Die Arbeit als Wesensmerkmal des Menschseins
Kulturgeschichtliche Aspekte der menschlichen Arbeit

10.03.1967

Quelle
Zeitschrift «Die Kommenden“
21. Jahrgang, 1967, Nr. 5, 10.03.1967, S. 8–10
21. Jahrgang, 1967, Nr. 6, 25.03.1967, S. 8–10
Bibliographische Notiz

Nach einem Vortrag anläßlich der Seelisbergtagung 1966 der Vereinigung für freies Unternehmertum, Schweiz.

Wie sehr die Arbeit ein Phänomen der Kultur ist, das geht schon daraus hervor, daß sie im eigensten Wesen des Menschen selbst begründet ist, bzw. eines der charakteristischsten Merkmale des menschlichen Wesens überhaupt darstellt. Denn unter allen Wesen, die die Erde bevölkern, ist sie einzig dem Menschen eigen. Das Tier kennt keine Arbeit. Was es zum Zwecke seiner Ernährung, seiner Bekleidung, seiner Behausung tun muß, ist für es keine Arbeit, sondern ist ein Teil seiner Lebensfunktionen, die durch seine Instinkte bestimmt werden, ebenso etwa wie seine Atmung oder seine Verdauung. Zunächst ist jedem Tiere durch seine Konstitution, durch seine Lebensweise von der Natur seine Nahrung vorbestimmt – und wird ihm auch von der Natur bereitgestellt. Wie es sich diese Nahrung zueignet, sei es durch Abgrasen oder Töten eines anderen Tieres, ist keine Arbeit für das Tier, sondern gehört ebenso zu seinen spezifischen Lebensfunktionen wie die Art seines Fressens selbst. Auch seine Bekleidung wird ihm in seinem Fell oder Federkleid von der Natur anerschaffen, und seine Behausung bietet ihm entweder die freie Natur selbst dar oder, wenn es sich selbst eine solche verfertigt, wie etwa der Vogel sein Nest, so ist auch das nur eine andere Art von Haut oder Fell, deren Herstellung sich immer in derselben Art vollzieht, zu einer bestimmten Zeit, mit derselben Naturgesetzlichkeit wie das leibliche Wachstum des betreffenden Tieres. Aus allen diesen Gründen gebraucht und verfertigt das Tier auch keine Werkzeuge. Denn seine Werkzeuge sind ihm in seinen Organen und Gliedern auch von der Natur anerschaffen: in seinen Krallen und Tatzen, in seinen Schwimmhäuten und Flossen, in seinen Flügeln, Hörnern, Zähnen, Schwänzen usw. Allerdings ist in dieser seiner Werkzeugausstattung jedes Tier für eine ganz bestimmte Lebensweise innerhalb einer ganz bestimmten Umwelt aufs äußerste spezialisiert.

Im Gegensatz dazu ist der Leib des Menschen, wie die neuere Anthropologie ja vielfältig dargetan hat, gänzlich unspezialisiert. Darum ist der Mensch an keine spezielle Umwelt angepaßt, sondern kann in allen Zonen, Klimaten, landschaftlichen Umwelten leben. Jedoch seine eigentliche, spezifisch menschliche Umwelt muß er sich doch überall selbst schöpferisch hervorbringen. Das beginnt schon bei seiner Nahrung, die er durch Landwirtschaft und Tierzucht, freilich im Zusammenwirken mit der Natur, sich selbst erschaffen und dann noch durch Kochen, Braten, Backen usw. sich auch zubereiten muß. Ebenso stellt er sich seine Bekleidung selber her, verschieden nach Jahreszeit und Klima; dasselbe gilt auch von seiner Behausung, ob es sich nun um das Zelt des Nomaden oder um das steinerne oder hölzerne Haus des seßhaften Menschen handelt. Aber all das stellt der Mensch nicht immer in derselben Weise her wie etwa der Vogel sein Nest oder die Biene ihre Wabe, sondern er wandelt es im Lauf der Geschichte in tausendfältiger Art ab, gemäß dem Wandel der Kunststile, je nach dem Wechsel der Mode. Und zum Herstellen dieser seiner ganzen menschlichen Welt und Umwelt bedarf er der verschiedensten, von ihm selbst verfertigten Werkzeuge. Und diese Werkzeuge bildet er schließlich zu den tausendfältigen Apparaturen und Maschinen der modernen Technik fort. So ist der Mensch auch das werkzeugschaffende Wesen, da er von der Natur mit keinem speziellen Werkzeug ausgestattet ist, nur mit dem aller-allgemeinsten Werkzeug der Hand, die aber in Verbindung mit den verschiedenen künstlichen Werkzeugen alle nur erdenklichen Verrichtungen ausführen kann. Mit der Herstellung und dem Gebrauch des selbstverfertigten Werkzeuges entsteht aber zugleich auch die Arbeit. Und ebenso wie das Werkzeug dem schöpferischen Geiste des Menschen entstammt, so kennzeichnet sich auch die Arbeit dadurch, daß in ihr nicht bloß der menschliche Leib sich betätigt, sondern immer zugleich auch der auf bestimmte Ziele gerichtete menschliche Geist, so daß also an der Arbeit immer der ganze Mensch als leiblich-geistiges Wesen beteiligt ist.

Universalität und Differenzierung

So stellt sich uns im Gegensatz zu dem höchst spezialisierten Tier der Mensch als das universelle Wesen dar. Er kann darum mit keiner einzelnen Tiergattung verglichen werden, sondern höchstens mit der Gesamtheit des Tierreiches. Denn nur in der Gesamtheit aller seiner Gattungen und Arten weist das Tierreich eine vergleichbare Universalität auf. Allerdings kommt diese Universalität auch bei den Menschen nur der gesamten Menschheit zu, nicht dem einzelnen Menschen; denn dieser spezialisiert sich ja auch im Lauf der Geschichte immer mehr und mehr für eine bestimmte Arbeit mit den dazugehörenden Werkzeugen. Und so entsteht zugleich mit der Arbeit auch die Gliederung derselben nach Berufen, die es ja auch im Tierreiche nicht gibt. Allenfalls könnten die verschiedenen Tiergattungen als solche mit den verschiedenen Berufen des Menschen verglichen werden, etwa die Fische mit den Schiffern, die Vögel mit den Fliegern, die Maulwürfe mit den Bergleuten, die Wespen mit den Papierfabrikanten usw. Nur müssen im Tierreich die verschiedenen Gattungen ihrer Konstitution gemäß ihre Berufe ausführen, während der einzelne Mensch seinen Beruf frei wählen und auch mit einem anderen vertauschen kann. Und mit der Gliederung der Arbeit nach den verschiedenen Berufen entsteht auch die Gesellschaft, das soziale Leben, da ja die Berufe die Erzeugnisse ihrer Arbeit durch Tausch und Kauf einander gegenseitig übermitteln. Auch eine Gesellschaft in diesem Sinne gibt es ja im Tierreich nicht.

