Birkenrinde schafft Arbeitsplätze

05.09.2006

Studenten aus Deutschland bauten Manufaktur für traditionelle sibirische Produkte in heilpädagogischem Dorf bei Irkutsk auf – Einweihung nach nur zwei Monaten

Berlin (NNA). Bei der Waldorf-Aktionswoche in Stuttgart 2004 entdeckte NNA-Reporterin Cornelie Unger-Leistner einen Stand, an dem ein begeisterter junger Mann über die Waldorfprojekte in Sibirien informierte. Schnell war der Kontakt geknüpft und beschlossen, dass er seine Erlebnisse als Praktikant bei der Talisman-Initiative in der Nähe von Irkutsk für NNA aufschreiben sollte. Heute zeigt sich, dass Sibirien Jakob Steigerwald - der inzwischen Student ist – nicht mehr loslässt. Hier sein neuer Bericht von einer weiteren Sibirienreise, an deren Ende eine neue Manufaktur für die sozialtherapeutischen Werkstätten der Initiative entstanden war.

Es ist der 1. Februar 2005. „Davaitje vstavat, bistro!“ (russ.: „Los aufstehen, schnell!“) schallte es durch die aufgerissene Abteiltür, und schon war sie wieder verschwunden, die Waggonschaffnerin. Wir befanden uns in einem Abteil der transmongolischen Eisenbahn auf dem Weg in die sibirische Stadt Irkutsk. Wenn ich „wir“ sage meine ich meinen Freund und Kollegen Tim und mich.

Ich schaute auf meine Uhr: halb sechs morgens - anderthalb Stunden bis Irkutsk, Verspätung noch gar nicht eingerechnet. Ich wollte noch mindestens 85 Minuten schlafen, aber unsere liebe Waggonschaffnerin kannte keine Gnade. Wer aussteigen muss, wird früh geweckt, ob er will oder nicht. Während sich der Zug durch die schneebedeckte Taiga des Baikalgebirges schlängelte, ließ ich mir noch einmal alles durch den Kopf gehen.

Vor ziemlich genau einem Jahr war ich zum ersten Mal in das sozialtherapeutische Dorfprojekt Pribaikalskij Istok bei Irkutsk gekommen. Zusammen mit Tim, der bereits ein halbes Jahr vor mir dort angefangen hatte, verbrachte ich dort entbehrungsreiche, aber auch sehr schöne und spannende sechs Monate.

Das kleine Dorf 50 km nördlich von Irkutsk entstand im Jahr 2000 durch eine Initiative von Eltern behinderter Kinder aus Irkutsk. Mittlerweile wird es von dreizehn Betreuten und ungefähr acht Betreuern bewohnt. Gearbeitet wird im Haushalt, einer Töpferwerkstatt, im Garten, in der Tierhaltung und einer Holzwerkstatt.

Gegen Ende unseres ersten Aufenthalts in Sibirien brachte uns Joachim Heinz, ein aus Deutschland stammender Irkutsker Unternehmer, auf eine Idee, die uns beide gleichsam befeuerte, wieder hierher zurückzukehren. Er schlug vor, in dem Dorf traditionell sibirische Birkenrindengefäße zu produzieren und diese dann in Deutschland auf den Markt zu bringen. So könne das Dorf durch eigene Produkte ein festes Einkommen erhalten. Den Aufbau der hierfür notwendigen Einrichtungen wie einer Produktionslinie in „Istok“ und einer Handelsfirma in Deutschland überließ er uns.

Solch bescheidene Aufgaben bekommt man natürlich nicht tagtäglich, so dass wir der neuen Herausforderung mit großer Motivation entgegen gingen. Da wir beide keinerlei Ausbildung besaßen, mussten wir uns alle Fertigkeiten selbst aneignen oder Experten zu Rate ziehen. Die wichtigsten Werkzeuge und Konstruktionsteile besorgten wir schon in Deutschland, denn in Russland gibt es den Satz „ich geh mal schnell zum Baumarkt“ in dieser Form einfach nicht. Zumindest das Attribut „schnell“ sollte man weglassen. Auf den russischen Heimwerkermärkten findet man zwar viel, aber grundsätzlich nur das, was man gerade nicht braucht.

