Was unterscheidet eine Waldorfschule von einer gewöhnlichen Schule?

05.09.1998

Mit der „Frage nach den Unterschieden“ hat sich Christian Grauer auf der Steiner-Mailing-List im Internet auseinandergesetzt. Dort war er gefragt worden: „Du bist also ein durch die Waldorfschule gegangener Anthroposoph? Laß mich weiter neugierig sein: Was unterscheidet Deiner Meinung nach eine Waldorfschule von einer gewöhnlichen Schule?“ Wir geben die ausführliche Antwort von Christian hier wieder:

Das geht länger...

Zum einen muß ich grundsätzlich zwischen

  1. der konkreten Waldorfschule, auf der ich war,
  2. der Waldorfschule als gesellschaftlicher Erscheinung des 20. Jhdts. und
  3. der Waldorfschule als Idee unterscheiden.

Was diese Idee betrifft, ist der wesentlichste Unterschied zur Staatsschule der, daß die Waldorfschule keine Staatsschule ist.

Das hört sich nur auf den ersten Blick albern an. Eine Waldorfschule ist erst in zweiter Linie eine Schule mit einem bestimmten weltanschaulichen und pädagogisch-didaktischen Konzept. In erster Linie ist sie eine freie Schule, die sich ihre Form selbst gibt! Damit ist der Begriff „Waldorfschule“ als Sammelbezeichnung aller im Sinne der Anthroposophie arbeitenden Schulen schon als unnötig entlarvt. Denn zunächst ist jede freie Schule eine Schule für sich. Daß sich ihre Konzepte (z.T.) decken ist ein sekundäres Phänomen, das durch die gemeinsame Weltanschauung der Beteiligten entsteht. Es ist aber nicht zwingend, daß jede freie Schule dem Waldorfschulkonzept folgt. Warum es so wenig freie Schulen gibt, die sich „nicht“ auf die Anthroposophie oder eines der wenigen anderen (praktizierten) alternativen pädagogischen Konzepte stützen, ist eine andere, ebenfalls interessante Frage.

Eine freie Schule mit einem bestimmten weltanschaulichen und pädagogisch-didaktischen Konzept ist keine Forderung der Gesellschaft, keine Forderung von Pädagogen, keine Forderung von Politikern und Beamten, sondern ein Forderung von Schülern bzw. stellvertretend für sie, von Eltern. Es sind die Eltern, die eine freie Schule wollen, aufbauen und betreiben - das zumindest ist der Ausgangspunkt. So ist auch nicht Rudolf Steiner der Gründer der ersten Waldorfschule (der eigentlichen „Waldorf-Schule“), sondern Emil Molt (stellvertretend für die Angestellten seiner Fabrik). Steiner wurde von diesem mit der pädagogischen Leitung der Schule beauftragt. Die Entscheidung für eine selbstgewählte Form schulischer Bildung steht der staatlich verordneten Einheitsschule gegenüber.

Das ist der entscheidende Unterschied der Waldorfschule zur Staatsschule: daß sich Eltern für sich und ihre Kinder das Recht nehmen, als mündige Bürger selbst zu entscheiden, welche Form von Kultur und Bildung sie genießen wollen. Sie lassen sich nicht demokratisch und bürokratisch vorschreiben, welche Pädagogik die richtige sei, was die zu lehrende Wahrheit sei, welche Weltanschauung, welche Fächerwahl für das Kind ersprießlich seien. So wie in Fragen der Physik nur der Physiker das letzte Wort haben kann, so kann auch in Fragen der Pädagogik nur der Pädagoge das letzte Wort haben. An diesen und nicht an den Politiker oder den Bürokraten oder gar die öffentliche Meinung wenden sich Waldorfschuleltern, um ihm die Erziehung ihrer Kinder anheimzustellen.

So sieht die Sache auf der Ebene der Idee aus.