Mit der Bildung der Gesellschaft differenziert sich nun aber die Arbeit auch noch in einem anderen Sinne. Denn indem sich nun zwischen den einzelnen menschlichen Individuen die spezifisch menschlichen Beziehungen entwickeln, entsteht auch alles dasjenige zwischen ihnen, was wir Sympathie und Antipathie, was wir Liebe und Haß nennen und was sich im größten darlebt in den Zuständen von Frieden und Krieg. Auch die Leitung, die Verwaltung, das Inordnunghalten der menschlichen Gesellschaft im Frieden sowie das Kriegführen sind Arbeiten. Wir gebrauchen aber dafür im allgemeinen nicht die Bezeichnung Arbeit, sondern wir sprechen im Frieden vom Bekleiden eines Amtes, im Kriege von der Erfüllung einer Dienst-, einer Militärpflicht. Schließlich ist auch die Pflege der Beziehungen zwischen dem menschlichen Geiste und dem, was dieser als den die ganze Welt durchwaltenden göttlichen Geist empfindet, erahnt oder erlebt, eine Arbeit; aber auch hier pflegen wir nicht von Arbeit zu sprechen, sondern von Gebet, von religiöser Feier, von Kulthandlung und ähnlichem. Die Bezeichnung Arbeit pflegen wir nur für diejenige Betätigung zu verwenden, die der Erhaltung der physischen Existenz des Menschen im weitesten Sinne dient, die also dem wirtschaftlichen Bereiche angehört. Vielleicht ist das aus dem Grunde der Fall, weil diese Art von Tätigkeit für den Menschen einen unbedingten, absoluten Zwang bedeutet, wenn er nicht zugrunde gehen soll. Denn sowohl das deutsche Wort Arbeit wie auch etwa das lateinische labor bezeichnen ja ursprünglich Mühe, Anstrengung, Mühsal, das heißt, eine Betätigung, die auch dann ausgeführt werden muß, wenn sie nicht mit Freude oder mit Genuß oder mit Erbauung verknüpft ist. Ich darf an die berühmten Eingangsverse des mittelhochdeutschen Nibelungenliedes erinnern: «Uns ist in alten mären wunders vil gesait, von helden lobebären, von großer arbeit. Von freuden, hochgeziten, von weinen und von klagen, von küener recken striten muget ihr nu wunder hören sagen.» Wenn in diesen Versen von großer «Arbeit» gesprochen wird, so wird damit eben auf die schweren Mühsale hingedeutet, welche diese Helden zu bestehen hatten. Der Begriff der Arbeit ist mit dem der Sorge verknüpft. Und das führt uns nun auf die Kehrseite des Vorzuges, den der Mensch vor dem Tiere hat. Denn indem das Tier keine Arbeit kennt, kennt es auch nicht die Sorge.

Die Geburt der Sorge

Der Mensch ist nur dadurch Mensch geworden, daß er irgendwie und irgendwann einmal aus dem Beschlossensein innerhalb der Natur heraustrat, in welchem das Tier stets verbleibt. Dieses Heraustreten mußte er aber bezahlen mit dem Aufsichnehmen von Arbeit. In der mosaischen Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments erscheint dieses Heraustreten des Menschen aus der Natur im Bilde seiner Ausstoßung aus dem Paradiese, dem Garten Eden, das heißt aus einem Zustand, in welchem der Mensch noch voll mit der Natur, mit dem Tier- und Pflanzenreich verbunden war, das ihn, ohne daß er zur Arbeit gezwungen war, mit all dem versorgte, dessen er zum Leben bedurfte. Seine Ausstoßung aus dem Paradies war aber eine Folge davon, daß er vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen genossen hatte, womit ja von einer anderen Seite her

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auch wiederum auf den Akt seiner Menschwerdung hingedeutet wird, denn auch die Unterscheidung von Gut und Böse ist nur dem Menschen eigen. Zu dem Hinausgestoßenen sagt aber die Gottheit: «Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.» Das heißt soviel wie: «Du sollst fortan nurmehr durch Arbeit dein Leben fristen können.» Diese Darstellung weist darauf hin, daß in den Zeiten, aus denen sie stammt, die Arbeit als ein Fluch empfunden worden ist, zu dem der Mensch durch den Sündenfall verdammt wurde.

Arbeit als Fluch

Als ein solcher ist sie in der Tat auch von den Völkern älterer Zeiten empfunden worden, von den Völkern, die dem noch näher standen als wir, was die Bibel als den paradiesischen Urzustand des Menschen schildert. Diese älteren Völker fühlten eine Art von Heimweh nach jenem Ursprungszustand zurück; sie hatten deshalb noch nicht viel für das Arbeiten übrig. Sie arbeiteten nur so viel, als unbedingt notwendig war, um ihr Dasein fristen zu können, und sie begnügten sich lieber mit einem kärglichen Dasein, als daß sie durch ein Übermaß an Arbeit sich ein üppiges Leben erkauft hätten. Süßer als die Arbeit empfanden sie noch das Nichtstun, das dolce far niente. Aber dieses Nichtstun war nur äußerlich betrachtet ein solches. Innerlich war es durchaus auch eine Betätigung, nämlich ein Suchen nach der Wiederverbindung mit jener Welt, aus der der Mensch durch den Sündenfall ausgestoßen worden ist. Wiederverbindung heißt auf lateinisch religio. Es war eine religiöse Betätigung, es war Gebet, Meditation, Kontemplation. Viel höher als die vita activa, das äußerlich tätige Leben, schätzten insbesondere die Völker des Orients noch die vita contemplativa, das beschauliche Leben. Und die größte geistige Gestalt, die der Orient hervorgebracht hat, Buddha, wird ja immer und ausschließlich nur in der sitzenden Haltung der Meditation und der Kontemplation dargestellt. Und so ist es im Orient bis auf den heutigen Tag noch weitgehend geblieben. Mit dem Fehlen des Sinnes für die Arbeit war aber verbunden das Nichtvorhandensein der Sorge für das Morgen. Der Philosoph Jean Gebser berichtet in seiner vor einigen Jahren erschienenen «Asienfibel», in welcher er Reiseerlebnisse von einem Studienaufenthalt im Fernen Osten schildert, daß in Südindien «die Rikscha-Männer zu arbeiten aufhören, sobald sie genügend für das Heute verdient haben. Das kann bereits am Vormittag sein. Daß es ein Morgen gibt, kommt ihnen gar nicht in den Sinn.» und er fährt fort: «Für uns ist es unmöglich, so zu denken, und es fällt uns schwer, diese übrigens nicht nur in Indien anzutreffende Denkweise zu verstehen. Dabei vergessen wir jedoch, daß wir, wenn auch in vielleicht abgeschwächter Form, diesem Verhalten selbst in Europa begegnen können. Als ich vor dem Zweiten Weltkrieg in Andalusien lebte, lernte ich die Verzweiflung der Gutsbesitzer während der Erntezeit kennen. Die Arbeitszeit der Taglöhner geht dort de sol a sol, sie dauert von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Aber sie wurde nicht eingehalten. Weil im Akkord gearbeitet werden muß, lichten sich von Mittag ab die Reihen derer, die die Ernte einbringen. Sobald ein Tagelöhner so viel verdient hat, wie er für den Tag, das Heute, zum Leben benötigt, läßt er sich den Lohn auszahlen und geht nach Hause. Was mit der Ernte geschieht, ist ihm gleichgültig.»