Nun hatten wir uns in der Mongolei getroffen, um noch eine Woche gemeinsamen Urlaub zu verbringen. Unsere Zeit, die neue Manufaktur aufzubauen, war auf genau zwei Monate begrenzt, da wir beide zum Sommersemester mit dem Studium anfangen wollten.

Ein ohrenbetäubendes Quietschen signalisierte die Ankunft in Irkutsk. Wie herrlich: wieder der erste Atemzug sibirische Luft. Ein kristallklarer, eisig-kalter Morgen erwartete uns. Wir schlenderten durch die raureifbedeckten, mit Bäumen gesäumten Strassen von Irkutsk. Die kleinen Holzhütten duckten sich unter der Last des Schnees, an ihre Fenster hatte der Winter bizarre Eisblumen gemalt.

Unser erstes Ziel war die unserem Dorf angeschlossene Schule „Pribaikalskij Talisman“. Hier lernen behinderte Kinder aus Irkutsk lesen und schreiben, bis sie mit 18 Jahren in das Dorf ziehen. Die sozialtherapeutischen Initiativen „Talisman“ und „Istok“ sind einmalig in ganz Sibirien, dem Land, in dem körperlich und geistig Behinderte oft einfach weggesperrt werden und unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen.

In der Schule wurden wir freudig empfangen, jedoch ereilten uns sofort die unvermeidbaren Unglücksnachrichten aus dem Dorf: Die Heizung in der Werkstatt sei eingefroren, das Auto sei kaputt, Feuerholz gäbe es sowieso keins… Willkommen in Sibirien! Also hielten wir den Daumen raus und trampten bis an die Stelle etwa 40 km nördlich von Irkutsk, an der der Waldweg zu unserem Dorf abzweigt. Den Rest legten wir zu Fuß zurück, wobei 7 km bei minus 25 Grad Celsius und mit einer halben Werkstatt auf dem Rücken doch recht lang sein können.

Im Dorf war trotz eingefrorener Heizung und kaputtem Auto eine ausgelassene Stimmung wie eh und je, alles ging seinen gewohnten Lauf. Das bewundere ich immer wieder an den Menschen in Russland: Es kann noch so viel passieren und keiner lässt sich aus der Ruhe bringen. Schnell wird etwas improvisiert, und das Problem ist für die nächsten Tage behoben.

So auch diesmal: Ein Mitarbeiter hatte die Heizung bereits mit dem Schweißgerät wieder zum Laufen gebracht. Die Methode, mit einem Schweißgerät vereiste Rohrleitungen aufzutauen, ist in Sibirien überaus beliebt. Man schließe einfach je eine Elektrode an den Enden des Rohres an, und drehe den Saft auf. Der hohe Strom bringt die Rohre zum Glühen, und löst so die Vereisung. Von Nachahmung würde ich jedem aber dringend abraten.

Nun zurück zu unserer Arbeit: Was wir hatten war Holz, eine gut eingerichtete Holzwerkstatt, einen Rucksack voller Werkzeug und Instrumente aus Deutschland, einen leeren Raum, vorerst nur unsere fast leeren Geldbeutel und unsere Motivation. Alles in allem wenig Handfestes, um innerhalb von zwei Monaten eine Produktionslinie aufzubauen. Deshalb machten wir uns sofort ans Werk.