In der Praxis ist es allerdings wieder anders. In der Praxis wird diese Idee von mehreren Seiten daran gehindert, sich zu verwirklichen. Zum einen ist in unserer Gesellschaft das Recht auf die freie Wahl der Schulform noch nicht gegeben, sondern die Waldorfschulen sind insbesondere durch eine erstaunliche Finanzpolitik wie eine Ziege an einen Pfahl gebunden - frei genug, um im Kreise zu laufen, aber nicht frei genug, um wirklich eigene Wege zu gehen. Zum anderen scheint die Idee einer freien Wahl der Schulform bei den meisten Waldorfeltern sich noch nicht (bzw. nicht mehr) so recht zur Erkenntnis gebracht zu haben; vielmehr wird dort die Waldorfschule gewählt aus Gründen, die nichts mit der Pädagogik, der Didaktik und gar der Weltanschauung zu tun haben, sondern eher mit Prestige, kurzen Schulwegen, Ratlosigkeit, allgemeiner Esoterik-Neigung, Experimentierfreudigkeit, einem gewissen Hang zur Exotik oder der Viel-Schlimmer-Kanns-Nicht-Sein-Einstellung. Mit anderen Worten: die Eltern, die Ihre Kinder aus der bewußten Entscheidung für ein bestimmtes Bildungs-Konzept in die Waldorfschule schicken, sind die Minderheit. Und die Schulen nehmen - müssen bis zu einem gewissen Grade sogar nehmen, was kommt.

Im Gegenzug wird auch an Lehrern genommen, was kommt, ohne daß genügend Eltern vorhanden wären, die mit Engagement, konkreten Ansprüchen und Vorstellungen von ihrer Schule an der Zusammenstellung der Lehrerschaft aktiv mitwirkten. Das hat natürlich zur Folge, daß Lehrer- wie Elternschaft „verwässern“, d.h. daß eine konkrete und aktive Gestaltung der Schule immer mehr verschwindet. In die hinterlassene Leere setzt sich dann zu allem Überfluß noch die aus gutgemeinten und ehrenwerten Interessen geschaffene Institution mit Namen „Bund der freien Waldorfschulen“, die mancherorts die Vorstellung nährt, es gebe eine Art allgemeingültiges Waldorfschulkonzept, das unter der Regie dieses Bundes (oder gar der AAG) an Waldorfschulen feilgeboten werde, und das man dort - so man des Geldes nicht Mangel leidet - für seine Kinder in Anspruch nehmen könnte.

Unterstützend auf diese Vorstellung wirkt sich u.a. auch die Selbstverständlichkeit aus, mit der an WDS das Abitur angeboten wird - damit etwaige Zahnarztkinder das Prestige einer Privatschule genießen können, ohne das übermenschlich erscheinende Opfer erbringen zu müssen, mit einem nichtswerten Waldorfschulabschluß durchs Leben zu gehen - wie sollte er auch Wert besitzen, wo nichteinmal die Waldorfschulen auf ihn vertrauen?

Dies alles führt dazu, daß die eigentlich von der Staatschule grundsätzlich verschiedene Idee der Waldorfschule in der Realität nurmehr vage zu erkennen ist. Und es wird nicht lange dauern, bis die staatlichen Verwaltungsorgane die sogenannten Waldorfschulen mit großer Geste in den Rang einer den staatlichen Schulen gleichgestellten Form erheben wird, um ihr so den letzten Rest an Eigenheit zu nehmen - dabei gleichwohl auch einige Anregung aus der Waldorfpädagogik übernehmend.

Aber das ist der normale Lauf der Dinge und es scheint mir ebenso wahrscheinlich, daß sich neue Formen freier Schulen bilden - dann um so freier - die dem unabwendbaren Willen des Menschen zur selbstbestimmten Gestaltung seines Lebens Rechnung tragen werden und die (hoffentlich) schon so frei sein werden, daß sie nicht mehr eines gemeinsamen Über-Namens bedürfen, geschweige denn einer Über-Institution.