Erinnerungen an das «Goldene Zeitalter»

Selbst bei den Griechen der klassischen Antike finden wir noch eine mit Sehnsucht vermischte Erinnerung an den paradiesischen Ursprung der Menschheit, in dem Mythos von dem goldenen Ursprungszeitalter, auf welches später dann das silberne, das eherne und zuletzt das eiserne gefolgt sind. In jenem goldenen Zeitalter aber, so berichtet der Dichter Hesiod, flossen noch Bäche von Milch und Honig und ernährten die Menschen, ohne daß sie der Arbeit bedurften. Merkwürdig ist schließlich, daß auch noch im Aufgang der neueren Zeit, die ja dann eine so gewaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens mit sich gebracht hat, noch einmal eine Erinnerung an jene goldene Urzeit auftaucht. Wir finden nämlich im Ausklang des Mittelalters bei den verschiedensten europäischen Völkern märchenartige Erzählungen, die von einem Lande berichten, in welchem paradiesische Zustände herrschen, dem Schlaraffenlande, in welchem nicht nur Bäche von Milch und Honig fließen, sondern auch Bratwürste auf den Bäumen wachsen, gebratene Tauben einem in den Mund fliegen usw. Doch erscheint das alles jetzt, weil die Welt sich inzwischen so stark verändert hat, daß solche Zustände völlig unglaubhaft geworden sind, nurmehr als eine Traumphantasie, in der Nichtstuer oder Faulpelze zu schwelgen lieben.

Allen diesen bildhaften Erinnerungen an einen goldenen Ursprungszeitraum der Menschheit steht nun aber ein realer Überrest desselben gegenüber, der sich bis in unsere Gegenwart herein erhalten hat, ja in jedem einzelnen Menschen sich immer wieder erneuert, nämlich in dem Bewußtsein des kleinen Kindes im vorschulpflichtigen Alter. Auch ihm ist es noch fremd, durch eigene Arbeit sich seinen Lebensunterhalt erwerben zu müssen; es hat noch ein Recht darauf, von seinen Eltern als Gabe zu empfangen, was es zu seiner Ernährung, Bekleidung, Behausung braucht; auch ihm ist das Nichtstun noch süßer als die Arbeit, an der Stelle der Arbeit steht das dem Kinde Lust bereitende Spiel. Erst im Schulalter ist es an der Zeit, es nach und nach an eine geregelte Arbeit, freilich noch nicht des Gelderwerbs, sondern zunächst des Lernens, zu gewöhnen. Wir empfinden es daher mit Recht als empörend, daß in der Frühzeit des Industrialismus acht- und siebenjährige, ja selbst sechs- und fünfjährige Kinder zur Fabrikarbeit herangezogen wurden, mit Arbeitszeiten von einer Länge, die sich selbst der Erwachsene heute nicht mehr gefallen lassen würde. Erst von der Zeit der Pubertät an hat es eine gewisse Berechtigung, den heranwachsenden Menschen zu wirtschaftlicher Tätigkeit heranzuziehen. In vollem Maße gilt dies aber erst für den volljährigen, den erwachsenen Menschen. Und die heutige Wirtschaft, die ja so viel Freizeit ermöglicht, würde es auch, wenn diese Freizeit in der richtigen Weise verteilt würde, gestatten, daß jeder Mensch bis zu seiner Volljährigkeit hin seine Zeit ausschließlich seiner Erziehung und Bildung widmet und erst dann in eine wirtschaftliche Tätigkeit eintritt. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen.

Mit all dem Geschilderten hängt nun noch ein weiteres zusammen. Je primitiver eine Zivilisation ist, um so mühseliger ist die körperliche Arbeit, und um so mehr wird sie als ein Fluch empfunden, zu dem der Mensch verdammt ist. Dadurch war es wohl bedingt, daß im selben Maße, als im Lauf der Geschichte die menschliche Arbeit sich nach Berufen gliederte, diese Gliederung gleichbedeutend war mit einer Schichtung der menschlichen Gesellschaft in herrschende und in dienende Klassen, wobei die herrschende Klasse sich aus Menschen zusammensetzte, die der vita contemplativa ergeben waren, die also geistige Arbeit in irgendeiner Form leisteten, sei es als Priester, sei es als Regenten und Verwalter der menschlichen Gesellschaft, während die dienende Klasse aus Menschen bestand, die körperliche Arbeit verrichteten, was ja damals gleichbedeutend war mit den sich im wirtschaftlichen Bereich Betätigenden, also aus Bauern, Handwerkern und Händlern. Es wird das Kastensystem von der modernen Soziologie mit Recht auch als das Herrschaftssystem bezeichnet. In der einen oder anderen Variante ist es bei allen älteren Völkern zu finden. Die Herrschaftsposition liegt also bei den Vertretern des geistig-religiösen Lebens, die dienende Funktion kommt den Repräsentanten des wirtschaftlichen Lebens zu. Selbst im Griechentum der klassischen Antike wurde noch alle körperliche Arbeit – und das heißt wirtschaftliche Betätigung – von den Sklaven und den Halbfreien, den Metöken und Periöken, verrichtet, während dagegen der freie Grieche, das heißt der Angehörige der herrschenden Schicht, sich ausschließlich als Politiker oder Krieger, als Redner oder Künstler, als Philosoph oder Priester betätigte. In allen diesen Verhältnissen kommt aber im Grunde nur die Tatsache zum Ausdruck, daß der Mensch in älteren Zeiten sich eines eigentlichen menschlichen Wesens noch nicht voll bewußt war, daß er für das spezifisch Menschliche in sich noch nicht voll erwacht war. Denn zu diesem gehört die Leiblichkeit ebensogut hinzu wie die Geistigkeit, oder genauer gesagt, so wie es das Wesen des menschlichen Geistes ausmacht, daß er im Unterschied zum göttlichen Geist im Leibe verkörpert und tätig ist, so kennzeichnet es ja die menschliche Leiblichkeit, daß sie im Unterschied zur tierischen in allen ihren Funktionen und Betätigungen durch den menschlichen Geist geprägt ist. Diese innige gegenseitige Durchdringung von Geist und Leib findet aber, wie schon gesagt, ihren vollkommensten Ausdruck in der Arbeit, in der eben immer der Mensch in seiner leiblich-geistigen Ganzheit sich betätigt.

