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Der Einzelne und sein Eigentum
Teil 2 Ethischer Individualismus und Anarchismus – Gegen die Verstaatlichung des Geistes
Anmerkungen zur Geschichte der Freiheitsidee
Quelle
Zeitschrift „die Drei“
58. Jg., 1988, Nr. 9, September 1988, S. 687-708
Bibliographische Notiz und Zusammenfassung
Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis der Erbin des Autors
Anhand einiger charakteristischer Beispiele, insbesondere der Staatsphilosophien der Engländer Thomas Hobbes (1588-1679) und John Locke (1632-1704), sowie des Italieners Niccolo Macchiavell (1469-1527), Ziehvater Hobbes' und unfreiwilliger Vorbote der Aufklärung, wurde in den vorangegangenen Ausführungen[1] versucht, den Übergang vom mittelalterlichen Gottesstaat («Gebots- und Gehorsamsethik») zur weltlich-protestantischen Staatsauffassung des frühen bürgerlichen Liberalismus («Pflicht- und Gewissensethik»), die sich zunächst neben das weiterwirkende, ja noch einmal mächtig aufblühende absolutistische Herrschaftsverständnis hinstellte und es in vielfältigen Formen durchwuchs, als entwicklungsgeschichtliches Phänomen zu verstehen. Dabei hatten wir als Leitlinie der Darstellung Rudolf Steiners «Soziologisches Grundgesetz» [2] im Auge, demzufolge im Fortgang der Bewußtseinsentwicklung mehr und mehr die Individualität in ihre Rechte tritt und den Staat zurückdrängt. Unser besonderes Interesse gilt auch im folgenden solchen Ideenimpulsen, durch die zum Ausdruck kommt, wie das auf neuer Stufe erwachende Persönlichkeitsbewußtsein, das den Freiheitsimpuls des 20. Jahrhunderts vorbereitet, sich in seinem Verhältnis zur sozialen Ordnung erlebt und ausspricht.
Wir haben gesehen, daß seit der Renaissance die Haltung des dienenden Sich-Einfügens in die gottgewollte Hierarchie dem Bedürfnis weicht, nach Maßgabe der eigenen Vernunft und Tüchtigkeit gestaltend in die Welt einzugreifen und am Ertrag der Mühe zu partizipieren («Die Entdeckung der Hände»). Das biblische «Machet euch die Erde untertan» wird als persönlicher Auftrag (Pflicht), aber auch Anspruch (Recht) aufge-
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faßt, demgegenüber vorgegebene Rangunterschiede zunehmend bedeutungslos werden. Man empfindet, daß jedem gebühre, Verfügungsgewalt auszuüben über das, was er durch seiner Hände Arbeit dem Natursein entrungen und dadurch gleichsam mit seinem Wesen erfüllt habe (Locke). Dieses aufdämmernde Empfinden persönlicher und unterschiedsloser Rechtsansprüche (die zunächst als Besitzansprüche auftreten) ist aber begleitet von einer starken pessimistischen Gegenbewegung, die der Menschennatur Gemeinschaftsfähigkeit im Zustand der Selbstbestimmung abspricht. Neben dem nicht mehr aufzuhaltenden Freiheitsimpuls geistert die niederschmetternde These durch Europa, der herrschaftsfreie Zustand sei der Krieg aller gegen alle. Insbesondere Hobbes ging, in erstaunlicher Übereinstimmung mit neueren psychologischen Denkmustern, davon aus, dem Menschen eigne ein prädominanter Grundtrieb zur hemmungslosen Asozialität. Sein Bild für «Freiheit» ist das bergab fließende Wasser. Es ist frei, insofern es seiner naturgegebenen Eigenschaft folgt, zu fließen. Wie es aber fließt, bestimmen die landschaftlichen Gegebenheiten. Dies entspricht dem Verhältnis des Menschen zum gesetzgebenden Staat. Während Locke im Gegenzug über das Besitzrecht einen positiven und ganz pragmatischen Freiheitsbegriff entwickelt und als geistiger Pate des englischen Aufbruchs zur Demokratie den anthropologischen Optimismus der frühliberalen Zeit verkörpert, knüpft der zwei Jahre jüngere Spinoza (1634-1677), in der Hauptsache Cartesianer, als Staats- und Rechtsphilosoph bei Hobbes an und leugnet die Freiheit aus grundsätzlichen Erwägungen. Alles geht mit Notwendigkeit aus Gott hervor, der kein denkendes, Zwecke setzendes Wesen ist, sondern einfach die ursprüngliche, absichtslos alles aus sich hervortreibende «ewige Substanz». Der Mensch, der sich frei wähnt, gleicht dem geworfenen Stein, der aus eigener Kraft zu fliegen glaubt. Jede Auflehnung gegen die Obrigkeit ist widernatürlich, nämlich ein Ergebnis der Freiheitsillusion. Der Mensch ist von seinen Begierden getrieben. Er richtet sie nicht auf das «Gute» (das es für sich nicht gibt), sondern nennt «gut», worauf sie sich richten. Was die ursprünglich rohe und selbstische Menschennatur zur Einhaltung sozialer Regeln veranlaßt, ist «die Furcht vor Schande oder die Hoffnung auf Gewinn».
Die pädagogische Doktrin
Der sozialdarwinistische «Kampf ums Dasein» (der im Geschichtsbild des historischen Materialismus wiedererscheint, indem dort Kulturgeschichte als Revolutionsgeschichte, also Abfolge von eruptierenden Kollektivegoismen gedeutet wird) hat seine eigentlichen Wurzeln in diesem anthropologischen Nihilismus der beginnenden Neuzeit, weshalb die Entwicklung der aus solcher Ideensubstanz herausgeformten Gesellschaftsorganisationen zu Unterdrückungsapparaten durchaus logisch ist. Der sogenannte «Naturzustand» war damals ein begrifflicher Zankapfel ersten Ranges. Die Entdeckung des (weltlichen) Staatsbegriffs warf zugleich die Frage nach seiner legitimen Funktion auf. Verdirbt der Staat die ursprünglich unschuldige, reine Menschennatur, oder kann der ursprünglich «böse» Mensch nur durch den Staat diszipliniert werden? Beide Ansichten begründeten eine fortwirkende Tradition; beide können
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heute als Irrtümer bzw. Teilwahrheiten identifiziert werden. [3] In der Macchiavell-Hobbes'schen Tradition liegt der Begriff «Erziehungsdiktatur», der nicht nur im Staatssozialismus seine bedrückend konsequente Verwirklichung und im Nationalsozialismus seine furchtbarste Entstellung erlebte, sondern sich, ideologie-übergreifend, tief ins allgemeine Gewohnheitsdenken eingeprägt hat. Es gibt keine programmatische Rede irgendeines heutigen Politikers oder Soziologen in Ost und West, aus der eine gründliche Analyse nicht die Idee des «pädagogischen Staates» zu extrahieren vermöchte. Schon Jean Jacques Rousseau (1712-1778), der sich abmühte, die «ursprünglich gute Natur» des Menschen gegen Machtanmaßung und verderbliche Kollektivismen zu verteidigen, landete am Ende seiner freiheitlichen Exkurse immer wieder beim «Erziehungsauftrag» der Obrigkeit bzw. des «Staatsgründers« [4], und Voltaire, der große Aufklärer (1694-1778), Gegenspieler Rousseaus (Rousseau an Voltaire: «Ich hasse Sie wirklich!«), ruft im Alter aus: «Rottet euch zusammen, ihr Philosophen, dann gebt ihr das Gesetz und werdet die Herren der Nation werden.» Dies entspricht der heutigen Inflation des Begriffs «Volkspädagogik» unter Menschen, die sich für eine geistige Elite halten. Die Vorstellung von der Staatsführung als Lehrkörper hat sich im allgemeinen Denken gewissermaßen konstitutionell verfestigt. Sie taucht bei elitären Minderheiten in der Version des erhebenden Selbstgefühls auf, Ideen zu vertreten, deren Ermächtigung der Welt Erlösung bringen werde. Der dahinter verborgene Grundgedanke ist die Verstaatlichung des Geistes: der Erziehungsstaat.
Die Gesinnung, aus der das stillschweigende Dogma, der Mensch müsse den Menschen beaufsichtigen, erziehen und so weiter, vor vierhundert Jahren unter dem Eindruck des beängstigenden Zusammenbruchs der alten Ordnungen hervorging, war und ist, wie Egon Friedell schreibt, eigentlich «nicht niedrig oder böse, wie man bisweilen gemeint hat, sondern bloß pessimistisch». Hobbes, der vielleicht wie kein zweiter ihren Hintergrund repräsentiert, «sieht überall, wohin er blickt, auf der einen Seite eine Welt (von) Herrennaturen, auf der anderen Seite eine Masse stumpfer, sklavischer, nur durch das Gesetz der Trägheit in Bewegung gehaltener Herdenmenschen». [5]
Der Konflikt zwischen Selbst-Entfaltung (als Anspruch auf den rechtmäßigen, nämlich arbeitend erworbenen Teil des Reichtums der Erde) und Organisation der Lebensverhältnisse im Zustand der Gottverlassenheit, beides der rasanten Entwicklung des Persönlichkeitsgefühls und Bewußtwerdens der Einzelheit entstammend (indem der Einzelne in die Selbstverantwortung gestellt ist, steht er auch dem Mitmenschen unmittelbar und verantwortlich gegenüber, schwankend zwischen Argwohn und Hoffnung) ist die Signatur der «Aufklärung» genannten Epoche. Der
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Frühliberalismus führt insofern die Macchiavell-Hobbes'sche Linie weiter, als Hobbes' Leugnung der Macht als Gottesauftrag nebst seinem mythischen Axiom vom «ursprünglichen Vertrag» (durch den das Volk dem Fürsten die Gewalt immer übertragen hat) die Voraussetzungen schafft, um die Obrigkeit selbst an die von ihr erlassenen Gesetze zu binden (Locke, Grotius, Pufendorf u. a.). Der Liberalismus relativiert die Macht und schichtet sie (erstmals in England) im Sinne der Gewaltenteilung um, stellt sie jedoch als solche nicht in Frage.
