Emil Leinhas

01.06.1967

* 4. März 1878 in Mannheim 20. Januar 1967 in Ascona

Bei aller Freundschaft, die Emil Leinhas pflegen konnte, darf man wohl sagen, daß er, was die Anthroposophische Gesellschaft betrifft, seit Jahren einsam gewesen, und daß er auch als ein im Irdischen Einsamer über die Todesschwelle gegangen ist. Es ist das ein Schicksal, das er mit mancher bedeutenden Individualität aus unseren Zusammenhängen teilt, und wir gingen fehl, wenn wir annehmen würden, daß die primären Ursachen dafür in diesen unseren Freunden zu suchen seien. Es entsteht – und aus Anlaß eines solchen Todes ist sie erneut gestellt – die Frage: warum mußten gerade die so einsam sterben, von denen wir wissen, daß sie in einer besonderen Nähe zu

[Mitteilungen, Nr. 80, Johanni 1967, Seite 138]

Rudolf Steiner selbst gelebt haben? Vielleicht verbirgt sich hinter dieser Frage ein für uns alle entscheidend wichtiges soziales Problem!

Emil Leinhas war ein nüchterner Mensch. Ich habe in den über 40 Jahren, die ich ihn kenne, nicht erlebt, daß er sich über die Gesellschaft und über die Welt Phantasien oder gar Phantastereien erlaubte. Ein entschiedenes Sich-in-Verbindunghalten mit der Wirklichkeit war ihm wie eingeboren, und damit erfüllte er eine der wichtigsten Bedingungen für eine Geistesschülerschaft. Rudolf Steiner hat dieses Wesensmerkmal an unserem Freunde hoch geschätzt. In einer Konferenz der ersten Waldorflehrerschaft sagte er, wie Emil Leinhas mir einmal („als Einzigem“, wie er betonte) nicht lange vor seinem Tode mitteilte: „Leinhas ist die Zuverlässigkeit in Person.“

Im beruflichen wie im Gesellschaftsleben war er demzufolge von absoluter Akkuratesse, und wenn er einen Sachverhalt exakt ausgeforscht hatte, dann konnte man erleben, daß er, selbst wenn es ihm persönlich vielleicht »gegen den Strich“ ging, in unbeirrbar gerechter Weise auch die praktischen Konsequenzen zog. Ich halte es für ein ernstes Symptom, daß ein Mensch mit diesen Qualitäten unter uns in Einsamkeit versetzt wurde, zumal Emil Leinhas keineswegs ein Rechthaber und Streithammel war, sondern immer Gelegenheit gab, sich in sachlich-ruhiger Argumentierung auseinanderzusetzen.

Es war im Heidenheimer Arbeitskreis, daß unser Freund seine innere Haltung im sozialen Leben, unabhängig von den Problematiken innerhalb unserer Gesellschaft, in Worte faßte. Er sagte im Anschluß an das „Motto der Sozialethik“ (wie Rudolf Steiner den Spruch „Heilsam ist nur ...“ nannte), wer den Anforderungen des „Gesetzes des Sozialen“ nachkommen will, der

„wird vor allem eines lernen müssen: zu unterscheiden zwischen dem Menschen und seinen Taten. Die Tat eines Menschen muß man unter Umständen hassen, ohne deshalb in der Liebe zu ihm selbst, zu seinem wahren Wesen, nachzulassen. Das ist eine Lebensmaxime, ohne deren strenge Beachtung wir ständig straucheln müssen zwischen der Verletzung echter Menschenliebe und der Anwendung falscher Toleranz“.