Die Adelung der Arbeit durch das Christentum

Die volle Selbstbewußtwerdung des Menschen wurde recht eigentlich begründet oder veranlagt durch dasjenige Ereignis, das den Ursprung des Christentums bildet, sofern wir dieses Ereignis als das verstehen, als was es die christliche Religion durch alle Jahrhunderte verstanden hat, als – um mit den Worten des Johannes-Evangeliums zu sprechen – die Fleischwerdung des göttlichen Wortes, des weltschöpferischen Logos, oder, allgemeiner gesprochen, als die Menschwerdung des Göttlichen. Denn indem da das Göttliche selbst in einem

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menschlichen Leibe sich verkörperte, in einem Stall geboren wurde, in der äußersten Armut, zuerst von Hirten begrüßt, den Ärmsten unter den Armen, als Sohn eines Zimmermannes, eines Handwerkers, der der dienenden Klasse angehörte, erfuhr dadurch das materiell-leibliche Leben, überhaupt die körperliche Arbeit, die wirtschaftliche Betätigung eine einzigartige Werterhöhung. Und diese Werterhöhung machte es erst möglich, daß der Mensch sich seines eigentlichen Wesens bewußt wurde. Aber diese Selbstbewußtwerdung erfolgte und erfolgt nur langsam, allmählich, Schritt für Schritt im weiteren Verlaufe der Menschheitsentwicklung.

«ora et labora»

Als ein erster Schritt auf diesem Wege darf schon die Tatsache betrachtet werden, daß in den ersten christlichen Jahrhunderten im römischen Weltreich unter dem Einfluß des sich ausbreitenden Christentums in stets zunehmender Zahl Sklaven freigelassen wurden, da man es als menschenunwürdig zu empfinden begann, Menschen, die für die physische Existenz anderer Menschen arbeitend tätig sind, nicht die volle Menschenwürde zuzuerkennen. Einen zweiten, außerordentlich folgenreichen Schritt auf diesem Wege bedeutet dann die Begründung des spezifisch christlich-abendländischen Mönchswesens durch Benediktus von Nursia im sechsten Jahrhundert. Das Mönchswesen als solches ist ja keine Schöpfung des Christentums; es stammt aus dem Orient und ist in seiner dortigen Form der charakteristischste Ausdruck des weltflüchtig-asketischen Geistes des östlichen Menschen. Aus dem Orient ist es auf dem Wege über Ägypten in den ersten Jahrhunderten auch in das Christentum eingedrungen. Aber mit der Begründung des nach ihm benannten Ordens, von dem ja alle späteren christlichen Mönchsorden im Grunde Ableger sind, hat der heilige Benediktus dem Mönchswesen eine fundamentale Umgestaltung verliehen, indem er ihm nicht mehr nur die Pflege der Kontemplation zur Aufgabe stellte, sondern auch die der Aktion, der körperlichen Arbeit, gemäß seinem Wahlspruche «ora et labora» – bete und arbeite. Gerade das rechte Gleichgewicht zu halten zwischen der vita contemplativa und der vita activa sollte von nun an das Ziel des christlichen Mönchswesens sein. Und so hat sich denn auch der Benediktiner-Orden nicht nur ausgezeichnet durch die Pflege der Mystik, der Theologie, der Gottesgelehrsamkeit, sondern ebensosehr durch die Pflege von Landwirtschaft und Viehzucht, durch die Förderung des Handwerks, und er hat durch all das an den jungen Völkern, die erst nach der Völkerwanderung zur Seßhaftigkeit und zum Ackerbau übergingen, ein gewaltiges Erziehungswerk vollbracht.

«Stadtluft macht frei»

Im weiteren Verlaufe des Mittelalters erneuerte sich dann zwar, freilich in einer christlichen Variante, das alte Kastensystem in der damals entstandenen Ständeordnung, innerhalb deren es auch von oben nach unten den Lehrstand, den Wehrstand und zuunterst den Nährstand unterscheidet. Wiederum lag die Herrschaftsfunktion bei den Vertretern des geistig-religiösen Lebens, bei den Priestern, beim Klerus, bei der Kirche. Die Repräsentanten der körperlichen Arbeit, der wirtschaftlichen Betätigung, Bauern und Handwerker, waren die dienende Klasse. Und erst innerhalb der spätmittelalterlichen Städtekultur, die ja dadurch sich entfaltete, daß in immer größerer Zahl Handwerker vom Lande her aus den Dörfern in die Städte zogen, um sich der auf dem Lande herrschenden Untertänigkeit und Abhängigkeit zu entledigen – denn die Stadtluft machte damals frei –, innerhalb dieser spätmittelalterlichen Städtekultur stieg dann der in den Zünften organisierte Handwerkerstand, indem er auch die politische Verwaltung der Städte erlangte, zu einer politischen Machtstellung auf, durch welche er, zumal in den freien Reichsstädten, den Territorialfürsten als ebenbürtiger Partner sich zur Seite stellen konnte. Ein analoger Versuch der Befreiung wurde am Ende des Mittelalters in verschiedenen europäischen Ländern auch vom Bauerntum unternommen, aber er wurde zunächst noch blutig unterdrückt. Ein nächster Schritt auf dem Weg zur Freiheit ist dann die große Französische Revolution vom Ende des 18. Jahrhunderts, denn in ihr wurde das Ständesystem mit den Herrschaftsprivilegien der oberen Stände und den Untertänigkeitsverhältnissen der unteren Stände in aller Form beseitigt. Und der dritte Stand, le tiers état, der ehemalige Nährstand, jetzt Bürgertum genannt, ergriff die politische Macht im Staate als solchem und brachte damit auch dem Bauerntum zugleich die Befreiung aus der Leibeigenschaft und der Untertänigkeit. Mit diesem Aufstieg des dritten Standes, des ehemaligen Nährstandes, also des Repräsentanten der wirtschaftlichen Arbeit, stieg zugleich das Wirtschaftsleben als solches zu jener dominierenden Rolle auf, die es seither innerhalb unseres sozialen Lebens spielt. Und diese dominierende Rolle wurde ja bekanntlich sehr rasch zu einer allbeherrschenden dadurch, daß gleichzeitig mit der französischen politischen Revolution die industrielle Revolution in England stattfand. Diese leitete jenen Aufschwung des Wirtschaftslebens ein, wie ihn die Welt vordem niemals gesehen hatte.