Impulse wie diejenigen des englischen Dichterphilosophen Milton, [6] Zeitgenosse und Widerpart Hobbes', waren denkbar und fühlbar, aber noch ohne durchschlagende Wirkung auf die soziale Willensbildung. Kein Fürst und kein Priester, schrieb Milton, könne dem Einzelnen seine Verantwortung vor Gott abnehmen, und Freiheit sei nichts anderes als der Entschluß, diese Verantwortung allein zu tragen. Unwürdig sei daher der Gedanke, die Selbstbestimmung an einen Herrscher zu delegieren, denn «wenn die Liebe zu Gott als ein vom Himmel gesandtes Feuer, welches auf dem Altar unserer Herzen lebendig erhalten werden soll, das erste Prinzip aller guten und tugendhaften Handlungen ist, so ist die fromme und gerechte innere Achtung und Ehrfurcht vor uns selbst das zweite und kann gedacht werden als die radikale Quelle, woraus jede lebenswerte, wertvolle Handlung ihren Ursprung nimmt» (Hervorh. H. K.). Nur wenige Jahre später verfaßte Jacques Benigne Bossuet (1627-1704), Hofprediger Ludwigs des XIV. und seit 1681 Bischof von Meaux, die Schrift »Politik nach den Worten der heiligen Schrift, ein typisches Dokument des mit aufklärerischen Elementen durchsetzten Absolutismus, der im vorrevolutionären Frankreich wie nirgends sonst zur Blüte kam. Dort heißt es u. a.: «Die königliche Gewalt ist absolut. – Denn alles, wozu der König sich entscheidet, setzt er auch durch. Hinter seinem Wort steht nun einmal die Macht. – Ohne diese absolute Gewalt kann er weder das Gute tun noch das Böse unterdrücken: Seine Macht muß so groß sein, daß niemand hoffen kann, ihm zu entrinnen. – Der Fürst kann sich selber zurechtweisen, wenn er merkt, daß er Böses getan hat; aber gegen seine Autorität kann es kein Heilmittel geben als in seiner Autorität selber. – Niemand kann ... daran zweifeln, daß der ganze Staat in der Person des Fürsten verkörpert ist. – In ihm ist der Wille des ganzen Volkes wirksam.» Wir bemerken die charakteristische doppelte Betonung erstens der unumschränkten Handlungs- und Gewissensfreiheit des Monarchen (Absolutismus), zweitens des Herrschers als Personifikation des Volks- (nicht Gottes-) willens (Aufklärung). Es kann sein, daß der König Böses tut, aber dieser Preis muß entrichtet werden, um Auflösung und Chaos zu vermeiden. Noch deutlicher kommt die ambivalente Situation zum Ausdruck in Johann Georg Schlossers (1739-1799) fast hundert Jahre später veröffentlichtem «Sittenbüchlein für die Kinder des Landvolks»: [7] «(Der) Gefahr entgeht ihr nur, ... wann ihr dem König gehorcht, der euch
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nichts befiehlt, als was der Gesellschaft überhaupt nützlich ist, und also auch euch alle vor dem Unglück bewahrt, das über euch fallen müßte, wenn die Gesellschaft getrennt oder verstört würde. Euer König bleibt dabei immer ein Mensch. Es kann sein, daß er manchmal die Gesellschaft noch glücklicher ... machen könnte. Allein ihr seid ja auch Menschen, und einen vollkommenen König könnt ihr nicht erwarten. Euer König kann nicht alles sehen, alles verstehen, er muß sich immer auf andere verlassen» (Hervorh. H. K.).
In dieser Gärungszeit vermischen sich radikal freiheitliche Ideen mit einer geradezu operettenhaften Verklärung des Totalitarismus, leben und wirken Goethe, Schiller, Hegel, Mozart, Beethoven, Lessing, Kant, Voltaire, Rousseau, J. G. Fichte, Montesquieu und viele hervorragende Geister mehr. Adam Smith entwickelt seine Wirtschaftstheorie, die Vereinigten Staaten von Amerika erklären ihre Unabhängigkeit. Friedrich der Große verkehrt mit Voltaire, dessen Ideen er bewundert, obwohl (oder weil?) sie den endgültigen historischen Abschied des Herrschertyps von Friedrichs Zuschnitt ankündigen. Schiller, der (neben Kant) bei Rousseau anzuknüpfen glaubt, es aber in Wahrheit glücklicherweise nicht tut, legt den bis heute nicht gebührend gewürdigten Grundstein für eine moderne Freiheitsphilosophie des ästhetischen Individualismus bzw. des Sozialkünstlertums. [8] Fichte beschließt seine «Bestimmung des Menschen» mit den Worten: »Dieses Sein ist kein von außen angenommenes, es ist mein eignes, einiges, wahres Sein und Wesen.» Für Schiller ist dies das Credo der «schönen Seele». Die «große Idee der Selbstbestimmung», schreibt er an Körner, «strahlt uns aus gewissen Erscheinungen der Natur zurück, und diese nennen wir Schönheit». Er sagt aber auch in der Redeweise des pädagogisierenden Grundzuges aufklärerischen Denkens: «(Man) wird ... damit anfangen müssen, für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann.» Was diese Vorstellungsart aus sich hervorgetrieben hat, ist bekannt. Schiller spricht sich hier, bei aller sonstigen Zukünftigkeit seiner Philosophie, als Geisteskind der protestantisch-puritanischen Ehtik aus, – wie übrigens auch Voltaire, der es zur Aufrechterhaltung der Ordnung («für die Fürsten und die Völker») unbedingt erforderlich fand, «daß die Idee eines schöpferischen, lenkenden, belohnenden und rächenden höchsten Wesens sich dem Gehirn tief eingeprägt hat». Die Furcht, den Sittenkodex als Machtkodex abzuschaffen, saß tief; die Vorstellung vom Herrschaftsanspruch höheren Menschentums wehte aus vergangenen Zeiten herein. Auch Goethe war bekanntlich nur recht zögerlich Demokrat, weil er sich dem verlockenden Gedanken einer Identität von politischer und sittlich-geistiger Hierarchie nicht entziehen konnte. Aber er befand sich damit in der erlauchtesten Gesellschaft seiner Zeit. Es ist kein Zufall, daß damals auch der freimaurerische Impuls aufblühte, der sich z.B. in Lessings «Ernst und Falk» unschwer als Idee einer internationalen und interkonfessionellen pädagogischen Elite zu erkennen gibt.
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Aus dem für die zweite Hälfte des 2. Jahrtausends typischen Anachronismus der Vermischung des Selbstbestimmungsimpulses mit einem prinzipiell unangetasteten Macht- bzw. Hierarchie-Verständnis entwickeln sich die erziehungsideologischen Denkmuster der politischen bzw. revolutionären Philosophie und Praxis (die nicht zu verwechseln sind mit ähnlich klingenden Ideen der Antike). Da aber das gleichzeitige «Hereinbrechen der Vernunft» (Friedell), womit Pragmatismus und Kalkül gemeint sind, in Macchiavell'scher Tradition nur relative Wertmaßstäbe unter Nützlichkeitsgesichtspunkten gelten läßt und die Verheißung der einigenden Kraft des Zweckentsprechenden sich allzu rasch als Illusion erweist (denn die berechnende Verstandeskraft fühlt sich, was Rousseau erkennt und wovor er in panischem Schrecken warnt, heftig zur egoistischen Begierdennatur hingezogen), bemächtigt sich der ungehemmte und nicht einmal versuchsweise mehr vor einer höheren Instanz Rechtfertigung erbittende Machttrieb des pädagogischen Impulses. Dies ist die Mischung, die in letzter Konsequenz Nationalsozialismus oder Stalinismus heißt. Während sich ein Mann wie Robbespierre wahrscheinlich noch gelegentlich selbst einredete, wirklich zum Tugendwächter bestellt zu sein («ein dämonisch gewordener Oberlehrer, der seine Tyrannei unter normalen Umständen in Sittenpunkten entladen hätte» [9]), wußte beispielsweise Joseph Goebbels (wie seine jüngst veröffentlichten Tagebücher eindrucksvoll bestätigen) ganz genau, daß er im Auftrag des Teufels Volkspädagogik betrieb. Der «Erziehungsauftrag» des reformatorisch-liberalen Machtverständnisses wird zum gängigsten und wirkungsvollsten Vorwand zur Durchsetzung von Privatinteressen, zum Ausagieren von Omnipotenzinstinkten oder zur Verteidigung von Privilegien. Er wird darüber hinaus, was aus geisteswissenschaftlicher Perspektive nicht verschwiegen werden darf, zum Einfallstor für geistige Wirkensmächte, in deren Absicht es liegt, die Evolution unter Gesetzmäßigkeiten zu zwingen, deren Aufhebung im Individuationsprozeß gerade der Sinn der Evolution ist. Von zwei Seiten her erfolgt der Angriff: der Freiheitsimpuls verzerrt sich zum ungehemmten Machtstreben, die Vernunftbegabung zum eisigen Kalkül. Die neu entdeckte, erregende Möglichkeit der willkürlichen Erziehbarkeit von Menschenmassen (praktisch realisierbar durch die Popularisierung von Bildung und Information infolge der Erfindung der Vervielfältigungsmedien) erscheint in diesem doppelten Zerrspiegel als Technik des kollektiven «brainstorming» (Propaganda und Manipulation). [10]
Es sollte oben natürlich nicht im entferntesten der Eindruck erweckt werden, eine Persönlichkeit wie Schiller habe an der Vorbereitung der erziehungsdiktatorischen Staatsdoktrinen mitgewirkt. Vielmehr darf alle Verehrung nicht darüber hinwegtäuschen, daß selbst die großen Geister des (vorwiegend deutschen) Idealismus, des (vorwiegend englischen) merkantilen Liberalismus und (vorwiegend französischen)
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aufklärerischen Impulses der weltanschaulichen Toleranz in Teilen ihres Denkens überschattet waren von jener unhinterfragten Voraussetzung der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen durch andere Menschen und damit zugleich von der stillschweigenden (oder offen proklamierten) Annahme, einem Teil, nämlich einer Elite, obliege die Erziehungsgewalt. Die auch von herausragenden Geistern verkannte letzte (soziale) Konsequenz dieser Grundannahme im Zusammenhang mit der unaufhaltsamen Auflösung traditioneller Wertbindungen hatte der rätselhafte Macchiavell visionär vorweggenommen.
