Wie kann Erziehung für das soziale Leben fruchtbar werden?

Nach Ausführungen auf der Sozialkundetagung in der Hiberniaschule Wanne-Eickel Juli 1967

01.12.1968

Quelle
Zeitschrift „Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus“
13. Jahrgang, Heft 1/2, Dezember 1968, S. 29–33
Bibliographische Notiz

Vor genau 50 Jahren hat Rudolf Steiner uns das dreigliedrige Menschenbild geschenkt und im Anschluß daran das der sozialen Dreigliederung. Aus der daraus folgenden Dreigliederungsbewegung sind die freien Waldorfschulen hervorgegangen. Ebenso wie das dreigliedrige Menschenbild in die Waldorfschulpädagogik Eingang gefunden hat, sollte jeder Schüler mit einer lebendigen Empfindung von der Dreigliederung des sozialen Organismus die Schule verlassen. Diese Dreigliederung sollten die Schüler so beherrschen wie die vier Grundrechnungsarten. Um diese Forderung Rudolf Steiners zu erfüllen, müssen wir alle Anstrengungen machen.

Es ist das Besondere der Anthroposophie, daß sie dem Menschen nicht fertige Begriffe gibt, sondern daß sie sein Wahrnehmen schult, damit er mit seinem erweiterten Wahrnehmen die Wirklichkeit umfassender und vertiefter ergreifen kann. Wenn er selber die Idee in der Wirklichkeit wahrnehmen kann, wird der Mensch in seinem Wollen impulsiert. So können wir Lehrer durch die allgemeine Menschenkunde Rudolf Steiners uns schulen, das Kind in seiner Kindheit wahrzunehmen, und aus diesem Wahrnehmen des Werdenden im Kinde erwachsen uns pädagogische Instinkte. So hat uns Rudolf Steiner auch die Dreigliederung des sozialen Organismus gegeben, nicht als ein Programm, sondern um uns an den von ihm gezeigten Phänomenen zu üben, auch das Werdende im sozialen Leben wahrzunehmen und daraus rechte soziale Handlungsfähigkeit, soziale Instinkte auszubilden.

Dabei ist aber ein Umstand gerade für den Lehrer bedeutsam: Alles, was uns als Natur entgegentritt, hat eine Wirklichkeit, die zugleich wahr ist; das gilt nicht von den sozialen Lebensformen, die Werk unseres menschlichen Bemühens und Verhaltens sind. Hier stehen wir Wirklichkeiten gegenüber, die oftmals noch keine Wahrheiten sind, z. B. in der Art, wie die Arbeit sich heute in das soziale Leben eingliedert, wie sie entlohnt wird.

Wir müssen darum Sorge tragen, daß unsere Kinder in einer Umwelt heranwachsen, die auch in ihrem sozialen Gefüge wahr ist. Nach dem Elternhaus

[Beiträge, Dezember 1968, Seite 29]

ist die Schule die intensivste soziale Wirklichkeit, in die das Kind eingegliedert wird.

Wie können wir unsere Schulen so gestalten, daß sie zu einer wahren sozialen Wirklichkeit werden, daß in ihr das Kind wie in einem Modell erlebt, was keimhaft und als ein Werdendes in dem heutigen sozialen Dasein waltet und darauf wartet, einmal von ihm wahrgenommen und in die Wirklichkeit gerufen zu werden? Aller Sozialkundeunterricht, der im Kindeswesen nicht eine so selbst erlebte soziale Erfahrung zugrunde liegen hat, der über etwas redet, dem nicht ein - wenn auch unbewußtes - kindliches Erleben vorausgegangen ist, bildet keine sozialen Fähigkeiten, sondern schwächt diese sogar. Ein rechter Sozialkundeunterricht ist an unseren Schulen also nur möglich, wenn diese in ihren geistigen, rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen wahr sind. Das heißt aber die Frage nach der Konstitution unserer Schulen stellen, nach ihrem Eingebettetsein in den sozialen Gesamtorganismus, wie auch nach ihren inneren Strukturen.

Der Frage noch der wahren äußeren Konstitution gelten folgende Überlegungen:

  1. Es hat mit zu der Abkapselung der Schule im sozialen Leben geführt, daß sie «nur für das Kind» da ist. Vom sozialen Leben her gesehen war es ein Unglück, daß die Volkshochschulbewegung neben der Schule entstanden ist. Die Schule sollte wieder zu einer umfassenden Bildungsstätte, nicht nur für das Kind, sondern für den Menschen werden. Das kann an unseren Schulen durch die sogenannte Elternschule geschehen, durch das begleitende Mitlernen der Eltern für ihre Kinder; es sollte aber gewußt werden, daß die Schule der Zukunft einmal eine solche umfassende Bildungsstätte sein wird.
  2. In der rechtlichen Ordnung unserer Schulen muß das «Römische Gespenst» überwunden werden. Dazu gehört unter anderem die Dualität in unserem Denken zwischen Schulverein und Schule. Wir sprechen von «Eltern und Lehrer im Bunde»: das kann auch rechtlich ausgedrückt werden. Wir müssen Rechtsformen erdenken, die zeigen, wie sich Institutionen in einem freien Geistesleben bilden. Hierher gehört auch, daß wir bedenken, wie die Wirklichkeit unserer Schulen nicht in ihrem Einzeldasein als Ausnahmefall innerhalb des Schulwesens begründet ist; wir müssen die Schule so konzipieren, daß sie in der Breite des ganzen Schulwesens wiederholbar ist. Hierher gehört schließlich auch die soziale Zusammensetzung unserer Schülerschaft, also die Verwurzelung unserer Schule in den sie umgebenden sozialen Organismus.
  3. Unsere Schulen sollten schließlich auch eine autonome Wirtschaftlichkeit bekommen. Die künftige Schule muß das, was sie pädagogisch braucht