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Die Entstehung des Industrialismus brachte aber zugleich eine neue Schichtung der Gesellschaft in eine herrschende und eine dienende Klasse mit sich, in der sich noch ein weiteres Mal in einer seltsamen Abart das alte Herrschaftssystem erneuerte. Zwar war es wiederum der Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, der diese beiden neuen Klassen, die der Unternehmer und die der Arbeiter, voneinander unterschied. Denn der Unternehmer betätigt ja geistige Fähigkeiten, die der Initiative, der Planung, der Organisation, der Betriebsleitung, der Menschenführung; der Arbeiter dagegen nur die Geschicklichkeit seiner Hände. Nur ist jetzt dieser Unterschied nicht mehr identisch mit dem zwischen dem geistig-religiösen und dem materiell-wirtschaftlichen Leben. Denn auch die geistige Betätigung des Unternehmers vollzieht sich ja ganz und gar im wirtschaftlichen Bereich. Beide Klassen, sowohl die Unternehmer- wie die Arbeiterklasse, sind ja, wenn auch in gegensätzlicher Weise, die charakteristischen die hauptsächlichen Repräsentanten des modernen Wirtschaftslebens. Von noch größerer Bedeutung als der soeben genannte Unterschied zwischen ihnen ist freilich jener, der seinen nacktesten, offensten Ausdruck findet in der englischen Bezeichnung der beiden Klassen: als der «possessing class» und der «working class», der besitzenden und der arbeitenden Klasse, wobei im Besitz derjenige der industriellen Produktionsmittel gemeint ist. Wie nun dieser Unterschied zwischen Besitz und Arbeit und damit zwischen Herrschen und Dienen, zwischen Befehlen und Gehorchen, sich in der Frühzeit des Industrialismus ausgewirkt hat, das ist ja allzu bekannt, als daß ich es hier zu schildern brauche. Daß aber allein der Unterschied zwischen Besitz und Arbeit all dies sollte zur Folge haben dürfen, das war es, was die Arbeiterklasse im Innersten verletzte und empörte und was sie zur Auflehnung gegen diese Verhältnisse und zur Entfesselung des Klassenkampfes gegen das Unternehmertum veranlaßte. Die Arbeiter wollten sich auch als arbeitende, ja insbesondere als arbeitende Menschen die volle Würde des Menschentums zuerkannt sehen, mit all den Ansprüchen auf ein menschenwürdiges Dasein, zu denen eben diese Würde berechtigt. Und das war es, was allen ihren Kämpfen um Erhöhung des Lohnes, um Verkürzung der Arbeitszeit, um soziale Sicherung usw. zutiefst zugrunde lag. Und Karl Marx, der, mehr als er sich dessen bewußt war, in Vorstellungen des alttestamentlichen Prophetismus und Messianismus lebte, erblickte ja in den modernen Arbeitern geradezu diejenigen, denen in unserer Zeit die Rolle des auserwählten Volkes zugefallen ist, das dazu berufen ist, mit seiner Befreiung aus der Knechtschaft seiner Lohnsklaverei, mit der Abschüttelung der Herrschaft der Kapitalisten, mit der Herbeiführung einer klassenlosen Gesellschaft die Menschheit aus dem Zustand ihrer Selbstentfremdung, ihrer Selbstentwürdigung zu erlösen und allererst zu einer wahrhaft menschenwürdigen Daseinsordnung zu führen. Ihm erschien gerade der Arbeiter in besonderer Weise dazu prädestiniert, das Element des rein Menschlichen zur Geltung und zur Anerkennung zu bringen, weil eben gerade in der Arbeit der Mensch am meisten das erleben kann, was sein Menschentum begründet.

Die Art freilich, wie dann im 20. Jahrhundert in Osteuropa nach marxistischem Rezept die soziale Revolution, die Expropriation der Expropriateure, die Überführung des Kapitalbesitzes, des Privateigentums in das sogenannte Eigentum der Allgemeinheit durchgeführt wurde, ist dann zur schwersten Enttäuschung geworden, welche die Menschheit in unserem Jahrhundert erlebt hat. Denn sie hat gezeigt, daß auf diesem Wege die Lohnsklaverei der Arbeiterschaft nicht beseitigt wurde, sondern nur an die Stelle der Einzelkapitalisten der Staat als Universalkapitalist getreten ist, repräsentiert durch die ihn beherrschende kommunistische Partei, die nun als die neue Herrscherklasse ihr diktatorisches, ihr tyrannisches Regiment ausübt. Diese enttäuschende Erfahrung hatte zur Folge,

[Die Kommenden, 21. Jg., 1967, Nr. 6, 25.03.1967, S. 8]

daß die Arbeiterklasse Mittel- und Westeuropas im ganzen gesehen sich mit der sogenannten privatkapitalistischen Wirtschaft abgefunden hat und sie heute im Prinzip bejaht. Nur daß sie eben in dem Klassenkampf, den sie nun einmal als mit dieser Wirtschaftsform unzertrennlich verbunden betrachtet, heute so viel wie irgend möglich an Gewinn und Macht für sich herauszuschlagen versucht. Und so tobt ja heute in der westlichen Welt der Klassenkampf so heftig wie nur jemals. Wir brauchen nur an die Streikwellen zu erinnern, von denen die westliche Welt ständig heimgesucht wird. In diesem Kampfe ist allerdings die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ununterbrochen andauernde Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung sowie die durch die Rationalisierung und Automation rapid gesteigerte Produktivität der Wirtschaft der Arbeiterklasse mächtig zu Hilfe gekommen. Und so hat sie ja weitere Verkürzungen der Arbeitszeit, Erhöhung ihres Realeinkommens und einen weiteren Ausbau der Sozialversicherung errungen. Heute fordern in Deutschland die Gewerkschaften nichts Geringeres als die Mitbestimmung in der Führung der Betriebe für den gesamten Umfang der Industrie. So fragwürdig diese Forderung auch sein mag in der Art, wie sie heute erhoben wird, so sehr in ihr auch zum Ausdruck kommt der Machtwille der Gewerkschaften, so wirkt doch auch in ihr, soweit sie von der Arbeiterschaft erhoben wird, wenn auch heute tief ins Unterbewußtsein hinuntergedrängt, noch mit das Verlangen nach der Anerkennung, der Respektierung der vollen Menschenwürde, des vollen Menschenrechtes für die arbeitende Klasse.