Im doktrinären Pädagogismus der neuzeitlichen Pflicht- und Gewissensethik wird zur Gedankenform, was in früheren Zeiten okkulte (verborgene) geistesgeschichtliche Bewegkraft war, die, allgemein bewußt werdend, zugleich historisch überlebt ist. Man stößt auf ein in gewisser Hinsicht paradoxes Merkmal bisheriger Evolution: Als weltanschauliche Norm verfestigt sich im allgemeinen Bewußtsein gerade das, was, von höherer Warte aus betrachtet, verbraucht ist, aber es wird selten zugleich auch erkannt, daß es sich so verhält.
Die Umkehrung: der mündige Mensch
Das eigentliche «offenbare Geheimnis» dessen, was Rudolf Steiner als soziale Dreigliederung vor dem Hintergrund seiner philosophischen Klärung des Freiheitsproblemes in die Welt gestellt hat, ist die Erlösung von diesem Dilemma der je strukturellen Gegenwart des ideell Abgelebten, – aber nicht auf dem Wege des (volks-)pädagogischen Elitismus (als einen solchen man das «freie Geistesleben» der sozialen Dreigliederung bisweilen mißzuverstehen geneigt ist), sondern dadurch, daß «die Menschen im Leben so zusammenwirken werden können, daß aus diesem Zusammenwirken entstehe, was eine abstrakte Programmidee nicht bewirken kann». [11] Steiner fährt in klarer Abgrenzung gegen jeglichen volkserzieherischen Impetus fort: «Da sagt man, die Menschen seien unreif, nach Ideen ihr Leben zu gestalten. Nein, die Menschen werden reif für Antworten sein, wenn die Fragen erst unverhüllt durch alte Vorurteile ihnen gegenübertreten werden.»
Die «Philosophie der Freiheit» muß vor allem deshalb in engem Zusammenhang mit dem anthroposophischen Sozialimpuls [12] gesehen werden, weil sie den aus der Renaissance nachwirkenden epidemischen Pessimismus der politischen Philosophie nicht reformatorisch-halbherzig, sondern radikal außer Kraft setzt. Dies geschieht durch die Feststellung, der Mensch habe in seiner Entwicklung einen Punkt erreicht, an dem «das Gebot einer äußeren oder inneren Autorität» den sittlichen Fortschritt nicht befördert, sondern ihm schadet. Fortgeschritten werden muß und kann allein «von
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der autoritativen Moral zu dem Handeln aus sittlicher Einsicht». [13] Daraus folgt, daß dem Staat eine sittlich-erzieherische Aufgabe unter keinen Umständen zufällt, denn «die Ideenwelt lebt sich nicht in einer Gemeinschaft von Menschen, sondern in menschlichen Individuen aus. Was als gemeinsames Ziel (Hervorh. H. K.) einer menschlichen Gemeinschaft sich ergibt, das ist nur die Folge der einzelnen Willens-Taten der Individuen». [14] Dies ist ein Satz, der jeder Verlautbarung über die soziale Dreigliederung als Motto vorangestellt werden müßte, um dem Mißverständnis vorzubeugen, es handle sich um eine «abstrakte Programmidee», die zum Heil der Menschheit als Staatsdoktrin durchzusetzen bzw. den unerzogenen Massen pädagogisch zu verabreichen sei. Ganz im Gegenteil aber ist die Dreigliederung eine Beschreibung dessen, was die notwendige sozialgestalterische Konsequenz des gesellschaftlichen Zustandes der Herrschaftslosigkeit wäre, des Zustandes nämlich, in welchem von Hobbes' «Leviathan» nurmehr eine (delegierte) Rechtsverwaltungskörperschaft ohne gesetzgebende Befugnis übrigbliebe, der es obläge, die aus den Rechtsfindungsprozessen des freien Geisteslebens erfließenden Impulse praktisch zu realisieren als Übereinkunftsrahmen zum Schutz der Menschenwürde, innerhalb dessen die Menschen ihre existenziellen Lebensgrundlagen durch assoziativen Interessenausgleich zu sichern hätten. Daß es sich nicht darum handeln kann, die Gesellschaft erst zu der Befähigung «hinerziehen» zu wollen, sich in einem solchen Freiheitsraum ordentlich aufzuführen, macht Steiner deutlich, indem er statt etwaiger allgemeiner Unreife gerade die Unsitte sogenannter «Aufklärung» anprangert: «Nicht die Unreife ist in der gegenwärtigen Wirrnis das Wirksame, sondern der Glaube, daß Geist-Erkenntnis das Zeichen eines unaufgeklärten Menschen sei.» Damit wird auf den oben erwähnten doktrinären Pädagogismus hingedeutet, der als unselige Mischung zwischen althergebrachter, theokratisch durchwachsener sozialer Gesinnungsrichtung und dem neuzeitlichen «weltlichen Evangelium» (Steiner) der Geistverleugnung zu allerlei politischen Lehrmeinungen und Heilsprogrammen führt, aus denen bei näherer Betrachtung lediglich gelernt werden kann, «daß sie zwar ‹gut›, oder ‹edel›, oder ‹geistvoll› gedacht sind, daß aber die Wirklichkeit sie zurückweist», denn wirklichkeitsgemäßes Denken «stellt ... nicht in der alten Form ein Programm auf» [15], unabhängig vom Inhalt oder der noch so löblichen Absicht solcher Programme. Rudolf Steiner läßt im Zusammenhang mit seinen Erläuterungen der Dreigliederungsidee keinen Zweifel daran, daß die Vorstellung, Menschen nach Maßgabe eines so oder so zurechtgedachten gesellschaftlichen oder sittlichen Modells erziehen zu müssen, gegenüber den Realitäten der neueren Geistesgeschichte zum Scheitern verurteilt ist. Daraus gerade wird ersichtlich, daß der anthroposophische Freiheits- und Sozialimpuls zwar beim deutschen Idealismus anknüpft, diesen aber nicht einfach leicht verändert abschreibt, sondern transzendiert. In Schillers «Neigung zur Pflicht» ist die protestantische Ethik noch anwesend. Bei Steiner nicht mehr.
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Mehreres muß zusammengeschaut werden, um zu verstehen, daß im 18./19. Jahrhundert einerseits die Ideale von individueller Freiheit und Würde aufflammten, andererseits über die prinzipielle Unreife bzw. Erziehungsbedürftigkeit der Menschen und Völker weitgehend Einigkeit herrschte: Zunächst hatte der «cartesianische Zweifel» [16] die erkenntnistheoretische Demontage der Wirklichkeit eröffnet. Dies führte in Leibniz' Monadenlehre zur wahrscheinlich größtmöglichen Zersplitterung, [17] bei Kant im (mißlungenen) Versuch einer gewaltigen geistigen Rettungsaktion zur Gefangenschaft im «agnostizistischen Bewußtseinskäfig» (H. Witzenmann [18]): Während Descartes die einzige Daseinsgewißheit im Zweifel an allem Erscheinenden fand, war für Kant nurmehr gewiß, daß irgendeine (der Erkenntnis verschlossene) «eigentliche» Wirklichkeit als Gesetzgeberin für die unsere Illusionswelt erzeugende Vorstellungstätigkeit wirksam sein müsse. Diese jedoch erkennend aufsuchen zu wollen, gleicht einer Seefahrt auf einem «weiten und stürmischen Ozeane ..., wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt und, indem es (uns) unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, (uns) in Abenteuer verflechtet, von denen (wir) niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen (können)». Das ist niederschmetternd, und Kant spricht auch selbst von einem «wahren Abgrund für die menschliche Vernunft». Unsere Empfindungen, Wahrnehmungen sind Schattenwürfe eines unenträtselbaren «Eigentlichen»; unsere metaphysischen Bemühungen beruhen auf Ableitungen vom Schattenwurf der Wirklichkeit, sind also Schatten von Schatten und deshalb immer ebensogut wahr wie unwahr (Antinomien). Um in diesen Abgrund vollständiger Relativität, der sogar Descartes erste und letzte Gewißheit («Ich denke») verschlingt, dennoch nicht hinabgerissen zu werden, bleibt nur der Rückgriff auf das allgemeine Moralgesetz: die «Vorstellung eines objektiven Prinzips», das «für den Willen nötigend ist», ohne irgendeinen Zweck zu verfolgen. Dieser «kategorische Imperativ» wird (im Gegensatz zum «hypothetischen Imperativ» des Mittels zum Zweck) nicht frei im Denken erfaßt, sondern ist unmittelbar gegeben. Eine höhere Wirklichkeit offenbart sich dem Menschen allein dort unmaskiert, wo er empfindet, wie sein Handeln beschaffen sein müsse, um dem zu entsprechen, was er – in der Rolle des Gesetzgebers – als allgemeine Handlungsmaxime vorschreiben würde. Die Pflicht- und Gewissensethik findet bei Kant ihre konsequen-
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teste gedankliche Ausformung und überschreitet zugleich ihren Zenit. Er geht davon aus, daß gewissenhaftes Handeln immer das allgemeine Sittengesetz bestätigt, weshalb gegen die Monarchie im Prinzip keine Einwände zu erheben sind. Im Gegenteil gewährleistet diese das Wirksamwerden des schlechthin Guten besser als die Demokratie, in welcher «alle über einen und allenfalls auch wider einen (der also nicht mit einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen, welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist». [19] Hier wirkt zweifellos Rousseaus Angst vor einer Gesellschaft unübersehbarer Interessenkollisionen nach, zugleich auch seine folgenschwere Gleichsetzung von Liberté und Egalité. Das Bedürfnis nach übersichtlichen Verhältnissen, in denen jeder, der sein Gewissen befragt, mit Notwendigkeit sein Handeln am Wohl der Allgemeinheit orientiert; das Idealbild also einer Gesellschaft, in der alle mit einer Stimme sprechen, wenn sie frei sprechen, hat aus sich selbst heraus eine starke Affinität zum moral-erzieherischen Obrigkeitsstaat. Ein Volksganzes, dessen einzelne Glieder so geartet sind, daß zwischen öffentlichem und Einzelinteresse kein Widerspruch mehr auftritt, und in dem der Herrscher folglich nicht mehr als Tyrann, sondern als Kristallisationspunkt des allgemeinen, einigen Willens erlebt wird, ist nicht einfach vorhanden, sondern muß herangebildet werden. «Je besser der Staat verfaßt ist, desto mehr überwiegen im Herzen der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten die privaten», erträumte sich Rousseau, und Kant träumte mit; auch Hegel, dem nicht nur ein politischer «Allgemeinwille», sondern geradezu ein gesamtmenschheitlicher Heilsplan der Evolution vorschwebte, welcher in den Staatsformen seinen jeweiligen objektiven Niederschlag finde und sich mit «List» alles einzelmenschliche Handeln und Trachten dienstbar mache. Daraus folgt authentisch hegelianisch, daß man entweder freiwillig oder unfreiwillig, also besser gleich freiwillig, höheren Absichten gehorcht, wenn man dem Staat gehorcht. «Philosophische Hanswurstiade, hohler Wortkram», befand Schopenhauer. Rudolf Steiner (der Hegels denkerischer Kapazität und der durch ihn vollzogenen Rehabilitation der Ideenwelt als Wirklichkeitswelt höchsten Respekt zollte) konterte ruhig, ohne Adressenangabe, gleich in seinem ersten Buch, alles «apriorische Konstruieren von Plänen», welche der Geschichte zugrundelägen, sei methodisch falsch. [20] Niemand war weniger geneigt als er, irgendwelche «allgemeine» höhere Wirkungsmächte der Geschichtslenkung oder sozialen Willensbildung als der individuellen Freiheit übergeordnet anzuerkennen. «Nicht Geboten, sondern der eigenen Einsicht gehorchen, keine Macht der Welt anerkennen, die uns vorzuschreiben hätte, was sittlich ist, das ist die Freiheit in ihrer wahren Gestalt.» [21] Davon wich er, allen gegenteiligen Gerüchten zum Trotz, zeitlebens nicht ab.