Soviel zum Unterschied was die formale Seite betrifft.

Natürlich unterscheidet sich die Waldorfschule auch gerade Inhaltlich von der Staatsschule, weil sie versucht, Pädagogik an einem bestimmten Menschenbild - überhaupt an einem Menschenbild - auszurichten. Wie gesehen wird diese Pädagogik nicht betrieben mit der Begründung, es sei die einzig richtige Pädagogik, sondern weil es jene Pädagogik ist, die sich die jeweilige Elternschaft von den jeweiligen Lehrern für die jeweilige Schülerschaft wünscht - idealiter. Dieses Menschenbild und diese Pädagogik
- sind einseitig,
- sind subjektiv,
- sind Weltanschauung,
- sind unvollkommen,
aber sie sind so von den Beteiligten gewollt! - idealiter...

In Staatsschulen hingegen wird versucht, Pädagogik und Lernstoff durch Entinidividualisierung, Formalisierung und Entleerung von weltanschaulichem Inhalt, d.h. von persönlichen Überzeugungen, zu objektivieren und allgemeingültig zu machen. Dies aus der in sich schlüssigen Forderung, daß staatliche Pflicht-Schule nicht tendenziös sein darf, sondern den kleinsten gemeinsamen Nenner bilden soll, damit niemand sich vergewaltigt fühlen muß.

Fragwürdig ist daran aber die Voraussetzung, daß überhaupt ein allgemeingültiges, staatliches Schulkonzept erforderlich ist. (Das hat nebenbei bemerkt wiederum nichts mit der Forderung nach staatlicher Zusicherung eines Schulplatzes überhaupt zu tun. Ebensowenig wie die stattliche Zusicherung der Bewegungsfreiheit eine einheitliche Reiseroute impliziert, impliziert die rechtliche Sicherung eines Schulplatzes ein einheitliches pädagogisch-didaktisches Konzept, .)

Fragwürdig ist aber auch, ob damit tatsächlich Objektivität erreicht werden kann. Denn spätestens bei den Lehrinhalten und den immerhin vorhandenen wissenschaftlichen Grundlagen der Didaktik und Pädagogik wie sie an Uni und PH gelehrt werden, sind ebenso eines von vielen möglichen Weltbildern und außerhalb ihres eigenen Systems nicht als allgemeingültig beweisbar. Sie haben lediglich eine statistische Normalität erreicht.

Die Staatsschule verfolgt also zweierlei Zielsetzungen:
1. Die Lehre des für objektiv, allgemeingültig und damit einzig richtig gehaltenen Weltbildes, das sich der modernen Naturwissenschaftlichkeit verpflichtet sieht,
2. Die Präparation der Schüler für ein erfolgreiches Leben in dieser Gesellschaft, aber auch für ein erfolgreiches Bewahren der Staatsinteressen.

Während (1) wohl der Überzeugung der meisten Lehrer selbst entspricht, ist (2) vornehmlich in der Konzeption der Schulen als Staatsschulen, darüber hinaus in der dreistufigen Form, begründet.

Die Waldorfschule entgeht der Illusion der Objektivität, indem sie die Individualität als jenseits von Subjekt und Objekt liegende Wirklichkeit und einzige Referenz betrachtet, auf die hin das pädagogisch-didaktische Konzept ausgerichtet ist. Dabei ist Allgemeingültigkeit von vornherein weder möglich noch angestrebt. Angestrebt wird vielmehr, dem jeweiligen Schüler bei seinem Weg ins Leben die Möglichkeit zu schaffen, seine individuelle Gestalt, seine ihm eigene Biographie im bestem Sinne zur Entfaltung zu bringen.