Daß ihm sein Denken und Handeln im Sinne einer solchen Maxime keineswegs immer gut bekommen ist, ist bekannt. In Wahrheit hat er aber auch da als Schüler Rudolf Steiners sich verhalten, welcher in einem Brief an die Mitglieder einmal ernstest bemängelte, daß die tätigseinwollenden Freunde „übereinander, über ihre Tätigkeiten für die Gesellschaft usw. Ansichten haben, die bei den Versammlungen gar nicht zur Sprache kommen“, und dann meinte: „Dergleichen in bessere Bahnen zu bringen, müßte ganz unbedingt aus dem Impuls folgen, den die Weihnachtstagung gegeben hat.“ Das Sich-so-Verhalten von Emil Leinhas war – rücksichtslos gegen sich selbst – durchaus auch Treue zu Forderungen, welche die Weihnachtstagung an uns stellt.

Es ist aber dann auch möglich, daß ein solcherart sich an Rudolf Steiner anschließender Mensch in Schwierigkeiten in der Gesellschaft gerät. Denn solche Sätze von Rudolf Steiner in Versammlungen zitieren (so als ob man sie selber bereits verwirklichte) und ihnen, durch und durch verpflichtet, auch in der Praxis nachzuleben, das ist zweierlei. Emil Leinhas aber erlebte sich als ein Rudolf Steiner Verpflichteter, und wer, wie ich, lange in seiner unmittelbaren Nähe lebte, empfing davon Eindrücke für sein ganzes Leben. So hat sich mir auch tief eingesenkt, wie Emil Leinhas die Pflicht auffaßte. Während der Zeit unserer Zusammenarbeit in der Weleda richtete er, einer Anregung Rudolf Steiners in den «Kernpunkten der sozialen Frage» folgend, sogenannte „Werkstunden“ ein. Da erzählte er seinen Mitarbeitern einmal eine Szene, die er offensichtlich miterlebt hatte. Es war eine Versammlung von jungen Leuten, in der ein kecker Sprecher sich an Rudolf Steiner wendete mit der Frage: »Herr Doktor, können Sie uns in drei Worten sagen, was Anthro-

[Mitteilungen, Nr. 80, Johanni 1967, Seite 139]

posophie ist?“ Rudolf Steiner bejahte und antwortete, bei jedem Wort wieder energisch mit dem Knöchel auf den Tisch klopfend: „Pflichterfüllung! Pflichterfüllung! Pflichterfüllung!“

Ein solches Wort, von einem Mann der Pflichterfüllung und der Zuverlässigkeit vermittelt, ist eine wahre Lebensgabe. Und das ganz Besondere dabei ist, daß dieser Mann – eben Emil Leinhas – die Kräfte des Pflegens und der Pflicht ganz und gar in den Dienst dessen stellen durfte, den er als den Größten unserer Zeit erkannte: Rudolf Steiner.

Wie es zu diesem Dienste kam, hat Emil Leinhas manchmal geschildert, und seit 1950 kann es jeder nachlesen in der Autobiographie, welche bezeichnenderweise den Titel trägt: „Aus der Arbeit mit Rudolf Steiner“. [1] Und nicht minder bezeichnend ist das Motto, das der Autor seinem Buche voransetzte:

„Wie wünschenswert ist es nicht
Zeitgenoß eines wahrhaft großen
Mannes zu sein!“

Es ist ein Novalis-Wort.

Emil Leinhas ist ein Sohn der Kaufmanns- und Kunststadt Mannheim, und die Stätte seiner Kindheit war das väterliche Kolonialwarengeschäft, in dem er auch seine kaufmännische Ausbildung empfing. Die Verbindung mit jenem „Soll und Haben“, das ja ein irdisches Abbild des unerbittlich sachlichen und gerechten Karma-Buches im Menschenschicksal ist, ist ihm immer geblieben. Ebenso seine Neigung zur Schriftstellerei, welche auch eine der ersten Fragen, die Rudolf Steiner an ihn stellte, betraf. Emil Leinhas fühlte sich dabei in seiner „heimlichen Neigung zu literarischer Betätigung“ überraschend entdeckt, denn er hatte in seiner Jugend „unter großen Hoffnungen, aber mit geringem Erfolg“ dramatische Versuche unternommen. Der „ausgesprochene Hang zu schriftstellerischer Tätigkeit“ ist ihm bis zuletzt geblieben. Ich sehe ihn noch in seinem Büro auf der Stuttgarter Gänsheide sitzen, über ein Manuskript gebeugt, das mit seinen markanten und akkuraten Schriftzügen bedeckt war, eifrig Korrekturen vornehmend. „Das Wichtigste ist das nachherige Feilen“, erklärte er mir und die Kunst des „Weglassens“. Und ein andermal hielt er mir begeistert eine kleine Vorlesung über den Stil Albert Steffens in dessen Essays, den er bewunderte.