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Aufrichtung der Freiheit als Beliebigkeit
Es steht nicht im Widerspruch hierzu, wenn Rudolf Steiner in seinem «Soziologischen Grundgesetz» die Bewußtseinsgeschichte final auf die Befreiung des Individuums hingeordnet sieht (was man ja, hegelianisch paradox, mißverstehen könnte als unfreiwilliges Hingetriebenwerden zur Freiheit) und zudem die Gestaltungsimpulse höherer Wesensmächte im Evolutionsfortgang beschreibt. Man verkennt manchmal, daß letztere in anthroposophischer Betrachtung nur unmittelbar mit dem Menschen zusammenhängend wirksam sind. Steiner erinnert an die eigentlich schlichte, aber weithin in Vergessenheit geratene Tatsache, daß der Einzelne nur dann als frei Mitgestaltender im menschheitlichen Entwicklungsgang darinnensteht, wenn er in seinen Entscheidungen keiner Nötigung unterliegt. Nötigungen sind aber unterhalb der Ebene «eigener Einsicht» wirksam, d. h. der Bewußtseinsfortschritt verläuft, alle damit einhergehenden Gefahren und Abirrungen eingeschlossen, nicht auf das Nötigende zu, sondern über es hinaus. Nicht nur um die Erlösung individueller Existenz von materiellen und gesellschaftlichen Zwängen geht es dabei, sondern, viel grundsätzlicher noch, darum, die Bedingungsgesetzlichkeit des Daseins («Es-Weltlichkeit» heißt es bei Martin Buber) geistig zu überwinden, um verwandelnd, Bedingungen umschaffend, auf sie zurückzuwirken. Dieser (von Gleichgewichtsverlusten und Stürzen immer wieder unterbrochene) Aufrichtevorgang ist gleichbedeutend mit Geschichte. Wir wissen von Geschichte, weil wir ihn mitvollziehen, – nicht «automatisch», sondern so, daß wir im Prinzip die Geschichtslosigkeit wählen könnten, die Stagnation, den Rückfall ins bloße bewußtlose Getriebensein. Wo aber der Mensch die «Lichtung» (Heidegger) im Gehölz des Vorfindlichen rodet, vollzieht sich, geisteswissenschaftlich gesprochen, zugleich ein Prozeß der Bewußtseinserweiterung in bislang unerschlossene Wesens- und Wirkensbereiche hinein, die dann aber als menschliche, letztlich also sozialkünstlerische Qualitäten zur Erscheinung kommen. Freiheit heißt zwar durchaus «Beliebigkeit» (was ganz umsonst ständig bestritten wird), aber wir können erst dann im vollgültigen Sinne wissen und tun, was uns beliebt, wenn wir Aussichtspunkte gefunden haben, die den Bewußtseinsgraden höherer Wesenheiten entsprechen. Im Kontext der Freiheitsfrage hat uns vor allem zu interessieren, daß diese Wesenheiten, wie sie die Anthroposophie beschreibt, zukünftige Möglichkeiten des Menschseins in der Überwindung des Nötigenden repräsentieren: die noch verhüllten, aber real existierenden Wesensbezirke des Menschen, deren Enthüllung identisch mit Freiheitszuwachs ist. Frei sind nicht die betreffenden Wesenheiten, sondern frei wird der Mensch, wenn er sich ihnen zuwendet.
Freiheit ist Beliebigkeit. Unter dem Diktat der Es-Weltlichkeit, die als engmaschiges Netzwerk von Nötigungen und Begrenzungen einen so tiefen Eindruck auf die meisten Philosophen der Neuzeit machte und den Pessimismus eines Hobbes oder Spinoza ebenso heraufbeschwor wie die manische Transzendenz-Sehnsucht eines Nietzsche, ist Beliebigkeit freilich eine bloße Illusion. «Finde die Liebe, und dann tue, was du willst», hat Augustinus gesagt. Was der Mensch in dieser Verfassung allein sich selbst gehorchend wollen kann, ist niemals menschenunwürdig. Dadurch ergibt sich,
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wenn es auch paradox klingt, ein ethischer Rahmen, innerhalb dessen sich Freiheit vorhersagbar entfalten wird. Die (im eigentlichen Wortsinn) radikale sozialwissenschaftliche Kernaussage der Anthroposophie vor dem Hintergrund des ethischen Individualismus lautet (in diametralem Gegensatz zu Rousseau), daß, je mehr die individuellen Angelegenheiten in den Herzen der Bürger die öffentlichen überwiegen werden, der Staat um so besser verfaßt, nämlich um so überflüssiger sein wird.
Diese Botschaft ist zweifellos diejenige eines evolutionären Anarchismus reinster Prägung. «Es bedeutet einen sittlichen Fortschritt», stellt Steiner fest, «wenn der Mensch zum Motiv seines Handelns nicht einfach das Gebot einer äußeren oder inneren (Hervorh. H. K.) Autorität macht, sondern wenn er den Grund einzusehen bestrebt ist, aus dem irgendeine Maxime des Handelns als Motiv in ihm wirken soll. Dieser Fortschritt ist der von der autoritativen Moral zum Handeln aus sittlicher Einsicht». [22] Die protestantische Ethik hat die äußere Gebotsautorität nach innen verlegt. Ihr Ideal ist der Mensch, der gern tut, was von ihm verlangt wird: mit «Neigung zur Pflicht». Die individualistische Ethik bestreitet, daß überhaupt irgend etwas Heilsames darin liegen könne, zu tun, was verlangt wird. Indem sie mit dem kategorischen Imperativ auch jede sittlich-moralische Meta-Ebene im Sinne außermenschlicher Weltbestimmung zurückweist, was z. B. der Marxismus nicht tut, [23] ist ihre Antwort auf die Machtfrage keine stilistische, sondern eine prinzipielle. Sie stellt sich, unter der Maxime strikter Gewaltlosigkeit, den umstürzlerischen Konzepten, die eine dekretierte Neuformulierung der autoritativen Moral, nicht aber deren Beseitigung im Auge haben, ebenso entgegen wie der reformatorischen Illusion, bei Anerkennung eines «staatlichen Gewaltmonopols» sozialen Fortschritt ins Werk setzen zu können. [24]
Indem Rudolf Steiner nicht nur den politisch erzwungenen Sittenkodex, sondern auch das «Gebot einer ... inneren Autorität» als Handlungsantrieb freiheitswidrig nennt, distanziert er sich so entschieden wie möglich von (despotischen oder liberalen, – die Übergänge sind fließend) erziehungsideologischen Denkmustern und damit von der zählebigen «Aufklärungs»-Manie, von der, wie schon erwähnt, auch die idealistische Epoche durchsetzt war und die bis heute in neuliberalen und sozialistischen Ideenbildungen wetterleuchtet. Wir sind aber nicht dazu bestellt, einander zu erziehen, sondern einander die Freiheit zu schenken. Dem sittlichen Fortschritt dienen soziale Verhältnisse, die den Einzelnen an seinen Selbsterziehungs-, Selbstverwirklichungsauftrag heranführen, den er sich selbst, gleichsam als biographisches Leitmotiv, erteilt hat und nur dann erinnernd wachrufen kann, wenn er keiner
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anderen Weisung als derjenigen seines moralischen Gutdünkens zu folgen hat. Warum dieses Gutdünken, vor dem sich alle Welt so fürchtet, um so mehr an die Sphäre der Idealität angeschlossen sein wird, je zwangloser es sich geltend machen kann, erörtert Steiner in seinen erkenntniswissenschaftlichen Schriften. [25] Die dort mitgeteilten und voraussetzungslos nachvollziehbaren «seelischen Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode» sind geeignet, das Kapitel des auf Macchiavell, Hobbes und andere zurückgehenden anthropologischen Pessimismus der Neuzeit (und damit die Epoche bürgerlichen Staatsverständnisses) endgültig abzuschließen.