[Beiträge, Dezember 1968, Seite 30]

an wirtschaftlichen Vorgängen, z.B. zur Durchführung ihres Arbeitsunterrichtes, von der Wirtschaft übernehmen. Schon Rudolf Steiner stellte die Frage, warum es nur in Gefängnissen möglich sein sollte, etwas wirtschaftlich Brauchbares herzustellen. Daß eine Schule, wenngleich auch unter dem Primat des Pädagogischen, auch eine wirtschaftliche Institution ist, gliedert sie erst vollends in den sozialen Organismus ein.

Doch nicht nur im Zusammenhang des sozialen Gesamtorganismus, sondern auch nach Innen, in ihrem inneren Gefüge muß die Schule eine soziale Wahrheit verkörpern.

Jedes Geistige korrespondiert mit seiner Umwelt. Jede Wahrheit braucht, um sich auf Erden halten zu können, das ihr entsprechende Gehäuse. Im sozialen Leben ist alles Baukunst. Das gilt nicht allein für das Schulgebäude, sondern vor allem für die innere Gestalt und Struktur der Schule. In der äußeren Baukunst, der Architektur, haben wir es heute schon vielfach begriffen, daß es nicht genügt, die von R. Steiner gegebenen neuen Formen bloß nachzuahmen («abbe Ecken»), sondern daß wir lernen müssen, aus dem diesen Formen zu Grunde liegenden Impuls selber neu zu gestalten. Gilt das nicht auch für die innere Struktur, wie sie sich z.B. im Lehrplan, im Stundenplan, in der Gruppierung der Schüler äußert? Auch sie sollte man innerlich neu ergreifen, denn nur in neuen und gemäßen Formen wird der Geist der Erziehungskunst sich immer mehr inkarnieren können und wirksam werden. Das ist nicht nur eine pädagogische Frage, sondern auch eine soziale. Die Schule als soziale Wirklichkeit muß in ihren Lebensformen, in ihren inneren Strukturen, in ihrer Gestalt wahr sein.

Von der Vergangenheit her gesehen, wird jeder Mensch in eine Gemeinschaft hineingeboren, in die Familie. Zu dieser Lebensgemeinschaft tritt mit der Schulreife eine andere Gemeinschaftsform hinzu. Das Kind kommt in eine «Bildungsgruppe», die im Gegensatz zu der «naiven» Urgemeinschaft der Familie von dem Klassenlehrer ganz bewußt gestaltet werden sollte. «Wie kann ich Kinder gruppieren, daß sie einen Organismus bilden?» Wir verdanken R. Steiner sehr genaue Angaben darüber (z.B. das Gruppieren nach Temperamenten). Durch diese Aufgabe des Klassenlehrers, einer Klassengemeinschaft Struktur zu geben, wird er zum höheren Ich dieser Gemeinschaft.

Zu dieser Bildungsgruppe muß aber in einem bestimmten Entwicklungsalter als weitere soziale Beziehung die Werkgemeinschaft treten, wo der Heranwachsende von der Sache her gefordert wird: «Was ich zu tun habe, kommt auf mich zu.» Die Gruppe als Lebensgemeinschaft (Familie) – vergangenheitsbestimmt –, die Gruppe als Kunstwerk, als Bildungsgemeinschaft –gegenwartsbestimmt –, die Gruppe als Arbeitsgemeinschaft - zukunftsbestimmt - erst in diesem 3-Schritt ist eine Ganzheit gegeben.

[Beiträge, Dezember 1968, Seite 31]

Früher war auch die Arbeit vergangenheitsbestimmt. Durch die Familie, den Stand, die Erblichkeit wurde der Mensch zu einer bestimmten Arbeit geführt. Man fand seine Arbeit in der karmischen Gruppe, in die man hineingeboren wurde. Heute hat der Mensch seine Arbeit zu suchen und findet dort bestimmte Menschen. Die gemeinsame Aufgabe - die Forderung der Sache - hat diese Menschen zusammengeführt; sie haben gemeinsam nicht nur die Arbeit zu verrichten, sondern zugleich die Aufgabe, die äußere Gemeinsamkeit auch innerlich zu begründen, sie menschlich zu erfüllen. Dazu muß der Jugendliche vorbereitet werden; das kann durch einen praktischen Unterricht geschehen, der vom Spiel über das künstlerische Tun zur Arbeit führt. Eine solche Erziehung durch die Arbeit ist nicht in erster Linie «Berufsvorbereitung», sondern soziale Erziehung. Die Schüler sollen das sie menschlich Verpflichtende aus der sachlichen Situation heraus spüren; sie sollen lernen, eine so vorgegebene menschliche Situation aktiv zu ergreifen und sie gerade aus der moralischen Kraft, die das Arbeiten dem Menschen gibt, zu gestalten.