Die Vermenschlichung der Arbeitswelt

Dieses Verlangen kann allerdings nicht gestillt werden durch bloß materielle Errungenschaften, auch nicht durch jene vielfach noch nebulose Form einer Mitbestimmung, wie sie heute verlangt wird, Es muß vielmehr noch ein weiteres hinzukommen, wenn ich ungeschminkt meine Meinung zum Ausdruck bringen darf – nämlich dieses, daß wir in Europa allmählich hinauskommen über die unfruchtbare Alternative zwischen Privatwirtschaft und verstaatlichter Wirtschaft und vordringen zur Ausbildung neuer Eigentumsformen für die industriellen Produktionsmittel, welche auf der einen Seite der Unternehmungsführung die volle Freiheit in der Leitung des Betriebs gewährleisten, die sie unbedingt braucht, aber auf der anderen Seite doch auch dem Arbeiter zugleich die Berechtigung verschaffen, sich nicht nur als Verkäufer seiner Arbeit zu fühlen, sondern als Mitglied einer wirklichen Betriebs- oder Produktionsgemeinschaft, als Mitarbeiter an einer gemeinsamen Produktion, aus deren Erlös er auch einen angemessenen Anteil beanspruchen darf. Irgendwann wird einmal an die Stelle des heutigen Lohnverhältnisses ein Verhältnis echter Mitarbeiterschaft treten müssen, das dann auch seinen Ausdruck finden wird in entsprechenden Rechts- und Eigentumsformen. Wenn die nach dem Kriege aufgetretenen Bemühungen um eine Betriebspartnerschaft nicht zu einem rechten Erfolge geführt haben, so auch deshalb, weil sie nicht fortgeführt worden sind bis zur Herausbildung neuer Eigentumsformen.

Verlängerung der Bildungszeit

Das allein wird freilich noch nicht genügen, um der Menschenwürde des Arbeiters völlig Genüge zu leisten. Es muß ein weiteres hinzukommen. Die körperliche Arbeit hat ja an Mühseligkeit durch die Technik sehr viel verloren. Aber sie hat dafür eine Reihe anderer Übel eingetauscht. Sie ist auf der einen Seite immer mehr entseelt worden dadurch, daß sie heute fast nur mehr in Verbindung mit mechanischen Apparaturen verrichtet wird, und sie ist durch die ins Uferlose fortgeschrittene Arbeitsteilung in einem solchen Grade spezialisiert worden, daß sie nur noch einen geringen Bruchteil der dem Menschen innewohnenden Kräfte in Anspruch nimmt, während der weitaus größere Teil unbeschäftigt bleibt. Schon allein diese Umstände bedingen eine entsprechend zunehmende Verlängerung der Freizeiten, damit der Arbeiter die Möglichkeit findet, während derselben die Entseelung und die Vereinseitigung der Arbeit durch entgegengesetzt geartete Beschäftigung in einer entgegengesetzt gearteten Umgebung immer wieder ausgleichen zu können. Die moderne Wirtschaft ermöglicht durch ihre fast ins Unermeßliche gesteigerte Produktivität denn auch eine solche ständige Verlängerung der Freizeit. Aber wie ich schon bemerkt habe: diese Verlängerung wird einmal auch in der Richtung erfolgen müssen, daß der heranwachsende Mensch bis zur Erlangung seiner Volljährigkeit von wirtschaftlicher Tätigkeit befreit bleibt und sich ausschließlich seiner Erziehung und Bildung widmen kann. Denn nur dann wird er die Möglichkeit finden, später von seiner Freizeit einen vernünftigen, einen sinnvollen, einen produktiven Gebrauch zu machen. Und auch nur dann, wenn für alle Menschen durch eine entsprechend verlängerte Schulerziehung bis zur Volljährigkeit hin einmal die gleichen Chancen der Erziehung und der Bildung eröffnet sind, wird der soziale Minderwertigkeitskomplex, das Ressentiment der arbeitenden Klasse gegenüber der bürgerlichen verschwinden können, werden sozusagen die psychologischen Mauern, die heute die beiden Klassen noch voneinander scheiden, abgebaut werden können. Und von einer ganz besonderen, heute noch viel zu wenig gesehenen Bedeutung ist gerade der Zeitraum zwischen der Pubertät und der Mündigkeit, etwa vom 14. bis zum 21. Jahre. Es ist nicht nur die Zeit, in der im äußerlichen Sinne des Wortes die sogenannte höhere Bildung beginnt, sondern auch die Zeit, in der der höhere Mensch im Menschen recht eigentlich erwacht oder erweckt werden will durch die entsprechende Erziehung. Und wenn eben diese Erweckung des eigentlich Menschlichen im Menschen ihm dadurch verunmöglicht wird, daß er schon mit 14, 15 Jahren in die wirtschaftliche Arbeit eingespannt wird, dann darf man sich nicht darüber wundern, daß, wie hier ja auch in der Diskussion berichtet worden ist, die Arbeiter dann keinen Sinn, kein Interesse haben für eine Vermenschlichung der Arbeitsgestaltung in der industriellen Welt.

Sinnerfüllung in der Arbeit

Aber zu all dem wird noch ein letztes hinzukommen müssen. In unserer technisch-industriellen Welt wird der arbeitende Mensch überhaupt – ich meine jetzt nicht nur den Arbeiter im engsten Sinne des Wortes, sondern den beruflich arbeitenden Menschen überhaupt – in seiner beruflichen Arbeit unmittelbar als solcher wegen der durch die Technik bewirkten Entseelung und Vereinseitigung dieser Arbeit immer weniger und weniger eine volle Erfüllung seines Lebens, eine volle Verwirklichung seiner Menschenbestimmung finden können. Und was er da nicht finden kann, vermag ihm auch eine noch so schöne, noch so fruchtbare Freizeitbeschäftigung nicht voll zu ersetzen. Geschähe dieses, so hätte das nur zur Folge, daß der Mensch das Interesse an seiner beruflichen Arbeit immer mehr verliert und diese immer mehr nur noch als ein Mittel des Gelderwerbs betrachtet. Es würde dadurch, wie es ja heute tatsächlich schon in weitgehendem Maße der Fall ist, die Arbeitsmoral, das Arbeitsethos in der Wirtschaft immer mehr dahinschwinden.