Unentschlossenheit des Denkens
Selbsterziehung, Selbstverwirklichung im oben angedeuteten Sinne wären allerdings hohle Formeln ohne den Hintergrund eines Menschenbildes, das Entwicklungswege, Zukunftsräume eröffnet. Weil solche Perspektiven fehlten, mußten die Freiheitspostulate der neueren Zeit unscharf bleiben: Artikulationen einer konfus umherirrenden Sehnsucht, die sich nicht selten panisch entlud und unter dem Eindruck dämonischer Suggestionen zu ihrem eigenen Totengräber wurde: Du siehst das verheißene Land nicht? So sprenge hinweg, was die Sicht versperrt ... – Exemplarisch die Sätze des Anarchisten (für einen solchen zumindest hielt er sich) Leo Berg (1897): «Das Individuum beginnt sich zu fühlen und stärkt sein Sehnen gegen den Moloch Staat. – Was (aber) bleibt heute dem Individualismus, der sich in die That umsetzen will, übrig als die Bombe?» Berg und mancher andere wirre Prophet der «Propaganda der Tat» oder «individuellen Expropriation» fühlten mit schier unerträglicher Heftigkeit, daß der geschichtliche Zeitpunkt gekommen war, die Fesseln autoritativer Moral und protestantischen Pflichtgehorsams abzuwerfen, mithin die heilige Kuh «Staat» zu schlachten. Michail Bakunin (1814-1876), der große, tragisch gescheiterte Gegenspieler von Karl Marx, notierte 1842: «Alle ... Menschen sind von einer gewissen Ahnung erfüllt, und jeder, dessen Lebensorgane nur nicht gelähmt sind, sieht mit einer schauerlichen Erwartung der nahenden Zukunft entgegen, welche das erlösende Wort aussprechen wird.» Und im selben Jahr: «Freiheit, Realisierung und Freiheit, – wer kann leugnen, daß dieses Wort obenan steht auf der Tagesordnung der Geschichte?»
Die Zeit der Stellvertreterschaft Gottes durch den weltlichen Staat war bewußtseinsgeschichtlich ebenso unwiederbringlich vorüber wie rund fünfhundert Jahre früher die päpstliche Weltmacht zusammenbrach und sich nie wieder aufrichtete. Aber es fehlte die schöpferische, konstruktive Alternative, und das alte Gespenst schlich sich, entschlossen zum letzten Entscheidungskampf, durch die Hintertür wieder herein. Unsere Väter haben erlebt und wir erleben heute, in Ost und West,
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unter veränderten, etwas weniger rohen Vorzeichen (auch die Kräfte der Destruktion sind lernfähig), die Aufblähung des «Leviathan», der weiß, daß seine Frist abläuft. Wären im vorigen Jahrhundert die Zeichen der Zeit erkannt worden, könnten die Kräfteverhältnisse in diesem Kampf günstiger verteilt sein. «Es hatte den Anschein», vermerkt Steiner über die Jahre zwischen 1845 und 1878, «als ob auch in die äußere politische Welt der zivilisierten Menschheit der Impuls des Bewußtseinsseelenzeitalters in Form von politischen Anschauungen hineinstürmen könnte.» Es habe die Chance bestanden, «diese Ideen zu begreifen, diese Ideen an die Wirklichkeit anzuhängen». Über diesen Jahren, so Steiner, lag eine Ahnung, «etwas von einem kommenden Völkerfrühling». Doch die Chance wurde vertan, es hatte «der Bürgerstand (diese) Ideen nicht begriffen. Es wurde von dieser Klasse dieses Zeitalters verschlafen». [26] Statt dessen geriet der Freiheitsimpuls in den Sog kollektivistischer Massenerziehungsprogramme. Marx, Engels und andere griffen die Idee vom Absterben des Staates auf, verlegten sie jedoch in eine unbestimmte Zukunft. Robbespierres Geistesart, in der sich Elemente des Macchiavellismus mit Rousseau'scher Einheitsmystik verbanden, erlebte eine schnelle, triumphale Renaissance. Die revolutionäre «Verfassung der Freiheitsfreunde» im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts «fragte jedermann: bist du für Freiheit?, und wenn er nicht eine ganz unzweideutige Auskunft gab, so antwortete sie ... mit der Guillotine». [27] Rund hundert Jahre später hatte ein ideologisches Konzept, das auf denselben Widersinn hinauslaufen mußte, nunmehr als philosophisch, historisch und nationalökonomisch ausgearbeitetes wissenschaftliches System, die allseitige Aufbruchsstimmung in der Vorahnung eines «kommenden Völkerfrühlings» an sich gezogen und mit verheerend falschen Antworten betrogen. Der im Kern richtige Gedanke, daß die Gleichheit aller die Freiheit des Einzelnen bedinge, wurde im Sinne einer volkspädagogischen Phasenlehre interpretiert: Es sei zunächst die Gleichheit im zentralwirtschaftlichen Einheitsstaat zu realisieren und ansonsten darauf zu vertrauen, daß dieser Zustand die individuelle Freiheit aus sich hervortreiben werde. «Mit Erstaunen fragt man», schrieb Bakunin, «wie ein so intelligenter Mensch wie Herr Marx das hat denken können.» Und er fuhr fort, kein freier Geist dürfe «sich mit der schändlichsten und fürchterlichsten Lüge, die unser Zeitalter hervorgebracht hat, versöhnen: der roten Bürokratie».
Bei aller scharfsinnigen Voraussicht der Konsequenzen marxistischen Denkens fand aber auch Bakunin keine glaubwürdige Alternative zu den Grundlagen dieses Denkens. Während Marx und Engels den Individualitätsbegriff im allgemeinen nur mit Schmähungen bedenken, steht er bei Bakunin zwar syntaktisch im Mittelpunkt, bleibt jedoch unscharf. Es fehlt ihm das geistige Rüstzeug, um der Zentralthese des «wissenschaftlichen Sozialismus», das (materielle) Sein bestimme das Bewußtsein, entschlossen zu widersprechen. Statt dessen akzeptiert er sie und macht sich zeitlebens nicht klar, daß er seinem Freiheitsanliegen damit die Grundlage entzieht. «Wer hat recht», fragt er, «die Idealisten oder die Materialisten? Wenn die Frage erst einmal so gestellt
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ist, wird ein Zaudern unmöglich: Ohne jeden Zweifel haben die Materialisten recht. – Jawohl, die ganze geistige, moralische, politische und soziale Geschichte der Menschheit ist ein Reflex ihrer wirtschaftlichen Geschichte.» Hier wäre, um den Geisteskampf mit Marx zu bestehen, eine andere Antwort fällig gewesen. Zweifellos war Bakunin immer dann, wenn er, statt fieberhafte Agitation zu entfalten, sich mit Besonnenheit den tieferliegenden Fragen zuzuwenden bemühte, nicht weit vom Wesentlichen entfernt. Es gibt «eine Sklaverei», schreibt er einmal, «von der der Mensch sich freimachen muß, will er auf sein Menschentum nicht verzichten: es ist die natürliche Welt, welche ihn umgibt und die man gewöhnlich «die äußere Natur» nennt. Es ist die Gesamtheit der Dinge, der Erscheinungen und lebenden Wesen, die ihn beständig von allen Seiten umringen und entwickeln. Allerdings könnte er ohne sie und außerhalb von ihnen keinen einzigen Augenblick leben. Trotzdem scheinen sie sich gegen ihn verschworen zu haben, so daß er jeden Augenblick seines Lebens gezwungen ist, sein Dasein gegen sie zu behaupten.» Es ist bezeichnend für die weltanschauliche Zwangslage individualistischer Denkansätze, daß Bakunin an diesem Punkt seines Nachsinnens über den Menschen haltmachte und umkehrte, statt sich der nächstliegenden Frage zuzuwenden, ob Kulturgeschichte also nicht etwas grundlegend anderes sein müsse als der permanente Reflex auf materielle Umgebungsbedingungen. Wie kann man sich «von etwas frei machen», «gegen etwas behaupten», wovon man vollständig bestimmt ist? Selbst der Einwand, die Antipathie-Geste sei eben gerade der spezifisch menschliche Reflex, läßt offen, wieso bei einem (und nur diesem einen) Naturwesen eine reflektorische Fähigkeit angelegt ist, durch die es die reflexauslösenden Realitäten erkennt und sich ihnen mit emanzipatorischen Intentionen gegenüberstellt. Kann das hier (seit Menschengedenken) wirksame Motiv ebenfalls ein bedingter Reflex sein? Dies mit Ja zu beantworten, ist, wie man die Sache auch drehen und wenden mag, ein blanker Widersinn, – ein Widersinn allerdings, auf dem das machtvollste und sozial folgenreichste Ideengebäude der neueren Geschichte errichtet worden ist.
Bis heute krankt das anarchistische Denken daran, daß es sich nicht endlich von den weltanschaulichen Wurzeln der «schändlichsten und fürchterlichsten Lüge» lossagt. Gerade weil man Marx und Engels neidlos bescheinigen muß, daß sie, innerhalb ihres Systems, konsequente Denker waren, ist ihr philosophisch-anthropologisches Konzept samt politischen Schlußfolgerungen entweder komplett falsch oder komplett richtig. Anders ausgedrückt: Man tut ihnen Unrecht, wenn man behauptet, ihre Voraussetzungen seien richtig, ihre Schlußfolgerungen dagegen falsch gewesen. «Tatsächlich kann man sagen», heißt es statt dessen in der Einführungsschrift «Was ist eigentlich Anarchie», «(Marxismus und Anarchismus) haben die gleichen Wurzeln: die gleichen philosophischen Grundlagen und im Grunde auch das gleiche Ziel.» [28] Wenn dem so wäre, müßte sich der Anarchismus mit seiner Unterlegenheit gegenüber dem doktrinären Sozialismus ein für allemal abfinden. Unter der Vorgabe des Primats der Materie und vor dem Hintergrund eines Menschenbildes, demnach wir in erster Linie
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Kollektivwesen sind, Produkte unserer Umwelt, ist Individualismus eine Phrase. Wenn aber Individualismus eine Phrase ist, gibt es keinen vernünftigen Grund, irgend etwas heilsames von der Befreiung des Einzelnen zu erwarten; denn Phrasen sind schlechte politische Ratgeber. Tatsächlich haben neuere anarchistische Theoretiker wie der heute vielzitierte Daniel Guerin [29] die Kapitulation längst vollzogen. Sein Anarchismus ist nichts anderes als ein lauer, mit liberalen Elementen durchsetzter Aufguß des wissenschaftlichen Sozialismus.