Nun, den jungen Kaufmann zog es nach Hamburg. Das war im Beginn des Jahrhunderts. Aber Emil Leinhas blieb neben der beruflichen Arbeit auch dort den Musen treu. Er nahm Geigenunterricht bei einem begabten jungen Lehrer, der aber plötzlich starb. Dieses Ereignis führte zur großen Wende in seinem Schicksal. „Auf eine höchst merkwürdige Weise“ gelangte Leinhas zu einem neuen Geigenlehrer; der hieß Louis Werbeck. Und fortan ging es nicht nur um Klio, Thalia oder andere Musen, Sophia begann ihm entgegen zu kommen: Spiritismus, Okkultismus und Theosophie traten durch Werbeck in seinen Gesichtskreis, und in der zweiten Hälfte des Jahres 1903, als der inzwischen nach Mannheim Zurückgekehrte zu Besuch in Hamburg weilte, fiel zum erstenmal der Name Rudolf Steiner. Die weitere Entwicklung schildert unser Freund in seiner Biographie. Hier sei nur erwähnt, daß Leinhas 1910 seine erste esoterische Übung von Rudolf Steiner erhielt, 1911 in die esoterischen Stunden (ES) und 1912 in Berlin in den engsten Kreis der Theosophischen Gesellschaft aufgenommen wurde. Wer Emil Leinhas kennt, weiß sicher, daß er auch die solcherart übernommenen Pflichten konsequent erfüllt hat, und ein Beweis dafür ist seine Persönlichkeit selbst. Bis ins höchste Alter hinein konnte man sich, ihm gegenüberstehend, immer sagen: er ist ein konzentrierter, er ist ein im seelischen Gleichgewicht lebender, er ist ein willensgezügelter Mensch.

Schon damals aber hatte das Mitgliedsein von Emil Leinhas eine besondere Note. In seiner Biographie sagt er darüber: „Von Anfang an interessierte ich mich außerordentlich für die immer wieder auftauchenden Probleme des Lebens der Gesellschaft. Im Zusammenhang damit hatte ich schon sehr früh wiederholt Gelegenheit zu persönlichen Besprechungen mit Rudolf Steiner.“ Das soziale Element einer Gesellschaftsbildung fesselte ihn, und tief schlug auch in seine Seele ein, was Rudolf Steiner zu den sozialen Problemen im Großen zu sagen hatte. Schon der 27jährige hatte das „Soziale Hauptgesetz“ als Leser der Zeitschrift «Luzifer-Gnosis» in sich aufgenommen, und auf das Nachhaltigste wurde dann der in der Lebensmitte Stehende beeindruckt, als er Rudolf Steiner 1914 in Wien über das „soziale Karzinom“ sprechen hörte, wo das der Formkraft entbeh-

[Mitteilungen, Nr. 80, Johanni 1967, Seite 140]

rende Wirtschaftsleben unserer Zeit als organismusfeindlicher Zellwucherungsprozeß geschildert wird. „Einen tiefer erschütternden und zugleich schwerste Besorgnis erregenden Eindruck als gerade von dieser Stelle und dem ungeheuren Ernst, in dem sie von Rudolf Steiner damals vorgebracht wurde, kann ich mich kaum erinnern, jemals empfangen zu haben.“