Von unserem vorherigen Sibirienaufenthalt her waren wir ein eingespieltes Team. Auch die Planung der verschiedenen Arbeitsplätze und Maschinen hatten wir in Deutschland weitestgehend abgeschlossen. Vorgesehen war die Produktion von Birkengefäßen in großen Stückzahlen. Die Betreuten sollten die meisten Arbeitsschritte selbstständig durchführen können und die Arbeitsplätze sollten therapeutisch sinnvoll auf ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten zugeschnitten sein. Auch musste auf eine hohe und konstante Qualität der Produkte geachtet werden, um sie tatsächlich in Deutschland verkaufen zu können.

Eine nicht unbedeutende Frage war auch die Beschaffung der Birkenrinde. Obwohl es in Sibirien beinahe endlos viele Birken gibt, dürfen diese natürlich nicht nur wegen der Rinde gefällt werden. Es musste garantiert sein, dass die Rinde nur durch nachhaltige Forstwirtschaft geerntet wurde.

Nach der Ernte erhält man ein wunderschönes, geschmeidiges, lederartiges Material, das mit den verschiedenen von uns gefertigten Stanzvorrichtungen in die richtige Form gebracht werden kann. Deckel und Böden der Gefäße werden aus Kiefernholz hergestellt. Es war uns wichtig, die Verarbeitung so umweltschonend und natürlich wie möglich zu gestalten. So hält die Dose mit Ausnahme einer Verzierung am Deckel ganz und gar ohne Klebstoffe und andere Chemikalien zusammen.

Während Tim in Irkutsk Kontakte knüpfte und Material besorgte, machte ich mich daran, Arbeitstische zu installieren und ein geeignetes Regalsystem für die Lagerung des Rohmaterials sowie der Zwischen- und Endprodukte. Das Herzstück unserer Arbeit, die Maschinen, konstruierten wir zusammen. Hierbei hatten wir auch die größten Schwierigkeiten, für die wir jedoch immer eine Lösung fanden. Als letztes wurde ein eigens aus Deutschland importierter Aktenvernichter eingebaut. Er dient zur Herstellung von schmalen Bändern aus Birkenrinde, mit denen später der Rand des Döschens umnäht wird. Der Aktenvernichter war der Renner schlechthin bei der darauf folgenden Präsentation der Werkstatt.

Nach zwei Monaten sind wir wirklich fertig geworden. Diese zwei Monate, das bedeutete aber auch sieben Tage die Woche, und zwölf Stunden am Tag arbeiten. Da blieb wenig Zeit, den sibirischen Winter zu genießen, in die Banja (die russische Sauna) zu gehen oder einfach mal eine Runde „Durak“ (ein in Russland jedermann bekanntes Kartenspiel) zu spielen.

Zur offiziellen Eröffnung und Präsentation der Werkstatt kam aus der Region alles, was Rang und Namen hat. Über 50 Gäste waren geladen. Dabei waren auch viele Kunsthandwerker aus Irkutsk, die schon viel Erfahrung im Umgang mit Birkenrinde hatten. Auf ihr Urteil war ich besonders gespannt. Außer der Plexiglasscheibe einer Stanzmaschine, die bei dem Vorführen der Werkstatt vor allen Gästen zersplitterte, verlief jedoch alles glatt und die Produktion konnte beginnen.

Inzwischen studiert Tim in Passau Kulturwirt und ich in Berlin Umwelttechnik. Unsere Werkstatt produziert Birkenrindendosen und gibt dem Dorf so eine Perspektive, sich durch eigene Arbeit auf dem freien Markt einen Platz zu verschaffen. Am 1. Juli 2005 wurde die letzte Lücke in dem deutsch-sibirischen Netzwerk durch die Gründung der „Sagaan GbR“ geschlossen. Die kleine Handelsfirma, die vor allem durch Tims Engagement aufgebaut wurde, vertreibt erfolgreich die in Sibirien erzeugten Waren. Wir arbeiten weiterhin hart an unserem gemeinsamen Projekt und hoffen auf eine gute und lange Zukunft.

Kontakt: j-steigerwald@web.de - talisman.desib.de - www.sagaan.de

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