Pierre Joseph Proudhon (1809-1864) schrieb an Karl Marx: «Sie erzählen uns davon, den Staat beizubehalten, die Zuständigkeit des Staates zu mehren, die Macht des Staates immer mehr zu verstärken! Gehen Sie, Sie sind in keiner Weise ein Revolutionär.» Und Bakunin: «Ich verabscheue den Kommunismus, weil er die Negation der Freiheit ist, und weil ich mir nichts Menschenwürdiges ohne Freiheit vorstellen kann.» Beide jedoch haben keine prinzipiellen Einwände dagegen erhoben, daß «das Individuum das gesellschaftliche Wesen» und «der Mensch ... die Welt des Menschen, ... Sozietät (sei)» (Marx). Zwar stellte sich Proudhon gelegentlich einmal auf Standpunkte wie den, «die Priorität (läge) in allen Taten des Geistes (bei) der Individualität» (man versteht, warum Marx den Franzosen nach anfänglicher Freundschaft aus tiefstem Herzen beargwöhnte), aber dann fand er doch wieder, man müsse den Gang der Geschichte den Masseninstinkten überlassen. Ähnliche Ungereimtheiten bei Bakunin. Einmal gibt er eine schlicht-überzeugende Definition von Freiheit: «(Sie) ist das absolute Recht aller erwachsener Männer und Frauen, für ihre Handlungen keine andere Bewilligung zu suchen als die ... ihrer eigenen Vernunft, nur durch ihren eigenen Willen in ihren Handlungen bestimmt zu werden, und folglich nur verantwortlich zu sein zunächst sich selbst gegenüber, dann der Gesellschaft, der sie angehören, aber nur insoweit, als sie ihre freie Zustimmung dazu geben, ihr anzugehören.» Im gleichen Augenblick aber steht Übervater Marx mit grimmiger Miene am Schreibtisch, und der Freidenker beeilt sich, zu beteuern: «Revolutionen werden durch die Gewalt der Sachen hervorgebracht.» Wir erreichen also den Freiheitszustand, in welchem wir als einzige Quelle sittlichen Handelns die eigene Vernunft gelten lassen, durch Vorgänge, die uns von einer «Gewalt der Sachen» aufgenötigt werden? War es nicht Bakunin, der schrieb, von dieser «Sklaverei» müsse der Mensch «sich frei machen»?
Im Nichts das ideen-schöpferische Ich
Wir finden unter den «Vätern» des Anarchismus einen Denker, der diese Widersprüche handstreichartig zu bewältigen suchte: Max Stirner (1806-1856), Verfasser des radikal-individualistischen, in manchen Punkten an Nietzsche erinnernden «Der Einzige und sein Eigentum» (1845). Es gab in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige versprengte «Stirnerianer» (insbesondere der mit Rudolf Steiner freundschaftlich verbundene John Henry Mackay kämpfte enthusiastisch um Stirners Anerkennung),
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aber im wesentlichen ist Johann Caspar Schmidt (so sein richtiger Name) wirkungslos geblieben, – wenn man von einem Phänomen absieht: Zweifellos nicht wirkungslos geblieben ist Rudolf Steiner, für den Max Stirner einen der Anknüpfungspunkte für sein freiheitsphilosophisches Werk, die «Eingangspforte zur Anthroposophie», bot.
Stirners Bedeutung liegt darin, daß er die «Gott-ist-tot»-Stimmung seiner Epoche nicht materialistisch, sondern idealistisch weiterdachte und damit erst auf den Punkt brachte. Er war, wenn man so will, der «Erfinder» des Existenzialismus (ohne diesen Begriff je verwendet zu haben) und zugleich derjenige, der ihn, Sartre und anderen vorgreifend, bis an die äußersten Grenzen ausreizte. Keiner hat so ernst gemacht mit dem, was eigentlich Marx vorhatte, nämlich «nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren» (Marx). Stirner hat diese Wahrheit jedoch nicht in der (natürlichen und gesellschaftlichen) Umgebung des Menschen etabliert, sondern in ihm selbst. Aus «Gott ist tot» wird «Ich bin Gott»: «Werdet jeder von Euch ein allmächtiges Ich». – «Der Weltengrund hat sich vollständig in die Welt ausgegossen», heißt es bei Rudolf Steiner, «er treibt sie von innen» [20] und offenbart sich in den «einzelnen Willens-Taten der Individuen». [30]
Eine der aufregendsten Passagen in Stirners «Der Einzige» ist diese: «Es ist fortan nicht mehr um den Staat zu tun, sondern um mich. Damit versinken alle Fragen über Fürstenmacht, Konstitution usw. in ihren wahren Abgrund und ihr wahres Nichts. Ich, dieses Nichts, werde meine Schöpfungen aus mir hervortreiben.» Das Ich vernichtet den Staat als Inbegriff des Nötigenden, der Selbstentfremdung, um vom Geschöpf zum Schöpfer zu werden. «Suchet nicht die Freiheit», schreibt er an die Adresse aller «Volkserzieher» und Moralisten, «die Euch gerade um Euch selbst bringt, in der ‹Selbstverleugnung›, sondern suchet Euch selbst», und fährt fort: «Ich bin nur zu dem nicht berechtigt, was ich nicht mit freiem Mute tue.» Dieser Gedanke ist ein ur-christlicher. Paulus hat als Sünde den Zustand bezeichnet, «so ich ... tue, was ich nicht will» (Röm. 7,20). «Ob ich recht habe oder nicht», folgert Stirner, «darüber gibt es keinen anderen Richter als mich selbst.» – «Über die Richtigkeit des Denkens entscheidet nur das Denken selbst», schrieb Steiner. Man beachte die verdeutlichende Nuance. Dem Philosophen Steiner war es darum zu tun, den absolut individuellen Charakter der ideen-schöpferischen Tat hervorzuheben und abzugrenzen gegen diejenigen Handlungsantriebe, durch die wir Menschen sind, «von denen zwölf ein Dutzend machen»: «Die Menschen verfolgen, insofern sie intuitive Ideen verwirklichen (Hervorh. H. K.), nur ihre eigenen, menschlichen (und für) jedes Individuum ... besondern Zwecke.» [30]
Max Nettlau schrieb über Stirners Anliegen: «der Individualismus als feinstes Werkzeug, um jeden in das von ihm gewünschte Milieu zu versetzen». [31] Steiner hat in seinen «Grundlinien» in genau demselben Sinne ausgeführt, es sei die vornehmste gesellschaftliche Aufgabe, Verhältnisse zu schaffen, in denen jeder Einzelne den Ort
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finden könne, um «den Hebel seiner Individualität» am wirkungsvollsten anzusetzen. Jenes «Nichts», zu dem Stirner vorstößt und bei dem er, nach Worten ringend, endet: das «Nichts», welches Ich bin und aus dem Ich meine Schöpfungen hervortreibe, ist der «göttliche Funke», von dem die Mystiker zu allen Zeiten gesprochen haben. Aber die Frage ist neu gestellt: für ein verändertes Bewußtsein, das sich erkennend, nicht mystisch-ahnungsvoll, in Neuland vorwagen will. Hier kann Rudolf Steiner anknüpfen und fortfahren. Zweifellos hat Max Stirner etwas Bedeutsames in bezug auf das Ich-Rätsel erspürt: Jedes sinnenfälligen Inhaltes entbehrend, dem wir uns reflektierend gegenüberstellen könnten, ist Ich immer Jetzt, reine Ereignung, die wir nur unmittelbar in ihrer Wirksamkeit, also ein jeder in seiner Wirksamkeit, erfahren können; mithin kein umrissenes Gebilde, sondern das (immer erstmalige) in Bildungen einströmende Zentrum meines Selbstgewißseins, aber jenseits aller Prädikate, die mir verliehen, zugewachsen sind; realer als alle Dinge, entläßt es mich und holt mich wieder ein, entlasse Ich mich und hole Ich mich wieder ein, – selbst im Versuch noch, mein Sein zu leugnen, der immer scheitern muß, weil ich nur sagen kann: «Ich bin Nichts», wonach ich mich also in der Selbstverleugnung absolut setze, oder «Es ist Nichts», wobei ich, der ich dies sage, außerhalb des Satzes bleibe. Als (unentrinnbare) Erfahrungsqualität ist Ich immer Jetzt und Alles, Anfang und Ende, aber quantitativ – Nichts, Nirgends: Die Wesenheit ohne Spiegelbild, herleitbar nur aus sich selbst und verfolgbar nur zu sich selbst zurück und auf dem ganzen Weg in sich geborgen. Schon Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), in den wichtigsten Phasen seines Schaffens (aber nicht durchgängig) der erste konsequent individualistische Denker, sah sich in der seelischen Selbstbeobachtung an eine Grenze herangeführt, wo «die Welt und mit ihr wir selbst in das absolute Nichts versinken», um vordringend ins unvermeidliche Absurde zugleich festzustellen: «Ich bin unsterblich, unvergänglich, ewig.» Wie Stirner stand er vor dem Ich-Paradoxon und wich ihm nicht aus, sondern suchte die Versöhnung der Widersprüche in einer Ethik der Tat. «Mein Wille ist mein, und er ist das einzige, das ganz mein ist, und vollkommen von mir selbst abhängt, und durch ihn bin ich ... ein Mitbürger des Reichs der Freiheit.» Das im freien, «dem Vernunftgesetze ... gehorchen(den)» Willen sich darlebende unsterbliche Ich findet, nachdem der Abgrund des (diesseitigen) Nichts durchschritten ist, Anschluß an eine – von Fichte die gegenwärtige (nicht zukünftig-verschwommene, wirklichkeits- und erkenntnisferne) «übersinnliche Welt» genannte – Sphäre Anschluß, die ihrerseits etwas wie «ein Wille (ist), der rein, und bloß als Wille wirkt, durch sich selbst, schlechthin ohne alles Werkzeug, oder sinnlichen Stoff seiner Einwirkung, der absolut durch sich selbst Tat ist, und Produkt, dessen Wollen Geschehen, dessen Gebieten Hinstellen ist».
