Dreigliederung und Oberschlesien

05.04.1921

Quelle
Zeitschrift „Dreigliederung des Sozialen Organismus“
2. Jahrgang, Nr. 40, 05.04.1921, S. 3–4
Bibliographische Notiz

Die Göttinger Protestversammlung wegen dem angeblichen Landesverrat des Bundes für Dreigliederung hat insofern ein kleines Nachspiel gehabt, als nach dem Bericht des „Göttinger Tageblattes“ im „Göttinger Stadtparlament“ sich ein Stadtabgeordneter, Herr Heins, gegen das Verbot der von uns auf Samstag, den 26. Februar, angesagten Protestversammlung durch Herrn Polizeipräsident Dr. Warmbold wandte mit der Begründung, daß dieses Verbot den Unwillen weiter Kreise erregt habe, da man uns damit die Gelegenheit zur Rechtfertigung genommen habe. „Die Anthroposophen wären in der Stadtparkversammlung in den Grenzen des Anstandes geblieben, während ihre Gegner sie mit Gewalttätigkeiten bedroht hätten.“ Herr Dr. Warmbold hat in seiner Erwiderung den Satz ausgesprochen: „Der Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus wollte nichts anderes als die Abstimmung in Oberschlesien verhindern.“ Dieser Satz allein zeigt, wie wenig Gewissenhaftigkeit man gegenüber „Anthroposophie“ nötig zu haben meint, selbst wenn es sich um eine Angelegenheit handelt, von der die Öffentlichkeit bezüglich ihres wahren Sachverhaltes orientiert zu sein wünscht. Die Anfrage des Herrn Heins zeigt, daß weite Kreise der Bevölkerung in Göttingen eine Aufklärung über die oberschlesische Frage seitens des Bundes gewünscht haben. Herr Dr. Warmbold überging in seiner Antwort den Kernpunkt der an seine Adresse ergangenen Anfrage und behauptete, der Bund habe die Abstimmung verhindern wollen. Mit dieser vorn Kernpunkt abweichenden Auskunft legte Herr Dr. Warmbold nur den Beweis ab, wie wenig er orientiert war über die eigentlichen Absichten des Bundes. Er machte geltend, daß der Göttinger Staatsanwalt geschwankt habe, ob er die Veranstalter nicht wegen Hochverrats verhaften lassen solle. Daß es nicht dazu kam, ist wiederum nur ein Beweis, daß die Staatsanwaltschaft nicht jede Objektivität verloren hatte, wie dies bei Herrn Dr. Warmbold der Fall gewesen zu sein scheint.

Es hat sich bei der oberschlesischen Aktion darum gehandelt, einen anderen, weitsichtigeren Weg zur Lösung der oberschlesischen Frage vorzuschlagen, als es durch die Abstimmung der Fall war. Gegenüber dem Faktum der Abstimmung hat der Bund keine andere Haltung eingenommen, als gegebenenfalls die Stimme für Deutschland abzugeben, und die Bundesleitung hat Anfragen, die an sie ergangen sind, strikte damit beantwortet, daß jeder Stimmberechtigte selbstverständlich die Pflicht der Abstimmung zu erfüllen habe und für Deutschland stimmen müsse. Allein jeder Einsichtige wird zugeben, daß durch die vollzogene Abstimmung die oberschlesische Frage nicht gelöst ist. Ob die Zeitungsberichte über die Unruhen in Oberschlesien übertrieben sind oder nicht, kommt hier nicht in Frage, sondern es handelt sich darum, ob durch die Abstimmung etwas geschehen ist, wodurch die oberschlesischen Verhältnisse in einem günstigen, von Deutschland erwünschtem Sinne geordnet werden können.

Die Abstimmung als Zahlenergebnis hat für Deutschland ein sehr befriedigendes Resultat gehabt, aber gerade dieses Resultat spricht außerordentlich deutlich für die dreigliedrige Lösung. Schon jetzt zeigen sich große Komplikationen auf dem wirtschaftlichen Gebiet, welche gerade durch die Abstimmung entstanden sind. In den „Basler Nachrichten“ wird von dem Berliner Berichterstatter dieses Blattes über die Unteilbarkeit Oberschlesiens als einer Frage gesprochen, die sehr bald akut werden wird. Der Berichterstatter führt u. ä. folgendes aus:

„Der Felderbesitz der großen Bergbaugesellschaften erstreckt sich fast durchweg über mehrere Kreise, so der staatliche Bergwerksbesitz über die Kreise Hindenburg, Tost-Gleiwitz, Rybnik, Pleß. Der Besitz der Kattowitzer Aktiengesellschaft für Bergbau und Eisenhüttenbetrieb liegt in den Kreisen Kattowitz, Beuthen, Pleß und Rybnik, der Fürstlich Donnersmarcksche Besitz in den Kreisen Beuthen, Tarnowitz und Rybnik, der der Bergwerksgesellschaft Georg von Giesche Erben in den Kreisen Kattowitz, Gleiwitz und Pleß. Die Vereinigte Königs- und Laurahütte Aktiengesellschaft betreibt Bergbau in den Kreisen Kattowitz und Rybnik. Diese wenigen Beispiele zeigen, daß dem Felderbesitz im Zentral- bzw. Ostrevier ebensolcher Besitz in den Südkreisen Pleß und Rybnik korrespondiert. Ein und dieselbe Gesellschaft hat Gruben gleichzeitig im Zentrum, im Osten und im Süden in Betrieb. Wie könnte man solchen wirtschaftlichen Besitz auseinanderreißen ?“ Weitere Beispiele werden noch angeführt in bezug auf die Eisen- und Zinkindustrie, die gemeinsame Versorgung mit Trink- und Nutzwasser, die elektrische Energie.