So wurde Emil Leinhas, der im kaufmännischen Leben schon große Stellungen eingenommen hatte, vorbereitet, um auch im Dienste Rudolf Steiners für große Aufgaben befähigt zu werden. Diese Vorbereitung fand ihre Fortsetzung während des Krieges in Berlin, wohin Rudolf Steiner häufig kam, als Leinhas im Preußischen Kriegsministerium und später im Kriegsernährungsamt tätig war. Er besuchte alle Vorträge, welche damals veranstaltet wurden, und nach denselben ging Rudolf Steiner – so ist es in der Biographie geschildert – „regelmäßig zunächst auf Dr. Friedrich Rittelmeyer und dann auf mich zu“, und es wurden die Zeitereignisse besprochen. Das war zweifellos eine großartige Einführung in das Weltgeschehen aus dem berufensten Munde. Spirituelle Gesichtspunkte und äußeres Ereignis schlossen sich zusammen.

Als nach dem Kriege Rudolf Steiner seine Tätigkeit im Sozialen und (im wahren Sinne) Politischen von Stuttgart aus ins öffentliche und Große trieb, war bald auch Emil Leinhas an seiner Seite. Emil Molt berief ihn, den Nichtraucher, in sein Zigaretten-Unternehmen „Waldorf-Astoria“. Rudolf Steiner hat dieses Engagement offensichtlich begrüßt. In einem Brief an Molt vom 16. Februar 1919 sagt er:

„Nun, was die Frage Leinhas betrifft, so glaube ich allerdings, daß er sich geschäftlich in Ihre Verhältnisse gut hineinfinden würde; er ist, wie ich meine, umsichtig und mit der Fähigkeit der Initiative ganz vorzüglich begabt.“
„Ich kann also wohl wagen, daß Sie mit ihm eine gute Aquisition machen würden in jeder Beziehung.“

Und im Folgenden wird noch betont, daß „Herr Leinhas für die jetzt von uns in Szene gesetzte Sache (gemeint ist die Dreigliederungs-Bewegung) auch stark in Betracht kommt“.

Wie stark Emil Leinhas dann tatsächlich „in Betracht“ kam, das hat Herbert Hahn in seinem besonderen Gedenkblatt dargestellt. Er war ja schon beim Sammeln von Unterschriften für den „Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt“ aktiv geworden, als er versuchte, den bekannten Staatsrechtler Professor Stammler, den Freund Christian Morgensterns Friedrich Kayssler, den frühen Berliner Freund Rudolf Steiners John Henry Mackay durch persönliche Besuche zu gewinnen und auch mit dem späteren Staatssekretär von Bülow im Auswärtigen Amt verhandelte.

Aber die „Volksbewegung“ für die soziale Dreigliederung, wie Emil Leinhas sie nennt, mußte abgebrochen werden. Was er über diese Zeit aus intimer Kenntnis in seinem Buche niedergelegt (und mit Dokumentenbeigaben versehen) hat, muß wohl als eine, wenn nicht die Hauptquelle für eine künftige Geschichte der sozialen Dreigliederung bezeichnet werden. Mit welcher inneren Einstellung der damalige Einsatz von den beteiligten Freunden, insbesondere auch von Emil Leinhas gemacht worden ist, das charakterisiert er selbst mit den Worten:

„Für uns war es eine unerschütterliche Überzeugung, daß, wenn jetzt die Idee der Verselbständigung der drei großen Gebiete des geistig-kulturellen, des wirtschaftlichen und des öffentlich-rechtlichen Lebens keinen Eingang finden würde in die Köpfe und Herzen der Menschen und dadurch allmählich auch in die Praxis des sozialen Lebens, daß dann etwas versäumt würde, was wahrscheinlich, wenn überhaupt, so doch jedenfalls erst in langer Zeit wieder gutzumachen sein würde. Für uns bestand nicht der geringste Zweifel darüber, daß der geschichtliche Augenblick benutzt werden müsse, wenn nicht schon bald neues Unheil und neue Katastrophen über die Menschheit hereinbrechen sollten.“