Auch Stirner erfaßte (auf seine vielleicht bisweilen die Tiefe der Polemik opfernde Art), daß alle Souveränität des Willens, Freiheit und sittliche Einsichtsfähigkeit aus einem Brunnen geschöpft sind, in den wir Ich-werdend, aus selbstidentischem Entschließen wollend, eintauchen; und daß sich dieser Brunnen gegenüber der Nötigungswelt, Welt der Grenzen und Befestigungen, wie ein alles verschlingender, zernichtender Sog verhält. Es ist keine Kleinigkeit, daß dieser Mann die Kühnheit besaß,
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in der Kulminationszeit allseitigen Argwohns gegen metaphysische Töne (und obendrein an die Adresse eines sozialrevolutionär gestimmten Publikums) als atheistisches Credo zu verkünden: «Mir geht nichts über mich», – mein Ich aber, die einzige, erste und letzte Gewißheit, ist das schöpferische Nichts, in dem alle außerindividuelle Daseinsbestimmung ausgetilgt und gleichsam zum Rohstoff bereitet wird, aus dem Ich, dieses Nichts, mich neu erschaffe. Für viele ist so etwas der bare Unsinn. Manchem mag aufgehen, was tatsächlich vorliegt: Der Mensch beschreibt sich selbst so, wie die Mystiker vergangener Jahrhunderte Gott beschrieben haben. [32] Hier, nicht bei Hegel, erreicht das traditionelle Philosophieren seinen Endpunkt. Es hat, positiv oder negativ, stets das Verhältnis des Menschen zur Gottheit untersucht, während nun der Einzelne in die Erfahrung entlassen wird, daß er immer nur vor sich selbst steht und wahrer Gottesdienst die dauernde Erneuerung des Wunsches ist, sich in diesem Verhältnis zu bewähren. [33]
Was Bestand und Gültigkeit hatte außer dem nackten «Ich-bin-der-Ich-bin», löst sich auf. Der Mensch steht im Nichts, und auch er wird sich auflösen, wenn er die Welt nicht jetzt neu erbaut. Johannes Hemleben hat als den Kardinalpunkt der Weltauffassung christlichen Mönchtums bezeichnet: «Nur durch das Erlebnis des inneren Todes kann der Himmel erfahren werden.» [34] Mit dem Bewußtseinsseelen-Impuls kommt die Einsicht herauf, daß dieser «innere Tod» sich auf diejenigen Bezirke der Menschenwesenheiten bezieht, durch die die Erkenntnis Produkt und Spiegel ihrer Umgebungswelt ist; daß aber aus einer anderen, innersten Seelenregion, wenn die Hüllen der Selbstentfremdung abgeschält sind, sich das freie Menschentum erhebt: Wo Ich ganz bei mir bin, ist der «Himmel».
Beide, Max Stirner und Rudolf Steiner, bringen ihren philosophischen Individualismus in direkte Beziehung zur sozialen Frage. «Jedes Ich ist von Geburt schon ein Verbrecher gegen den Staat», stellt Stirner provokativ fest und kann für die soziale Zukunft kein Heil erblicken außer in der radikalen Emanzipation des Einzelnen von alledem, wodurch er genötigt ist, sich zum «gesellschaftlichen Wesen» zu verunstalten. Gut ist, was gutzuheißen mir beliebt, lautet sein Fazit. Es gehören schon außerordentliche opportunistische Verrenkungskünste dazu, heute aus anarchistischer Sicht eine enge Verwandtschaft der philosophischen Grundlagen mit dem Marxismus zu konstatieren und sich gleichzeitig auf Stirner zu beziehen. Dieser Zusammenhang ist ein bloßer Wunschtraum unter dem Zeichen falschverstandener Solidarität. Er entspricht ebensowenig der Wahrheit, wie es ihr entspräche, eine Ähnlichkeit zwischen dialektischem Materialismus und ethischem Individualismus herbeizureden. In einen ganzen «Wust von Sitte (und) Gesetzeszwang» hat Steiner den Menschen zum Schaden seiner Freiheit verstrickt gesehen und keinen Zweifel daran gelassen, daß es jene
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immanente «Logik» emanzipatorischer Entwicklung, jene Geschichtskybernetik, die sich der historische Materialismus erträumt und die er zur Rechtfertigung vorübergehender Umschichtungen der Macht innerhalb des «Wustes» heranzieht, nicht gibt. Die Macht von Menschen über Menschen bringt sich selbst nicht zum Verschwinden. Egon Friedell nannte die Vorstellung, den Machtapparat durch seine Zentralisierung im Endeffekt beseitigen zu können, der Sache nach einen «hinterlistige(n) Sophismus«. Marx sei sich dessen allerdings selbst nicht bewußt gewesen.
Das Ich in letzter Instanz
Bisweilen wird auch von Anhängern Steiners in dem (zweifellos verdienstvollen) Bemühen, Feindbilder abzubauen, vorgebracht und durch Zitate belegt, Marx und Engels hätten keineswegs die Individualität verachtet. Tatsächlich finden sich in der Primärliteratur neben hämischen Ausfällen gegen Individualisten und Antiautoritäre auch eindrucksvolle Bekenntnisse zur Freiheit. Um zu entscheiden, ob es sich dabei um mehr als nur Lippenbekenntnisse handelt, ob also der Marxismus den Individualismus ein- oder ausschließt, müssen die philosophisch-anthropologischen Grundlagen zu Rate gezogen werden. Man wird dann unschwer feststellen können, daß aus der Perspektive des klassischen wissenschaftlichen Sozialismus in der Tat von Geringschätzung der Individualität keine Rede sein kann: denn wie soll man geringschätzen, was gar nicht vorhanden ist. Der Mensch ist «in letzter Instanz» (Engels) ein Produkt der materiellen Verhältnisse. Zwar wird zugegeben, daß in der Lebenswirklichkeit eine Wechselbeziehung entsteht, aber alles, was der Einzelne an Kultur, Religion, Moral und so weiter, kurzum: als Geistig-Seelisches an und in sich erlebt, bleibt «Reflex», ideologischer Dunst. Marx und Engels hätten dies nicht so häufig und nachdrücklich betont, wenn sie der Ansicht gewesen wären, es sei in bezug auf die konkret zu lösenden Aufgaben eine Nebensächlichkeit. Engels, zweifellos der universellere Denker von beiden, versucht im «Anti-Dühring» durch einen knappen, abschließenden Machtspruch die Freiheitsfrage auf den dialektisch-materialistischen Punkt zu bringen: Freiheit sei Leben im Gehorsam gegenüber den Naturgesetzen. [35] Auf einem anderen Blatt steht, daß innerhalb der Staatsführungen des real existierenden Sozialismus die Einsicht in die Notwendigkeit wächst, das marxistische Weltbild gerade im Hinblick auf die Freiheitsfrage zu korrigieren. Da sich in den kümmerlichen Restbeständen einer «Weltanschauung» der spätbürgerlich-kapitalistischen Kultur nicht nur ebensowenig Freiheitssubstanz auffinden läßt, sondern obendrein mit gewaltigem volkspädagogischem Aufwand die Illusion genährt wird, man brauche über Freiheit nicht mehr zu reden, da sie verwirklicht sei, könnte die Entwicklung also durchaus so verlaufen, daß sich im Staatssozialismus (Not macht erfinderisch) ein Freiheitsweg anbahnte, dem vielleicht die Abirrung in die liberalistische Sackgasse
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erspart bliebe, während der «freie Westen» zum (waffenstarrenden) Orwellschen Daueralptraum verkäme. Dies wäre, gemessen an den brachliegenden Möglichkeiten mitteleuropäisch-christlichen Ideengutes, freilich eine Katastrophe mit unabsehbaren Folgen.
Steiner hat den Gedankenformen des wissenschaftlichen Sozialismus und kommunistischen Staatsbürokratismus eine nicht hinwegzudiskutierende, unmißverständliche Absage erteilt, ohne Marx und Engels je der Unredlichkeit ihrer Motive zu bezichtigen. Die Größe des Ökonomen Marx, insofern er sich im Bereich der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse bewegte, hat Steiner dagegen immer gewürdigt. Nun ist damit nicht zugleich gesagt, alles, was sich im anthroposophischen Schrifttum, bei Steiner selbst oder bei seinen Schülern, findet, sei unanfechtbar und zeitlos gültig. Es wird jedoch von zwei Standpunkten aus argumentiert, die sich schroff gegensätzlich zueinander verhalten, und hier ist eine Sowohl-als-auch-Entscheidung aus der Sache heraus schlechterdings unmöglich.
Anderes gilt, wie wir gesehen haben, für das Verhältnis zwischen Steiner und den anarchistischen Theoretikern. Proudhon, Bakunin, Kropotkin und andere (letzterer wäre wegen seines Versuchs einer neuen Natur- und Evolutionslehre gesondert zu behandeln) waren zwar aufgrund ihres Versäumnisses, vielleicht Unvermögens, sich dem Entwurf einer anarchistischen Anthropologie zu widmen, stets anfällig für materialistische Doktrinen und befanden sich in dem Irrtum, zu glauben, Widersetzlichkeit gegen Marx' Schlußfolgerungen allein könne irgend etwas retten; aber sie haben gerade dadurch, daß sie sich auf unlösbare Widersprüche einließen, gewissermaßen die Pforte aufgestoßen zu einer neuen Dimension des Denkens des Menschen über den Menschen. Was ihr glühendes Sehnen, ihr manchmal visionäres Erahnen dessen, was die konkrete Anwendung marxistischer Ideologie auf die gesellschaftlichen Verhältnisse hervorbringen würde, forderte und ankündigte, realisierte Steiner, indem er eine Freiheitswissenschaft in die Welt stellte und (Goethes naturwissenschaftliche Methode der «anschauenden Urteilskraft» systematisch auf die seelische Selbstbeobachtung anwendend) das Freiheitsverlangen an die Evidenzerfahrung der Freiheitswirklichkeit heranführte. Mit Max Stirner, dem einzigen Philosophen unter den «Vätern des Anarchismus», steht Steiner in einem noch direkteren ideengeschichtlichen Zusammenhang. Stirner trat als erster dem aufklärerischen Pädagogismus der «Pflicht- und Gewissensethik» als solchem entgegen und untergrub damit die begrifflichen Fundamente der neuzeitlichen Versionen von Machtanmaßung und Manipulation denkend (oder besser: abgelebte Denkgewohnheiten außer Kraft setzend). Mit solcher Entschlossenheit und so viel Mut zum Vorstoß ins Unsagbare (anders als Nietzsche nie in einen «individualistischen Größenwahnsinn» verfallend) stritt er für die Rechte der Individualität, so daß Steiner hier den idealen Anknüpfungspunkt fand, um nunmehr von der Welt zu sprechen, in der das Ich als «Katalysator» für alles ethische Ideenvermögen so urständet wie der «natürliche Mensch» in den Naturreichen. Die nachfolgende Entwicklung der eigentlichen anthroposophischen Geisteswissenschaft macht diese Ideenwelt dann kenntlich als eine solche, aus der das unsterbliche Innerste des individuellen Menschenwesens herabsteigt ins Erdendasein,
[die Drei, September 1988, Seite 707]
erwachend im Prozeß des Ich-bewußt-Werdens zu sich selbst und den Schicksalszielen, durch die der Einzelne sich zur Einzig-Artigkeit erhebt.
