ganz von der menschlichen Individualität her bestimmt, der Begriff des "Wirtschaftsleben" hingegen muss ganz von den Umkreiskräften her gedacht werden. Man hat es hier mit einer echten Polarität zu tun. Das "Geistesleben" umfasst alles, was aus der menschlichen Individualität hervorgeht und zwar, folgt man Rudolf Steiner, "…von den höchsten geistigen Leistungen bis zu dem, was in Menschenwerke einfließt durch die bessere oder weniger gute körperliche Eignung des Menschen für Leistungen, die dem sozialen Organismus dienen." 1 Das Wirtschaftsleben hingegen hat es gerade nicht mit der menschlichen Individualität zu tun, sondern mit dem, was sich vom Menschen abgelöst hat: den Warenprozessen. Diese, d.h. Warenproduktion, -zirkulation und -konsumtion, haben durch die Arbeitsteilung verbunden mit den technischen Errungenschaften der Neuzeit eine Dynamik bekommen, die bewirkt, dass der Mensch als Mensch im Wirtschaftsleben verschwindet, lediglich zur Rechengröße wird. Die Eigendynamik des Wirtschaftslebens wirkt mit "naturhafter Selbstverständlichkeit". Gegen diese anzukämpfen hieße, gegen Windmühlen anzulaufen. Was aber möglich ist, dass den beiden anderen Gliedern des sozialen Organismus vom menschlichen Bewusstsein her die rechte Wirksamkeit angewiesen wird. Dazu müssen aber, folgt man Rudolf Steiner, zunächst im Geistesleben zentrale Entwicklungen stattfinden. Es sei in diesem Zusammenhang auf eine ganz charakteristische Ausführung Rudolf Steiners hingewiesen:

"Und weil das, was im wirtschaftlichen Leben geschieht, nur die äußere Seite des Geisteslebens ist, so hängt dieses Wirtschaftsleben mit dem Geistesleben wirklich zusammen. Denn die Ansicht ist falsch, welche glaubt, da unten gingen nur die wirtschaftlichen Prozesse vor sich und denen gegenüber sei das Geistesleben nur eine Ideologie. Richtig aber ist es: Das Wirtschaftsleben einer bestimmten Zeit und das Geistesleben einer bestimmten Zeit - nicht genau derselben Zeit - verhalten sich zueinander wie die Nuß zur Nußschale: Das wirtschaftliche Leben ist immer die Absonderung des Geisteslebens und bekommt von ihm seine Form. Daher kann, nachdem das Geistesleben sich so verabstrahiert hat, auch das Wirtschaftsleben sich nur verabstrahieren. Daher haben wir zuerst die Zeit der abstrakten Denkweise und erst dann die Zeit des abstrakten Geldwesens. Das sind Zusammenhänge, die beachtet werden sollten." 2

1 R. Steiner, "Die Kernpunkte der sozialen Frage", GA 23, S. 66

2 R. Steiner, Die heutigen wirtschaftlichen Krisenverhältnisse, 15. September 1920, in: Soziale Ideen, Soziale Wirklichkeit, Soziale Praxis, GA 337a , .S. 92


Quelle: Gleichnamiger Aufsatz in "Landwirtschaf und Ernährung" 07/2003, vom Autoren genehmigter Nachdruck.