Der Individualität des Schülers steht gleichfalls eine Individualität im Lehrer gegenüber. Auch hier ist keine Allgemeingültigkeit zu erwarten, sondern ein individueller, konkreter Mensch. Das Zusammenwirken dieser Beiden Individualitäten ergibt das, was man eine Wirklichkeits-Pädagogik nennen kann. Diese Pädagogik hat nicht ein abstraktes Bild des „optimalen Menschen“ vor sich, dem anzunähern es die einzelnen Schüler bemüht ist, sondern jeder einzelne Schüler ist sein eigenes „Idealbild“, das es zu entfalten gilt. Ebenso soll nicht nach allgemeinen Rezepten verfahren werden, sondern es soll - natürlich aufbauend auf fachlicher Kompetenz - im je einzelnen Fall das dem jeweiligen Lehrer angemessene Mittel gewählt. Dabei steht als oberstes Gebot immer die Freiheit des Individuums - also des Schülers - im Mittelpunkt. Es versteht sich damit von selbst, daß nicht Willkür und Macht das Verhältnis von Lehrer zu Schüler bilden, sondern Erkenntnis und Hilfe.

Dieses individuelle Verfahren, dieses Absehen von allgemeingültigen Rastern und Schemata, diese konkrete Einmaligkeit jeder Schüler-Lehrer-Beziehung (und auch Schüler-Schüler und Schüler-Eltern und Schüler-Hausmeister und und und -Beziehung) jagt dem Staatsschulpädagogen Angst und Schrecken ein, weil er Willkür und Unterdrückung Tür und Tor geöffnet sieht. Er fürchtet um die Rechte des Schülers, der dem Wahnsinn einer individuellen, konkreten Lehrerpersönlichkeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Dem muß entgegnet werden, daß erstens kein Schüler einem Lehrer ausgeliefert ist, da eine Schule aus weit mehr als einem Lehrer besteht, und daß außerdem jeder Mensch in allen anderen Bereichen seinen Mitmenschen ebenfalls auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist! Das ist das Leben.

Aus der Anthroposophie heraus betrachtet man das Zusammentreffen eines bestimmten Lehrers mit einem bestimmten Schüler allerdings nicht als Willkür oder Zufall, sondern als Karma, d.h. als ein Zusammentreffen, das aus umfassenderen Gesetzmäßigkeiten zustandekommt, als den Gesetzmäßigkeiten, die sich in ihrer Wirkung auf die Zeit zwischen Geburt und Tod beschränken. Daß Schüler und Lehrer in Waldorfschulen (und auch in anderen!!!) eine karmische Beziehung haben, heißt also nicht, daß der Lehrer in das Karma seines Schülers eingreift, oder es verändert, oder damit sonst welchen Unfug treibt - dazu ist wohl kaum ein Lehrer überhaupt in der Lage - sondern es heißt nichts anderes, als daß der Lehrer das Karma des Schülers und der Schüler das Karma des Lehrers ist. Dies ist wiederum kein Unausweichlicher Zustand, der per Lotterie festgelegt und unkündbar ist, sondern es ist das natürliche karmische Zusammentreffen zweier Individualitäten, wie das auch sonst im Leben immer der Fall ist. Aus dieser unzureichenden Schilderung kann vielleicht schon deutlich werden, daß Pädagogik im Sinne der Anthroposophie kein wissenschaftlich formalisierbares Verfahren ist, sondern ein individueller Akt zwischen echten Menschen - darum auch die Bezeichnung „Erziehungskunst“.

