Vier Fragen zur Eurokrise

01.11.2011

Mittlerweile fragen sich wohl zunehmend mehr europäische Bürger, was in Europa und der sogenannten Eurozone eigentlich los ist. Wer ist eigentlich verantwortlich für das, was sich da, scheinbar ohne unser aller Zutun, gerade ereignet? Doch kaum jemand, der nicht mindestens über ein volkswirtschaftliches Studium (und das Studium von Rudolf Steiners Nationalökonomischem Kurs) verfügt, kann hier zurzeit von sich behaupten, er verstünde noch, was da täglich in den Zeitungen zu lesen ist. Die Redaktion der „Mitteilungen“ stellte daher vier Fragen an den Volkswirt und Geschäftsführer unserer Mercurial Publikationsgesellschaft, Stephan Eisenhut, wie sich die Dinge aus der Sicht eines anthroposophisch geschulten Blickes auf die Volkswirtschaften der Erde heute darstellen.
Andreas Neider

Andreas Neider: Rudolf Steiner hat bereits 1908 im Apokalypse-Zyklus (7. Vortrag) vor der Entpersonalisierung des Kapitals gewarnt und deren Folgen vorher gesagt. Heute erleben wir diese in einem bisher nicht dagewesenen Maße. Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass spekulative Geldgeschäfte, wie etwa Wetten auf den Bankrott eines Staates, zu lukrativen Geschäften geworden sind?

Stephan Eisenhut: Die Bedingungen für das Wetten auf den Bankrott eines Staates haben die Staaten selbst geschaffen. Und zwar deshalb, weil die Politiker in einer bestimmten Art des Denkens befangen sind. Dabei ist allerdings auch wichtig zu bemerken, dass zwischen dem Denken, aus dem heraus Regierungen das Geschäft des politischen Staates betreiben, und dem Denken, aus dem die leitenden Vertreter der Banken handeln, heute kein wesentlicher Unterschied besteht. Beide tun so, als ob die Einrichtungen, die sie verwalten, Wirtschaftsunternehmen seien. Und man glaubt, dass sowohl dieses Wirtschaftsunternehmen „Staat“ als auch das Wirtschaftsunternehmen „Bank“ sich im großen Kampf ums Dasein behaupten müsse. Josef Ackermann begründete einmal sein Ziel, 25% Eigenkapitalrendite zu erwirtschaften, damit, dass, wenn er nicht eine solche Größenordnung anstrebe, die Deutsche Bank zum Übernahmekandidaten für die großen amerikanischen Investmentbanken werde. Denn für diese sei eine so hohe Eigenkapitalrendite eine Selbstverständlichkeit. Wenn Europa stark sein wolle, so Ackermann, dann brauche es eigenständige, starke europäische Banken.

Den Machtpolitikern, die den Staat wie ein Wirtschaftsunternehmen behandeln, leuchtet eine solche Argumentation natürlich sofort ein. Wenn das eigene Land wettbewerbsmäßig gut aufgestellt sein soll, dann braucht es eigenständige „nationale Champions“, die in der "Weltliga" der "Global Players" ganz vorne mitspielen. Diese, allen voran die „eigenen“ Banken, müssen also entsprechend von der Politik gehätschelt werden.

Diese Art des politischen Denkens unterliegt einer Illusion, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Denn zum einen stellt sich doch die Frage, inwieweit eine Aktiengesellschaft wie die „Deutsche Bank“ eigentlich wirklich ein nationaler Champion sein kann? Die Aktionäre dieser Bank sind mittlerweile mehrheitlich gar nicht mehr im Inland ansässig. Zwar sind die Aktien im Streubesitz, das heißt es gibt scheinbar keinen Großaktionär mit dominierender Stellung. Doch sind die Besitzer der Firmenanteile zumeist selbst wieder Aktiengesellschaften. Man muss also erst einmal untersuchen, wie diese ganzen Aktiengesellschaften miteinander verflochten sind, wenn man verstehen will, von woher eigentlich ein dominierender Einfluss auf diese Gesellschaften ausgeübt werden kann. Es wird sich dann zeigen, dass die Fäden bei einer relativ kleinen Gruppe von Menschen zusammenlaufen, die den überwiegenden Teil der weltweiten Vermögenswerte besitzen und die man nicht wirklich national verorten kann. Die Frage ist hier jedoch, ob diese kleine Gruppe wirklich aktiv handelt, in dem sie die Kapitalströme bewusst kontrolliert und steuert, oder ob sie nicht selbst wiederum nur vom System Getriebene sind und ihr Einfluss sich lediglich nur darin erschöpft, möglichst an oberste Stelle zu bleiben.