Der Einsatz scheiterte, einerseits an der Widrigkeit der Umstände, andererseits aber auch, wie Emil Leinhas mehrfach betont, an der Unzulänglichkeit der Mitarbeiter Rudolf Steiners. „Aber der Keim mußte einmal gelegt werden“ hat Rudolf Steiner später zu Professor Wohlbold gesagt. Und bei diesem Keimlegen, bei dieser Impfung der Erde mit dem dreifältigen Himmelsimpuls, war Emil Leinhas als an einem welthistorischen Geschehen, dessen wahre Bedeutung sich erst in Zukunft erweisen wird, an hervorragender Stelle beteiligt. Sein Karma reifte in diese bedeutungsvollen Ereignisse hinein.

Aber eine ganz besondere Probe der Bewährung war ihm noch aufgespart. Die Aktiengesellschaft „Der kommende Tag“ war als ein Unternehmen zur Förderung wirtschaftlicher und geistiger Werte begründet worden. Nicht aus der Initiative Rudolf Steiners! Aber als das Schiff zu

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sinken drohte, fühlte dieser sich aufgerufen, für die Begründung der anderen einzustehen. Die verschiedenen Firmen, die in der Gesellschaft juristisch zusammengeschlossen wurden, waren so heterogener Art, daß schwerlich von einer eigentlichen „Assoziation“ gesprochen werden konnte. Das eigentliche Assoziieren bezog sich eher auf das Verbinden von ertragbringender Wirtschaft auf der einen und zuschußbedürftigen geistigen Unternehmungen wie Forschungsstätten, Klinik und Waldorfschule auf der anderen Seite. Wenn aber die wirtschaftlichen Betriebe die notwendigen Erträge für die geistigen Unternehmen nicht mehr liefern konnten, war die Grundidee im Mark getroffen. Das aber trat ein, und Emil Leinhas wurde Generaldirektor des Gesamtunternehmens, als die Situation bereits kritisch geworden war. Ihm oblag dann später die Liquidation, die er noch bis in seine Weleda-Zeit hinein durchzuführen hatte.

Der kritischste Punkt aber wurde das schweizerische Schwesterunternehmen „Futurum A. G.“, dessen Zusammenbruch das Ansehen Rudolf Steiners und der gesamten Bewegung auf das Schwerste geradezu weltöffentlich hätte schädigen müssen. Die Folgen für alles weitere Wirken Rudolf Steiners wären unabsehbar gewesen. Da unterstützte ihn in der Schweiz ein junger Kaufmann, Edgar Dürler, dem Rudolf Steiner, wie er sich etwa ausdrückte, dann Emil Leinhas „beigeben“ wollte. Emil Leinhas' Einsatz in diesen Dingen war rückhaltlos. Und er war erfolgreich: die ungeheure Gefahr, die über Rudolf Steiner und über der Bewegung schwebte, konnte abgewendet werden. Die Sorge, die damals Emil Leinhas trug, ist für uns schwer nacherlebbar. Aber unermeßlich war die zu tragende Last für Rudolf Steiner, welcher in jener Zeit – wegen des mangelnden Verständnisses der Mitglieder – um das Existierenkönnen der Anthroposophie auf der Erde bangen mußte, vor dessen Augen zu Silvester 1922 das Goetheanum niederbrannte, und dem zugleich noch die Sorge für den Fortgang der jungen Waldorfschule, wie der Bewegung überhaupt oblag. Edgar Dürler schreibt zur Charakterisierung der Lage Rudolf Steiners in einem Brief an mich:

„Man muß in diesen Dingen miterlebend drinnengestanden haben, um zu ermessen, was es heißt, nach Gesprächen über sozusagen ausweglos erscheinende Situationen (der wirtschaftlichen Betriebe und ihrer Finanzmisere) dann doch plötzlich vom Rednerpult aus einer geistigen Welt Gelegenheit zu bieten, sich in der grandiosesten Weise zu manifestieren.“