Gerade die wirtschaftlichen Realitäten zeigen, daß durch die Abstimmung eine Regelung nicht erzielt werden kann, sondern daß gerade durch sie das große Problem der wirtschaftlichen Unteilbarkeit aufgerollt wird. An diesem schwierigen, durch die wirtschaftlichen Realitäten geschaffenen Punkt ist die einzig mögliche Lösung durch die Dreigliederung für jeden unbefangen Urteilenden mit Händen zu greifen. Gegenüber dem vom Staatlichen abgelösten und verselbständigten oberschlesischen Wirtschaftsleben, das sich in Assoziationen gliedert, wird das jetzt durch die Abstimmung geschaffene Problem der Unteilbarkeit gegenstandslos, weil auf diesem Wege ein einheitliches, in sich zusammenhängendes oberschlesisches Wirtschaftsleben geschaffen würde, innerhalb dessen die deutsche Wirtschaftskraft und Fähigkeit sich am aller intensivsten entfalten und bewähren kann und daher gesundend auf die übrige deutsche Wirtschaft zurückwirken würde. Ähnlich verhält es sich mit dem verselbständigten Geistesleben, wenn auch das Problem hier nicht in der gleichen Weise in Frage steht wie auf dem Wirtschaftsgebiete. Deutsche Schulen bestehen neben ben polnischen Schulen, deutsche Rechtsprechung neben polnischer Rechtsprechung und im freien Spiel der Kräfte muß sich der Überlegenere bewähren. Gerade wer an den deutschen Geist in Wahrheit glaubt, wird einem solchen freien Spiel der Kräfte ohne jede Besorgnis für das deutsche Geistesleben und die deutsche Kultur entgegensehen können. Daß bei einer solchen Regelung das eigentlich Staatlich-Politische erst recht in gesunder Weise sich wird entwickeln können, muß jedem einleuchten, dessen Urteil sich auf Realitäten stützt und nicht auf Abstraktionen, denn durch die Verselbständigung der beiden anderen Glieder des sozialen Organismus (Geistes- und Wirtschaftsleben) kann eine Verständigung und Regelung auf diesem Gebiete überhaupt erst zustandekommen.

Die aus der Abstimmung sich ergebenden Probleme zeigen, wie gerade durch die Abstimmung an der Wirklichkeit vorbeigehandelt wird. Zwischen Gebiete, welche wirtschaftlich betrachtet unteilbar sind, wird eine politische Grenze gezogen, wodurch diese Gebiete künstlich zerrissen und der Wirtschaftskreislauf unterbunden wird. Wer eine solche Lösung für eine Illusion halten muß und einen Weg zeigen will, der mit den wirtschaftlichen Realitäten rechnet, das heißt eine Lösung vorschlägt, durch welche das oberschlesische Wirtschaftsgebiet nicht nur intakt bleibt, sondern zu einer allseitigen gesunden Entfaltung seiner Kräfte erst recht kommen kann, wird kurzerhand als Landesverräter bezeichnet.

Das ist die kurzsichtige Politik, welche bloß auf Tagesbedarf hinarbeitet und die Deutschland in den Zusammenbruch hineingeführt hat. Diese Politik wird in das volle Chaos hineinführen, wenn an ihre Stelle nicht eine weitsichtige Ideenpolitik gesetzt wird, welche deutschem Wesen und Geist allein angemessen ist und auf welche

[Dreigliederung des Sozialen Organismus, 2. Jahrgang, Nr. 40, 05.04.1921, Seite 3]

die außerdeutsche Welt immer wartet, weil sie nur einem geistigen Deutschland Vertrauen schenken kann.

Eine Erklärung und Berichtigung des Herrn Professor Fuchs in Göttingen

Herr Professor Fuchs in Göttingen ersucht uns um die Aufnahme der nachfolgenden Erklärung und Berichtigung:

„Erklärung und Berichtigung

Zu dem in Nr. 36 des Wochenblattes „Dreigliederung des sozialen Organismus“ vom 8. März d. J. enthaltenen, gegen mich gerichteten Artikel des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus „Alldeutsche Hetze des Prof. Fuchs in Göttingen gegen die Dreigliederung“ habe ich folgendes zu erklären:

  1. Nicht die Tätigkeit der Breslauer Ortsgruppe des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus schlechthin hat den Ausgangspunkt meines Angriffes gebildet, sondern der in Nr. 31 des 2. Jahrganges der Wochenschrift „Dreigliederung des sozialen Organismus“ enthaltene Aufsatz von Karl Heyer „Der Weg zur Lösung der oberschlesischen Frage“ und das, was darin über die Tätigkeit der Breslauer Ortsgruppe des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus mitgeteilt worden ist.
    In diesem Aufsatz des Herrn Karl Heyer heißt es u. a. wörtlich: „Die Angliederung an einen der bestehenden Einzelstaaten würde es nun aber den Oberschlesiern unmöglich machen, ihre Angelegenheiten in gesunder Weise, d. h. im Sinne der Dreigliederung zu regeln, und so gelangt der Aufruf zu der Forderung einer vorläufigen Ablehnung der Angliederung an einen angrenzenden Staat, bis dort selbst ein Verständnis für die Dreigliederung erweckt ist.“
    Mit diesen Sätzen ist klipp und klar gesagt, nicht etwa daß – wie jetzt behauptet wird – die Abstimmung in Oberschlesien verschoben werden solle, bis in Oberschlesien die Dreigliederung durchgeführt sei, sondern daß die Angliederung an einen der angrenzenden Staaten, also auch an Deutschland, abgelehnt werden solle, bis dort (d. h. also in einem der angrenzenden Staaten) Verständnis für die Dreigliederung erweckt sei. Mit anderen Worten : Wenn etwa in hundert Jahren in Deutschland noch kein Verständnis für die Dreigliederung erweckt sein sollte, so wäre auch so lange die Angliederung Oberschlesiens an Deutschland abzulehnen ; sollte aber etwa vorher in Polen Verständnis für die Dreigliederung erweckt sein, so wäre Oberschlesien an Polen anzugliedern.
  2. Falsch ist, daß irgendwelche persönliche Gegnerschaft mich zu meiner Stellungnahme veranlaßt hat. Richtig ist, daß lediglich der bereits angeführte Aufsatz des Herrn Heyer und sein Inhalt und der darin zutage getretene Verrat am Deutschtum, der bei einer Wirkung desselben hätte eintreten müssen, mein Vorgehen bestimmt hat.
  3. Falsch ist, daß die Protestversammlung in Göttingen von mir einberufen worden ist und falsch sind daher auch alle die an diese falsche Prämisse geknüpften Schlußfolgerungen und Verdächtigungen meiner persönlichen Tätigkeit. Meine Tätigkeit in dieser Angelegenheit hat sich in der Hauptsache beschränkt auf die Feststellung des in dem genannten Artikel Heyer über Oberschlesien Mitgeteilten in der Diskussion zum Vortrage des Herrn Dr. Boos. Wenn also Fehler bei der Einberufung dieser Protestversammlung wirklich gemacht worden wären, so fielen sie doch nicht mir zur Last.
    Eine eingehende Richtigstellung und Klarlegung dieses Sachverhaltes wird Ihnen von den Einberufern der Versammlung selbst zugehen.
  4. Falsch ist, daß der Göttinger Polizeidirektor Warmbold ein Freund von mir ist. Richtig ist, daß ich, solange ich in Göttingen bin, mit Herrn Warmbold nur ein- oder zweimal in rein dienstlicher Angelegenheit ganz kurz gesprochen habe.

Göttingen, den 21. März 1921.

Professor Dr. H. Fuchs.“

Wir nehmen Veranlassung, hiezu das Folgende zu bemerken:

Zu Punkt I: Der Artikel von Karl Heyer, auf den sich Prof. Fuchs beruft, bezog sich gerade auf die Aktion unserer Breslauer Ortsgruppe und ist ein Bericht über die Tätigkeit der letzteren. Was Herr Prof. Fuchs in dieser Beziehung vorbringt, ist also ein leeres Spiel mit Worten.

Zu Punkt 2: Persönliche Gegnerschaft, behauptet Herr Prof. Fuchs, sei es nicht gewesen, die ihn veranlaßt habe, den Vorwurf des Landesverrates zu erheben. Diese Behauptung entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn man weiß, daß die persönliche Gegnerschaft des Herrn Prof. Fuchs überhaupt den Ausgangspunkt gebildet hat zu allem, was sich seit dem Sommer 1920 in Göttingen zugetragen hat und das dokumentarisch belegt werden kann. Man vergleiche auch die von uns in Nr. 38, S. 3, wiedergegebenen Äußerungen der „Göttinger Zeitung“.

Zu Punkt 3 erwidern wir Herrn Professor Fuchs, daß es uns nicht interessiert, ob er in der Hauptsache oder in der Nebensache in der von uns berührten Weise tätig gewesen ist. Wir halten dies für eine lediglich akademische Frage.

Zu Punkt 4: Herr Prof. Fuchs wird nicht beweisen können, daß er an dem Verbot der Gegenversammlung unbeteiligt gewesen ist, nachdem er als erster die Anklage des Landesverrates erhoben hat. Wenn er eine freundschaftliche Verbindung mit Herrn Dr. Warmbold ablehnt, so ist zum mindesten die sachliche Verbindung erwiesen.

Die Schriftleitung