Die Realität sieht nun allerdings auch was diese Erziehungskunst betrifft, nicht so aus, wie die Idee. Das ist zum Einen der Tatsache geschuldet, daß die Realität immer anders aussieht, als die Idealität; zum Zweiten ist es u.a. den oben beschriebenen Zuständen formaler Natur geschuldet. Was darüber hinaus fehlende pädagogische Kompetenz dazu beiträgt, ist die eigentlich wichtige Frage. Das führt in die fachliche Diskussion über Pädagogik und Didaktik im Sinne der Anthroposophie, in der das letzte Wort noch lange nicht gesprochen ist. Wenn also auch die Lehrer in den WDS keine Heiligen sind, so muß man Nachsicht haben. Wenn sie allerdings die Freiheit der WDS ausnutzen, um ihrer Willkür freien Lauf zu lassen - was bisweilen geschieht - dann sind Eltern wie Lehrer dazu aufgerufen, nicht faul auf dem Hintern zu sitzen und dem Treiben beschwichtigend und ausweichend zuzusehen - auch das geschieht! Darüber hinaus gibt es in unserer Gesellschaft Rechtsformen, die auch für Waldorflehrer verbindlich sind. Ich sehe also keinerlei Gefahr, daß hier Exzesse und Skandale, wie sie in einschlägigen Magazinen bisweilen veröffentlicht werden, in einem abnormal hohen Maße erfolgen. Wie alle Randgruppen muß auch die Waldorfschule doppelt so gut sein, um gleichviel zu gelten. Die größere Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei der Waldorfschule ist dem höheren Anspruch und nicht der niedereren Wirklichkeit geschuldet.

Ich bin nicht gerne zur Schule gegangen und ich habe nicht nur heile Welt und eitel Sonnenschein an der Waldorfschule erlebt, sondern auch in die Abgründe menschlichen Verhaltens geblickt. Doch ich ziehe für mich den Besuch der Waldorfschule dem der Staatschule vor, weil ich immerhin das Gefühl hatte, bei allem Ärger, mit wirklichen Menschen, mit zumindest teilweise echten Bemühungen und Absichten zu tun zu haben. Und das ist mir auch als Erfahrung im nachhinein wichtiger als die Reibungslosigkeit eines allgemeingültigen und formalen Lehrplanes, der mit mir nichts zu tun hat.

Was die Mißstände sozialer Art an der Waldorfschule betrifft, so muß auch hier wiederum in Betracht gezogen werden, daß es für ein streng formal und hierarchisch strukturiertes Gebilde wie der Staatsschulen, leicht ist, in keine sozialen und menschlichen Konflikte zu geraten. In der Waldorfschule wird der Mensch als Individuum gefordert, er hat auch im sozialen Bereich Verantwortung für sein Handeln und kann sich nicht auf eine Institution und auf übergeordnete Anweisungen berufen. Dabei kommen oft die menschlichen Abgründe zur Offenbarung, doch zugleich kommen auch die individuellen Stärken des Einzelnen zur Geltung.

Die Waldorfschule geht den Weg alles irdisch-menschlichen: den der Insititutionalisierung. Und irgendwann wird sie als das, was sie der Idee nach einmal war, nicht mehr da sein. Die Idee einer freien Schule, die den Menschen als Individuum zur Freiheit führen will, die wird sich (hoffentlich) so schnell nicht erledigen, sondern immer wieder neue Früchte tragen.

Die kulturellen Anregungen, die Rudolf Steiner mit seiner Anthroposophie gegeben hat, sind dabei noch längst nicht mit einer einzigen Schulform, der Waldorfschule, ausgereizt. Gerade die Verschiedenheit, die Individualität von freien Schulen ist das, was sie von Staatsschulen unterscheidet und sie im engsten Sinne mit der Anthroposophie verbindet, auch wenn diese Verbindung nicht explizit gesucht oder zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Sinne bin ich ein eifriger Verfechter der Waldorfschul-Idee und ein Bekämpfer der Staatschul-Idee.

Wenn ich nach den einzelnen bestehenden Waldorfschulen gefragt werde, so bin ich der Ansicht, daß man hier eine Verfechtung nur mit größter Vorsicht und mit Blick auf den einzelnen Fall wagen sollte. Auf der anderen Seite ist eine Waldorfschule, auch wenn sie keine „Waldorfschule“ mehr ist, immer noch gegenüber der Staatsschule zu verteidigen insofern sie eine freie Schule ist - solange sie von Eltern gewollt wird, ist sie berechtigt!