Wenn also eine Regierung ihre „nationalen Champions“ hätschelt, dann hätschelt sie letztendlich nur diese kleine internationale Elite der Superreichen, die mit den schwerfälligen staatlichen Organisationen ein leichtes Spiel hat. Sie verkauft den jeweiligen Landespolitikern die international agierenden Großbanken als nationalen Champion und macht sie dadurch ihren Interessen gefügig. Der Begriff des „nationalen Champions“ ist eine Chimäre, weil er suggeriert, dass die durch das politische Gebiet eingegrenzten Volkswirtschaften miteinander in Wettbewerb stünden. Der Politiker muss aus dieser Denkhaltung heraus natürlich dafür sorgen, dass die „Wettbewerbsfähigkeit“ seines Landes erhalten bleibt. Er will sein Land strategisch geschickt organisieren. De facto verhält er sich so, als ob er im Krieg mit anderen Ländern stehe. [1] Ein Krieg muss ja nicht unbedingt mit militärischen Mitteln ausgetragen werden. Auch wenn die Regierenden der verschiedenen Staaten sich immer wieder auf internationalen Krisengipfeln treffen und sich scheinbar um Verständigung bemühen, müssen sie doch, wenn sie in diesem organisatorischen Denken befangen sind, sich wie Feldherren verhalten, die die wirtschaftlichen Interessen ihres Landes verteidigen. Die Folgen dieser Denkhaltung für das politische System erleben wir gerade in der Finanzkrise. Die politisch Entscheidenden sind nur noch Getriebene und die demokratischen Entscheidungsprozesse verkommen zur Farce.

Dass ein Staat nicht wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt werden kann, ist noch relativ leicht einsichtig.

Viel schwerer ist zu erkennen, dass auch eine Bank nicht wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt werden kann. Um das zu durchschauen, muss erst ein vernünftiger Kapitalbegriff gebildet werden. Man kann dann bemerken, dass gerade das organisatorische Denken, welches im politischen Leben die Aushöhlung der Demokratie bewirkt, im wirtschaftlichen Leben zur Kapitalbildung führt. Kapital entsteht da, wo der menschliche Geist durch seine Organisationskraft menschliche Arbeit erspart. Aber man darf eben das Kapital nicht nur von der Entstehungsseite betrachten. Denn dann versteht man es nur halb und die unverstandene andere Hälfte setzt eine Dynamik in Gang, auf die Rudolf Steiner eben 1908 in dem Apokalypse-Zyklus schon hinweist. Man muss das Kapital auch von seiner Verwendungsseite her betrachten. Und da zeigt sich, dass das Wesen des Kapitals eigentlich darin liegt, dass ein Freiraum entsteht: der Mensch ist ja durch den Geist von Arbeit befreit worden. Wenn nun Rudolf Steiner 14 Jahre später im Nationalökonomischen Kurs nach dem Wert des Kapitals fragt, dann stellt er eigentlich die Frage nach dem Wert dieses Freiraums. [2] Das ist durchaus eine wirtschaftliche Frage, aber in viel höherem Maße ist es eine Kulturfrage! Denn wenn man diesen Freiraum nur dazu nutzt, um das Wirtschaftsleben immer besser und besser zu organisieren, dann wird das Wirtschaftsleben nicht stärker, sondern beginnt immer mehr an seiner eigenen Organisation zu ersticken. Ein gesundes Wirtschaftsleben ist geradezu darauf angewiesen, dass die in ihm wirkenden Organisationskräfte durch das Kulturleben zurückgedrängt werden. Das geht aber nur, wenn dieses Kulturleben auch wirklich aus einer inneren Kraft heraus arbeitet und nicht nur schreit: Befreit uns, befreit uns, gibt uns Einkommen!