Es muß also die Sinnerfüllung des menschlichen Lebens dennoch in der beruflich-wirtschaftlichen Arbeit gesucht und gefunden werden, nur eben auf eine ganz neue Weise, nämlich durch die Art und in der Art, wie der Mensch durch seine berufliche Arbeit, möge sie von welcher Art immer sein, sich in das soziale Ganze, in die menschliche Gesellschaft hineinstellt, wie er dem Wohle der Menschheit, der Menschengemeinschaft durch seine Arbeit dient. Dazu ist allerdings ein zweifaches notwendig. Einmal soll der Arbeiter nicht immer nur sich als Verkäufer seiner Arbeit fühlen, sondern als vollberechtigter Mitarbeiter an einer gemeinsamen Produktion, als Mitglied einer Produktionsgemeinschaft, als Mitteilhaber eines Produktions- oder Dienstleistungsbetriebes. Nur dann wird er nämlich auch das volle Interesse an der Produktion, an der wirtschaftlichen Leistung des Betriebes gewinnen können, nur dadurch wird er sich auch mitverantwortlich fühlen für die Art, wie sein Betrieb in den Gesamtwirtschaftsprozeß sich hineinstellt. Und es wird dazu kommen müssen, daß von seiten der Betriebsleitungen in angemessenen, geeigneten Formen Information, Aufklärung, Orientierung der Arbeiterschaft, der Belegschaften eingeführt wird über die Art und Weise, wie ein Betrieb im Gesamtwirtschaftsprozeß, in der sozialen Gemeinschaft der Menschheit drinnen steht. Nur dann, wenn der Arbeiter Einblick, Überblick gewinnt über das, was ihm heute ja völlig undurchschaubar, völlig undurchsichtig ist, dann wird er die Möglichkeit gewinnen, nicht nur mit seiner Hand, sondern auch mit seinem Kopf, nicht nur mit seinem Leib, sondern auch mit seinem Geist, seinem Bewußtsein, das heißt mit seinem ganzen Menschen, sich in die Arbeit hineinzustellen, so daß er in ihr auch die Erfüllung eines menschlichen Sinnes erleben kann.

Alle diese Dinge sind freilich nicht in kurzer, Zeit zu erringen. Sicher ist, daß die eigentliche Aufgabe, welche unsere Zeit uns stellt, weder in der Sozialisierung oder Kommunistizierung der Wirtschaft im bisher dogmatisch verstandenen Sinn besteht, noch in einer Demokratisierung, wie man sie sich heute unter der Forderung der Mitbestimmung noch vielfach vorstellt. Es geht vielmehr um eine Humanisierung der Wirtschaft. Obgleich wir das wissen, ist es ebenso wichtig, daß wir uns darüber klar werden, wo der Ansatzpunkt zu finden ist für dieses Bemühen. Oder anders ausgedrückt: welches auf diesem Wege der erste, welches der zweite und welches der dritte Schritt sein soll. Die drei Schritte aber sind: Lehrerbildung – Erziehung – Wirtschaftsreform.

Vielleicht mag es viele schockieren, aber es ist so: Was in dieser Hinsicht in

[Die Kommenden, 21. Jg., 1967, Nr. 6, 25.03.1967, S. 9]

der Wirtschaft geschehen kann, ist nicht der erste, sondern der dritte Schritt. Der Reform der Wirtschaft muß zunächst eine Reform unseres Erziehungswesens vorausgehen. Die wichtigste Aufgabe der Wirtschaft – wenn auch nicht ihre ausschließliche – besteht darin, den materiellen Bedarf der Menschheit zu decken. Der Erziehung ist eine andere gestellt: Ihr ureigener Auftrag, sozusagen ihre Aufgabe von Amtes wegen, liegt in der Bildung des Menschen zum Menschen. Eine andere Aufgabe hat die Erziehung nicht, weil der Mensch als einziges Wesen, das der Erziehung bedürftig und fähig ist, nur durch sie voll Mensch werden kann. Solange aber unsere Erziehung das bleibt, was sie heute ist, im wesentlichen nämlich Wissensvermittlung, intellektuelle Dressur, Ausbildung zu beruflichem Spezialistentum; solange sie einen großen Teil der Bevölkerung von dem Alter an vorenthalten wird, in dem sie eben gerade noch dringend notwendig wäre, vom Alter der Pubertät an, solange können wir von der Arbeiterschaft gar nicht verlangen, daß sie einen Sinn entwickelt für das, was wir Vermenschlichung der Wirtschaft nennen. Erst dann, wenn wir unser Erziehungswesen in dem Sinn umgestalten, daß es seine eigentliche Aufgabe ergreift, Menschen zu Menschen zu machen; wenn sie nicht nur den Intellekt, sondern auch die Kräfte des Gemütes und die sittlichen Kräfte im Charakter des Menschen heranbildet, dann erst werden wir auch allmählich erwachsene Menschen zur Verfügung haben, die Anteil nehmen an den Bestrebungen zur Vermenschlichung der Wirtschaft.

Doch kann die Reform der Erziehung wiederum nur der zweite Schritt sein und nicht der allererste. Stellt man die Frage, wer denn nun eigentlich diese Form der Erziehung übernehmen soll, so kommt man erst an den Anfang. Wer kann überhaupt in einer solchen Weise erziehen? Wir stoßen damit auf das Problem der Lehrerbildung, und über das Weltbild, das heute ein Lehrer vom Seminar in die Schulstube bringt, ist einiges zu sagen.

Die Wurzel des Übels: eine Naturwissenschaft ohne Mensch

Wir leben im Zeitalter der Industrie, vor allem der Technik. Aber das ist keine vollständige Charakteristik unserer Zeit. In geistiger Beziehung nämlich leben wir im Zeitalter der Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaft ist die allesbeherrschende Macht des modernen Geisteslebens geworden. Sie ist auch die Schöpferin der Technik. Diese Naturwissenschaft ist heute so übermächtig geworden, daß die meisten Menschen, wenn von Wissenschaft die Rede ist, sich überhaupt gar nichts anderes vorstellen können als Naturwissenschaft.

Diese Naturwissenschaft hat auch die sogenannten Kulturwissenschaften völlig überwältigt. Soziologie, Psychologie, Geschichte usw. arbeiten heute durchaus nach naturwissenschaftlichen, quantitativ mathematischen Methoden. Und die Folge davon ist, daß sie das eigentlich Menschliche im Menschen gar nicht zu erfassen in der Lage sind. Die moderne Naturwissenschaft hat das frühere religiös geartete Menschenbild zerstört, sie hat aber an dessen Stelle kein neues wissenschaftliches Bild vom Wesen des Menschen aufgebaut, in dem der Mensch als das erscheint, was er wirklich ist.