Was Rudolf Steiner damals durchleben mußte, können wir, wie gesagt, nicht ermessen. Aber wir können nachfühlen, was es für ihn bedeutete, in solcher Lage die „Zuverlässigkeit in Person“ unverbrüchlich an seiner Seite wissen zu können. So kommt es, daß Rudolf Steiner, der damals so viel bittere Klage über Menschen und Verhältnisse auszusprechen hatte, immer wieder betonte: „Herrn Leinhas nehme ich dabei aus.“

Emil Leinhas war damals unentwegt in der Nähe Rudolf Steiners. Sie fuhren gemeinsam im Auto zwischen Stuttgart und Dornach hin und her, und unser Freund wurde dabei zum engsten Vertrauten, der schonungslos auch alles entgegennehmen mußte, was Rudolf Steiner über einzelne seiner Mitarbeiter dachte und empfand. Es ehrt Emil Leinhas, daß er diese Kenntnisse in sich verschwieg und bewahrte.

Ist ein solcher Beweis des Vertrauens schon ein Lohn in soviel Sorge, Ärger und Mühe gewesen, so gab es noch ein anderes Äquivalent dafür: Emil Leinhas war häufiger Gast bei den Mahlzeiten in «Villa Hansi». Es war etwas Schönes, wenn man ihn davon erzählen hörte. Besonders liebevoll geschah das hinsichtlich einer Szene zwischen Rudolf und Marie Steiner, die er, selber geradezu zart werdend, hin und wieder berichtete.

Hier sei sie in seinen eigenen Worten aus seiner Biographie wiedergegeben:

„Rührend war einmal folgende Szene: Beim Abendessen wurden die Vorbereitungen besprochen zu einer am nächsten Tag stattfindenden Trauung, an der von der Seite des Bräutigams eine gräfliche Familie beteiligt war. Man kam dabei auch auf den standesamtlichen Akt zu

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sprechen. Marie Steiner fragte: ,Was hat man dort eigentlich zu tun?‘ – ,Nun,‘ sagte Rudolf Steiner, man muß sagen, daß man sich liebhat‘. Marie Steiner machte große Augen. Sie war ganz erstaunt und sagte: ,Aber, das haben wir doch nicht getan!‘ – Rudolf Steiner legte seine Hand auf die ihre, streichelte sie zärtlich und sagte ganz langsam und mit einschmeichelnder Stimme: ,Doch, das haben wir auch getan!‘ “

Aber auch ein Wort wie dieses hörte er mit an:

„Marie Steiner äußerte einmal aus irgendeinem Anlaß bei Tisch, sie wünsche sich nicht, daß sie Rudolf Steiner überleben müsse; sie könne sich das gar nicht denken. ‚Doch,‘ sagte Rudolf Steiner, Sie werden noch einmal meinen Namen retten müssen!‘ Als ich Marie Steiner im Jahre 1948 daran erinnerte, äußerte sie: ,Ja, er hat es mir wiederholt gesagt; einmal schon in Berlin!‘ “

Viele Funktionen hat Emil Leinhas in seinem Leben ausgeübt. Bis 1935 war er Direktor der deutschen Weleda, deren ersten Aufbau er geleitet hat, daneben war er Mitredakteur an der Zeitschrift „Anthroposophie“, und war auch selber beitragend dafür tätig. Gleichzeitig machte er die Liquidationsarbeit der A. G. „Der kommende Tag“, und außerdem war er Vorstandsmitglied der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Auch die Schulbewegung hat ihm viel zu danken. Von 1935 ab widmete er ihr einen Großteil seiner Kräfte. Wir haben oft seinen immensen Fleiß bewundern müssen, dazu die Ruhe und Gelassenheit, in der sich all seine Wirksamkeit vollzog. Er führte – eine wichtige Bedingung für alle Geistesschüler – ein bewußt regelmäßiges Leben, was ihm wohl auch die erstaunliche Gesundheit verlieh, über die er bis in die letzte Lebenszeit verfügte.