Hier nun geht Steiner über den Individual-Anarchismus sozialrevolutionärer Prägung hinaus und bereitet der Freiheitsidee den Untergrund, den sie braucht, um als Triebfeder sozialen Fortschritts sich selbst zu verstehen, d. h. Anschluß zu finden an die Wirklichkeit, aus der sie stammt. Fichtes, Stirners, Sartres, Becketts (um nur einige, Philosophen und Dichterphilosophen, zu nennen) «schöpferisches Nichts» ist der Kreuzpunkt, durch den der Mensch zurückfinden kann zum Ursprung dessen, was ihm ermöglicht, sich in der Kontinuität biographischen Werdens als «Ich» zu identifizieren.
Solange der Mensch im Bewußtsein des Menschen als «unbeschriebenes Blatt» mit erblicher Maserung, vom Wind des Zufalls auf den Erdenplan geweht, herumirrt, bleiben Freiheit und Individualität fromme Wunschträume. Der Anarchist, der sich spirituellen Fragestellungen verschließt, gleicht dem Sänger, dem immer im entscheidenden Augenblick die Stimme versagt. Wenn es so wäre, daß das Ausdrucks- und Willenswesen Mensch sich zwar in der Illusion von Autonomie wöge, aber im Prinzip doch immer nur von sich gäbe, was Genese und Milieu ihm diktieren, wäre es berechtigt, die soziale Frage als eine Frage ausgeklügelter Techniken der Massenkonditionierung (vornehmer gesagt: Erziehung) zu behandeln. Wer aber sagt, dies sei nicht berechtigt, muß auch erklären, warum.
»Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen»
Rudolf Steiner
Anmerkungen
[1] In: DIE DREI 3/1987.
[2] «Die Menschheit strebt im Anfang der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.» Wer dieses Gesetz aufmerksam zur Kenntnis nimmt, wird finden, daß damit gesagt ist: Der Mensch wird zunehmend unabhängiger von außerindividuellen Bestimmungen seines Menschseins, d. h. er erleidet Geschichte immer weniger und gestaltet sie immer mehr.
[3] Die eine Tradition führt über den Katholizismus zur modernen Erziehungsdiktatur mit wissenschaftlichem Anspruch; die zweite über gegenkirchliche (ketzerische) Unterströmungen zum Individualismus. Jene ist anfällig für ahrimanische, diese für luziferische Entstellungen. Hiervon wird in einem weiteren, dritten Teil dieser Aufsatzfolge die Rede sein.
[4] J. J. Rousseau, «Du Contract Social» (Gesellschaftsvertrag), Reclam, Stuttgart 1977.
[5] Egon Friedell, «Kulturgeschichte der Neuzeit», Bd. 1 und 2, dtv, München 1976.
[6] John Milton (1604-1674) lebte zur Zeit Hobbes' und galt als dessen Gegenspieler. Er war eine der herausragenden Gestalten des (authentischen) Puritanismus, ein Dichterphilosoph von elementarer und visionärer Kraft, gleichermaßen zu Fanatismus und Freigeistigkeit neigend.
[7] Hans-Heino Ewers (Hrsg.), »Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärungs, Reclam, Stuttgart 1980.
[8] In seinen »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen wird der Gedanke des sozialen Erziehungsauftrags als solcher noch nicht verworfen, aber so deutlich an die individuelle Freiheit gekoppelt, daß er sich eigentlich selbst außer Kraft setzt. Vgl. dazu auch H. Köhler,, ... aber mit der Schönheit spielt er«; in: INFO 3, Heft 11/87.
[9] Vgl. Anm. 5.
[10] In der ungeschminktesten Form bekennt sich hierzu der amerikanische Verhaltenspsychologe B. F. Skinner in seinem Buch «Jenseits von Freiheit und Würde. Dort heißt es: «Wir haben noch lange nicht begriffen, was der Mensch aus dem Menschen manchen kann.» Alle Formen der Manipulation sind erlaubt, wenn sie dem Ziel der Beseitigung menschlicher Destruktivität dienen. Daß in dieser Haltung die Destruktivität gipfelt, sieht Skinner nicht.
[11] Aus: R. Steiner, Aufsätze zur Dreigliederung des sozialen Organismus; dort: «Der Boden der Dreigliederung».
[12] Steiner selbst hat in seinem «Lebensgang»( notiert, daß die ersten Früchte seines erwachenden Interesses für die soziale Frage seine erkenntnistheoretischen Arbeiten waren, insbesondere «Die Philosophie der Freiheit». Diese wäre also in einer Werkbiographie Steiners als Vorbereitung der «Dreigliederung des sozialen Organismus» zu betrachten.
[13] R. Steiner, «Die Philosophie der Freiheit, Kap. «Die Idee der Freiheit».
[14] Siehe Anm. 13, Kap. «Freiheitsphilosophie und Monismus».
[15] Siehe Anm. 11.
[16] Gemeint ist Descartes Ansicht, der Standpunkt konsequenten Zweifelns zertrümmere jede Gewißheit außer der einen, daß ich zweifle, d. h. denke. Daraus resultiert das sog. Descartessche «Cogito»: «Ich denke, also bin ich.«
[17] Leibniz kam zu der Auffassung, alles Existierende, von der kleinsten Einheit bis zum größten Zusammenhang, sei jeweils ein in sich geschlossenes und nur aus sich selbst heraus bestimmtes organisches Kraftfeld, eine «Monade». Keine Monade stehe in einem unmittelbaren Zusammenhang mit irgendeiner anderen, aber jede habe, mehr oder weniger deutlich, eine Art immanentes «Bewußtsein» von allen anderen, also von der ganzen Wirklichkeit. Durch die, wie sich Leibniz ausdrückte, «fensterlosen» Monaden zerfällt die Wirklichkeit auf eine merkwürdige und nur schwer nachvollziehbare Weise in lauter zusammenhanglose Einzelteile, die als zusammenhängend erscheinen, weil sie in ihrer Einsamkeit doch voneinander wissen.
[18] Vgl. «Wir können aus diesem Traum erwachen», Herbert Witzenmann im Gespräch mit H. Köhler; in: INFO 3 Extra/Magazin Herbst 1987 (zum Thema «Reinkarnation().
[19] I. Kant, «Vom ewigen Frieden» (1795).
[20] R. Steiner, «Grundlinien der Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung», Kap. «Die menschliche Freiheit».
[21] R. Steiner, «Die geistige Signatur der Gegenwart» (1888); in GA 30.
[22] R. Steiner, «Die Philosophie der Freiheit», Kap. «Die Idee der Freiheit».
[23] Selbst Bertrand Russell, der nicht leugnete, vom Marxismus stark beeinflußt gewesen zu sein, schrieb in seiner «Philosophie des Abendlandes», der marxistische Geschichtsbegriff sei nicht nur mechanistisch, sondern, genaugenommen ein «Theismus» unter atheistischer Maske.
[24] Wenn unter den «Grünen» auch solche, die mehr oder weniger vom anthroposophischen Sozialimpuls ausgehen, das Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit gleichsetzen mit der Anerkennung eines Gewaltmonopols auf der anderen Seite, ist dies, im Lichte der Dreigliederung, lediglich unsauber gedacht.
[25] «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung», «Wahrheit und Wissenschaft», «Die Philosophie der Freiheit». Ein Kernsatz lautet: «Eine wahrhafte Individualität wird derjenige sein, der mit seinen Gefühlen am weitesten hinaufreicht in die Region des Ideellen» («Die Philosophie der Freiheit»).
[26] Zitiert nach K. König, «Geister unter dem Zeitgeist», Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1973.
[27] Vgl. Anm. 5.
[28] «Was ist eigentlich Anarchie» (ohne Verfasserangabe), Karin-Kramer-Verlag, Berlin 1986.
[29] D. Guerin, «Anarchismus», Suhrkamp, Frankfurt 1967.
[30] R. Steiner, «Die Philosophie der Freiheit», Kap. «Freiheitsphilosophie und Monismus».
[31] M. Nettlau, «Der Vorfrühling der Anarchie», Berlin 1925; zit. nach Anm. 28.
[32] In Dantes «Göttlicher Komödie( wird Gott so besungen: «Oh ew'ges Licht, das du in dir ruhest, allein dich selbst erkennst und dich, erkannt, sowie erkennend, liebest und dir lächelst«.
[33] Vgl. dazu den 4. Vortrag der «Allgemeinen Menschenkunde» von R. Steiner, wo von dem «leise unten anklingenden» Wunsch die Rede ist, sich höherzuentwickeln, auf ein Ideal zu, worin sich Geistselbst-Wirksamkeit äußert, wenn der Mensch Lebensmotive faßt.
[34] J. Hemleben, jenseits, Rowohlt, Hamburg 1975.
[35] Wir werden in einem später folgenden dritten (und letzten Teil) dieser Geschichtsbetrachtungen im einzelnen darauf eingehen.
[die Drei, September 1988, Seite 708]
Für den Druck überarbeitete und ergänzte Fassung eines Vortrages vom 11. April 1986, Novalis-Bühne Stuttgart, und 22. Mai 1987, Podium 3 Karlsruhe.