Die moderne Naturwissenschaft sieht im Menschen nur das höchstentwickelte Tier, ein bloßes Naturwesen. Es ist darum nur folgerichtig, wenn die Freudsche Psychoanalyse den Grundtrieb der menschlichen Seele demgemäß im Begattungstrieb erblickt und alle kulturelle Betätigung nur als eine sublimierte Art der Auslebung des Sexualtriebs betrachtet. Wir haben entweder heute ein völlig verzerrtes Bild vom Wesen des Menschen, auf dem das eigentlich Menschliche gar nicht zur Erscheinung kommt, oder wir haben überhaupt kein Bild vom Wesen des Menschen.

Ein weltberühmter Naturforscher, der Nobelpreisträger Alexis Carrell, hat vor dreißig Jahren ein sehr berühmtes Buch geschrieben, dem er den Titel gab: «Der Mensch, das unbekannte Wesen», worin er in sehr eindringlicher Weise von verschiedensten Ausgangspunkten her nachgewiesen hat, daß der Mensch für die moderne Wissenschaft das unbekannte Wesen geblieben sei, daß die neuere Wissenschaft nicht wisse, was das Wesen des Menschen ausmache. Und ich möchte auf ein weiteres Buch hinweisen, das vor einigen Jahren erschienen ist, eine der gewichtigsten Publikationen unserer engeren Gegenwart überhaupt, geschrieben vom Bonner Soziologen und Universitätsprofessor Friedrich Wagner. Es ist das Buch «Die Wissenschaft und die gefährdete Welt». Wagner weist in einer sehr eingehenden Darstellung der modernen Wissenschaftsentwicklung und auf Grund von unendlich vielen Belegen nach, daß in unserer Zeit der Menschheit in Gestalt der modernen Naturwissenschaft ein Feind erstanden ist von einer Gefährlichkeit, wie es sie noch niemals in der Welt gegeben hat. Die moderne Menschheit ist heute vor die entscheidenste Entscheidung ihrer Geschichte gestellt: entweder gegenüber der Wissenschaft abzudanken oder sich dieser Wissenschaft gegenüber zu behaupten.

Einige Verbreitung gefunden hat auch das Buch «Die Menschenmacher», worin über die Vorträge berichtet wird, welche ein Kollegium der führenden Biologen und Genetiker der Gegenwart, zum Teil Nobelpreisträger, vor einigen Jahren in London gehalten hat. In diesen Referaten wird die Meinung vertreten, daß der Mensch so, wie ihn die Natur geschaffen hat, ein unvollkommenes Wesen sei, das verbessert werden müsse; daß er vor allen Dingen für die technische Welt gar nicht ganz geeignet sei und daß deshalb auf künstlichem Wege, durch künstliche Hervorrufung von Mutationen, durch künstliche Befruchtung usw. ein neuer Menschentyp gezüchtet werden müsse, der den Bedingungen des technischen Zeitalters der Zukunft wirklich angepaßt sei. Der Mensch, so wie er ist, wie ihn die Natur hervorbringt, eignet sich nicht dazu. Es ist heute das erklärte Ziel nicht von Außenseitern, sondern der führenden Biologen, aus der Menschheit auf künstliche Weise einen neuen Menschen zu züchten, der eben der Mensch des technischen Zeitalters wäre. Das würde aber bedeuten, so schreibt Friedrich Wagner, daß das, was auf diesem Gebiet durch den Hitlerschen Nationalsozialismus geleistet und angestrebt worden ist, ein Kinderspiel bedeutet gegen die Entwicklung, welche wir zu erwarten haben. Die Konsequenz wäre nichts Geringeres als die Vernichtung der Menschheit durch die Wissenschaft.

Hier liegt das eigentliche Problem, vor allen Dingen auch das Problem der Technik. Von ihr aus geht eine entmenschende Wirkung aus, der die Menschen heute kaum mehr gewachsen sind. Wie aber soll der Mensch diese Technik meistern und sie zum Guten anwenden, wenn ihm die Wissenschaft gar nicht sagt, was menschenwürdig, was des Menschen würdig ist? Wenn jene Wissenschaft, die offiziell an unseren Bildungsstätten vertreten ist, der Meinung ist, nicht die Technik müsse sich dem Menschen anpassen, sondern der Mensch müsse umgebildet werden zu einem Produkt, das in die technische Welt hineinpaßte! Wie soll der Mensch der Technik gewachsen sein, da ihm von wissenschaftlicher Seite keinerlei Hilfe und Unterstützung entgegengebracht wird?

Was uns not tut

Und in derselben Lage befindet sich auch der Wissenschafter. Wie soll denn unsere Wirtschaft vermenschlicht werden, wenn unsere Wissenschaft so, wie sie an unseren Bildungsanstalten gelehrt wird, zur größten Feindin des Menschen geworden ist? Was wir also zuallererst brauchen, ist eine Umwälzung auf dem Gebiet der Wissenschaft, in einer ähnlichen Art, wie sie im 15. Jahrhundert stattgefunden hat, als die Naturwissenschaft entstand. Wir brauchen vor allen Dingen die Erarbeitung einer wirklichen Wissenschaft vom Menschen, die uns den Menschen so zeigt, wie er ist, die uns sagt, was seine Würde, seine Stellung im Weltall ausmacht, damit wir uns an diesem Bild des Menschen orientieren können.

Diese Umwälzung ist in der Tat auch schon im Gang. Die Besten unserer Zeit suchen nach einem solchen wahrhaft menschenwürdigen Menschenbild. Erst dann aber, wenn wir ein solches wissenschaftliches und zureichendes Bild vom Wesen des Menschen erarbeitet haben, werden wir auch Lehrer ausbilden können, die in der Lage sind, heranwachsende Kinder zu wirklichen Menschen zu bilden. Und dann wiederum werden wir mit Erfolg den dritten Schritt machen können, der darin besteht, auch die Wirtschaft bis in alle ihre Verrichtungen hinein wirklich zu durchmenschlichen, damit der Mensch als Mensch in der Wirtschaft leben kann. Billiger und einfacher und kürzer ist diese Aufgabe nicht zu lösen. Aber der Weg ist da, er kann erkannt werden. Und wenn dieser Weg vom ersten zum zweiten zum dritten Schritt durchmessen wird, werden wir auch jene soziale Gestaltung erreichen können, mit der für die Menschheit eine menschenwürdige Zukunft erkämpft ist.

[Die Kommenden, 21. Jg., 1967, Nr. 6, 25.03.1967, S. 10]