In seiner Seele aber lebte die ganze Geschichte einer anthroposophischen Bewegung innerhalb einer anthroposophischen Gesellschaft. Es gibt meines Wissens in unseren Tagen niemanden, der diese Geschichte vom Beginn des Jahrhunderts bis an die Schwelle seines letzten Drittels so mit ganzer Seele und an solcher Stelle mitgelebt und mitgetragen hat. Unendlich viel Leid ist auf diesem Wege in ihn eingezogen. Es ist ein Leid, das ihn schließlich einsam werden ließ. Aber selbst seine heftigsten Gegner werden seinen aufrechten Charakter nicht anzweifeln können und wollen, sein unantastbares Wahrheitsstreben, seinen Gerechtigkeitssinn und sein im Innersten immer verbindlich bleibendes Wesen.

Nun aber, so darf man, glaube ich, sagen, ist sein Beiseitestehen zu Ende. Über 60 Jahre Erdengeschicke der Anthroposophie trägt er hinauf, und er kann seinem Lehrer sein Innerstes öffnen gerade auch in Bezug auf die Ereignisse in den 42 Jahren nach dessen Tod. Es wird Zukunft daraus hervorgehen.

Als wir im Heidenheimer Arbeitskreis ihn in unserer 52. Tagung Ende Oktober 1966 noch einmal sahen, meldete er sich bei der Besprechung unseres Hauptthemas zu Wort und berichtete aus dem, was er über die kommende Steigerung des Materialismus bis ins 21. und 22. Jahrhundert hinein bei Rudolf Steiner studiert hatte. Am Schluß wollte er aber auch von einer spirituellen Gegenkraft sprechen, und er meinte damit die Welt der Toten. Als er an einer Stelle in großer Bewegung, in einer an ihm ungewohnten Weise von „unseren lieben Toten“ sprach, die den auf Erden Lebenden helfen würden, vibrierte seine Stimme, und man fühlte deutlich: dieses Wort ist sein Vermächtnis. Nun gehört er selber dieser Welt an, aus der uns von den mit den Hierarchien in Verbindung Stehenden immerdar Hilfe kommen kann. Sie suchen ja noch immer, ja nun erst recht, „die menschlichen Ziele“.

Nicht oft hat Emil Leinhas anderen sein Innerstes geöffnet. Es gibt aber ein Ereignis, das ihm die Zunge löste: der Brand des Goetheanum. Auch ihn hat er miterlebt. Damals schrieb er in sein Tagebuch:

„Die hölzernen Säulen kämpfen einen heldenhaften Kampf gegen die finsteren Höllenmächte. Morgens um sieben Uhr fällt auch die letzte, die Jupitersäule.
Erschöpft werfe ich mich auf mein Lager.
Nach einer Stunde erwache ich wieder. Wie aus Gewohnheit richtet sich mein Blick vom Bett hinauf zum Bau. –
Er ist nicht mehr. Nur dünner Rauch steigt auf.
Da übermannt mich der Schmerz. –“

Aber er schrieb in unmittelbarer Nachbarschaft zu diesen Worten auch das Folgende:

„Die Augen starren in das erbarmungslos wütende Flammenmeer. Doch der Blick ist in die

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Ewigkeit gerichtet. Die Freunde wissen: Was dort in Flammen untergeht, ist nicht verloren. Der zerstörte Bau wird zum Tempel werden in ihren Herzen.“

Ein Jahr später hat Rudolf Steiner dann den physischen Grundstein samt dem Bau, der daraus erwachsen war, in einen geistigen Grundstein verwandelt. Was Emil Leinhas damals durch die verzehrenden Flammen hindurch erlebte, war wie eine Vorahnung dieses Kommenden. Und darin ist er mit Rudolf Steiner, mit allen uns vorangegangenen Toten und auch mit uns vereinigt.

Anmerkungen

[1] Emil Leinhas «Aus der Arbeit mit Rudolf Steiner. Sachliches und Persönliches». R. G. Zbinden & co. Verlag, Basel 1950.

[Mitteilungen, Nr. 80, Johanni 1967, Seite 144]