Der primäre Unterschied, den ich sehe, liegt also in der Tatsache, daß die Waldorfschule keine Staatsinteressensschule ist, sondern aus dem kulturellen Bedürfnis der Beteiligten selbst entsteht. Auch wenn die Kultusministerien auf die Idee kämen, den Waldorfschullehrplan für alle Staatsschulen als bindend zu erklären, wären es noch keine Waldorfschulen, weil ihnen nach wie vor die Selbstbestimmung fehlte (es wäre aber das - oder zumindest eine teilweise Übernahme - ein geschickter Zug, um die richtigen Waldorfschulen endgültig auszurotten! - s.o.). Der sekundäre Unterschied liegt in dem unterschiedlichen Menschenbild und der unterschiedlichen Zielrichtung der Pädagogik (Erziehung zur Freiheit vs. Erziehung im Staatsinteresse zur Allgemeingültigkeit; Individuelle, konkrete Erziehungskunst vs. abstrakter, formaler Lehrplanerfüllung). Die Berechtigung ihrer Existenz zieht die freie Waldorfschule nicht aus der Überlegenheit ihres Ansatzes, sondern aus der Freiheit ihrer Mitglieder, diesen wie auch immer gearteten Ansatz für sich selbst zu wählen (so wie auch ein Künstler sich nicht an eine staatlich verordnete Kunstform hält, sondern seinen eigenen kulturellen Impuls zur Verwirklichung zu bringen sucht). Welches der bessere Ansatz ist läßt sich eben nicht allgemeingültig entscheiden, sondern nur im Hinblick auf ein bestimmtes Elternpaar, ein bestimmtes Kind, eine bestimmte Schule und bestimmte Lehrer.

Mit wunden Fingern und herzlichen Grüßen,

Christian Grauer

veröffentlicht seit 5. September 1998

Mut zur Kreativität

...fordert Inge Sch. in Reaktion auf Christian Grauers Beitrag

In der neuesten Ausgabe der ZEIT fordert der Pädagogik-Professor Prange eine Art Godesberger Programm für die Waldorfschulen, ja droht sogar, daß die Waldorfs „es“ bald kriegen werden, sozusagen auf Druck der Öffentlichkeit. Dieses Programm soll die „Ikone Steiner“, wie er es nennt ersetzen.

Dagegen gebe ich Christian Grauer recht: das wäre nur eine neue Institutionalisierung, die die Beweglichkeit einer freien Schulbewegung einschränken würde. Die Antwort auf Prange kann eigentlich nur eine Darstellung des zugrundeliegenden Menschenbildes sein, daß sich an Steiners Menschenbild orientiert. Hier muß meiner Meinung nach die Auseinandersetzung stattfinden. Welches Menschenbild hat denn die staatliche Schulpädagogik?

Die bloße Gegenüberstellung vom Individualismus gegenüber staatlichem Objektivismus reicht meines Erachtens nicht. Die Waldorfpädagogik muß neue, eigene Worte finden für die Erklärung des Steinerschen Menschenbildes, wenn sie von Pädagogik-Professoren verstanden werden will. Tradition und Moderne - Steiner ist kein Guru zum Nachbeten, sondern alle seine Erkenntnisse können auch heute noch von jedem Menschen selbst zeitgemäß und individuell erfahren und ausgedrückt, erlebt und gelebt werden. Erziehungskunst - der Vergleich mit den Künstlern ist gut. So wie Jeder Künstler seinen individuellen Eindruck und Ausdruck künstlerisch wiedergibt, so muß auch die Waldorfbewegung sich auf künstlerische Art und Weise über Steiner hinauswachsen,nicht indem man ihn als veraltet abtut, sondern indem man ihn kreativ auf den heutigen Boden stellt.

Also Mut zur kreativen Eigenschöpfung in der Pädagogik! Nur an der Waldorfschule ist das möglich.

Inge Sch.

veröffentlicht seit 30. November 2000