Im Aufbau der Hiberniaschule haben diese Überlegungen folgenden Ausdruck gefunden: In der Unterstufe, das ist in der Hiberniaschule das 1. bis 6. Schuljahr, ist die Klasse die Lerngemeinschaft des Kindes, und es ist Aufgabe des Klassenlehrers, die in dieser Klasse vereinigten Kinder zu einem in sich geschlossenen sozialen Organismus zusammenzufügen, der selber als Klassengruppe eine eigene Lernentwicklung durchläuft und dadurch die in ihm eingefügten einzelnen Kinder in ihrem Lernprozeß befruchtet. Aller Unterricht sollte auf dieser Stufe möglichst im Rahmen der ganzen Klasse gegeben werden; wo man die Klasse teilen muß, auf jeden Fall von dem selben Lehrer, damit im höheren Sinne die Einheit der Klasse gewahrt bleibt.

In der Mittelstufe (das sind in der Hiberniaschule die Klassen 7 bis 10) tritt neben die Klasse die Gruppe des Werkstattunterrichtes (in der Regel wird jede Klasse in drei Werkstattgruppen eingeteilt). Es zeigt sich, daß diese Gruppen, die durch die ganze Mittelstufe möglichst gleich bleiben, ganz eigene Individualitäten werden. Sie begründen sich aus dem Tun und sie stellen sich als Arbeitsgruppe in einem lebendigen Wechsel zu der Lerngruppe, die im Klassenunterricht fortgesetzt wird. Am Ende der Mittelstufe (im 2. Halbjahr des 10. Jahres) entscheidet sich jeder Schüler für eine Fachausbildung. Hat er vorher im Wechsel zwischen Schmieden und Schreinern, Korbflechten und Gartenbau u.a.m. gelernt, sich immer erneut auf die Bedingungen einer Aufgabe einzustellen und also Mobilität entwickelt, so gilt es jetzt, sich in einem Besonderen zu vertiefen und gerade durch die Beschränkung «Meisterschaft» zu erlangen. Das führt nicht nur zu einer ganz neuen Arbeitssituation, sondern auch zugleich zu ganz neuen menschlichen Gegebenheiten. Der ganze Jahrgang (vorher 2 Parallelklassen) differenziert

[Beiträge, Dezember 1968, Seite 32]

sich nun in diese Fachgruppen, die an der Besonderheit ihrer Erprobung und Bewährung gerade auch menschlich stark zusammenwachsen. Im künstlerischen Unterricht werden die vorausgehenden Gruppen fortgesetzt und im Klassenunterricht treffen sich die Schüler der verschiedenen Gruppierungen wieder zu einer alle umfassenden Einheit. Gerade das führt zu einem wichtigen neuen sozialen Vermögen, denn es ist die Besonderheit eines dreigliedrigen sozialen Organismus, daß in ihm nicht wie im früheren ständisch geordneten sozialen Leben die Menschen in getrennten Gruppen nebeneinander leben, sondern daß der einzelne Mensch gleichzeitig ganz verschiedenen Gruppierungen angehört und sich in jeder in der ihr angemessenen Weise verhält.

Aus dem Gesagten wird sichtbar, wie es für eine soziale Erziehung unserer Kinder von entscheidender Bedeutung sein wird, daß wir an unseren Schulen einen praktischen Bildungsgang aufbauen, in dem sich das fortsetzt, was in schöner Weise in den Unterstufen begonnen wird, aber in der Oberstufe ohne diesen nicht seine Erfüllung findet. Nicht ein «praktischer Zug» ist gemeint, der als ein Nebengleis für solche gedacht ist, die nicht den üblichen «gymnasial geprägten» Weg gehen können, sondern eine praktische Bildung ist gemeint, die im lebendigen Wechsel steht zu der geistigen Schulung und mit ihr zusammen erst die innere Balance in die Wesensentfaltung unserer jungen Menschen bringt. Gerade der künftig geistig Verantwortliche wird durch einen solchen auch praktischen Bildungsgang die Impulsierung seines sozialen Wollens empfangen, die heute dem durch die höhere Schule und das Studium Gegangenen fast völlig fehlt.

Dieses über die Gruppierung im Unterricht und über die besonderen Strukturen im Aufbau der Hiberniaschule Gesagte soll nur ein Beispiel geben für das, was überhaupt in unseren Schulen beachtet und entwickelt werden müßte, um unsere Kinder auf ihr künftiges Darinnenstehen im sozialen Organismus vorzubereiten.

[Beiträge, Dezember 1968, Seite 33]