Die Ideologie des Neoliberalismus wird heute von vielen Menschen als Hauptgrund für die gegenwärtige Krise ausgemacht. Das ist auch nicht ganz falsch, nur wird in der Regel etwas Entscheidendes übersehen: Neoliberale Denker haben ein ausgesprochen gutes Gespür dafür, dass der Staat nicht Organisator sein darf, sondern lediglich über die Einhaltung von Recht und Ordnung zu wachen hat. Der Staat ist nicht die Instanz, die den wirtschaftlichen Warenverkehr regulieren kann. Wofür diese Denker hingegen gar kein Gespür haben, ist, dass der gesamte Bereich der Kapitalverwaltung nicht unter dem wirtschaftlichen Organisationsgesichtspunkt betrieben werden kann. Kapital wird als eine besondere Art von Ware angesehen. Wenn nun der Warenverkehr nicht durch den Staat reguliert werden darf, so muss selbstverständlich auch der Kapitalverkehr möglichst weltweit liberalisiert werden. Diese Auffassung konnte sich in den letzten Jahrzehnten auch immer mehr durchsetzen. Weil Kapital seinem Wesen nach etwas ganz anderes ist, als eine Ware, ist nun eine merkwürdige Dialektik entstanden: Denn je stärker der Kapitalverkehr liberalisiert wurde, desto mehr haben sich die Staaten genötigt gesehen, an anderer Stelle in das Wirtschaftsleben regulierend und organisierend einzugreifen. Je mehr aber die Staaten sich als Wirtschaftsorganisator betätigt haben, desto mehr sind sie wiederum Spielball der freien Kapitalmärkte geworden.

Man kann eine Antwort auf die oben gestellte Frage, wie es dazu kommen konnte, dass spekulative Geldgeschäfte, wie etwa Wetten auf den Bankrott eines Staates zu lukrativen Geschäften geworden sind, darin sehen, dass eine Form des Denkens, die im Wirtschaftsleben bis zu einem gewissen Grade angewendet werden muss, auf die Bereiche des Rechtsleben und des Geistesleben übertragen wird. Diese Bereiche können sich nicht gegenseitig befruchten, wenn sie nicht aus ihren eigenen Qualitäten arbeiten. Stattdessen führt das gefallene Geistesleben in Form der Finanzmacht Krieg gegen den politischen Staat und das eigentliche Wirtschaftsleben, oder anders ausgedrückt: Es führen diese Bereiche alle gegeneinander Krieg.

Andreas Neider: Trägt Deutschland nicht Mitschuld an der stümperhaften Einführung des Euro als europäischer Einheitswährung? Hätte man damals nicht viel strengere Kriterien bei dessen Einführung walten lassen müssen?

Stephan Eisenhut: Die Einführung einer europäischen Einheitswährung war ja keine deutsche Idee, sondern es war das der Preis, den Helmut Kohl für die deutsche Einheit vordergründig gewissermaßen an Frankreich zu zahlen hatte. Mitterrand hatte die Einführung des Euro zur Bedingung für die Zustimmung zur Wiedervereinigung gemacht. [3] Das heißt der Euro ist nicht aus ernsthaften wirtschaftlichen Überlegungen sondern aus politisch-strategischen Überlegungen geschaffen worden. Aus Sicht des Westens muss Deutschland so fest in Europa eingebunden werden, dass seine Wirtschaftsmacht neutralisiert werden kann. Natürlich hat Deutschland versucht, darauf zu reagieren und man kann sich fragen, ob die Strategie des Westens gescheitert ist und Deutschland durch den Euro nicht noch mächtiger geworden ist. Denn der deutschen Wirtschaft wurden durch die Einheitswährung innerhalb Europas enorme Absatzmöglichkeiten geschaffen. Das war aber nur möglich, in dem zugleich enorme Mengen Kapital aus Deutschland exportiert wurden. Es ist nicht verwunderlich, dass die deutschen Banken mit Abstand die höchsten Auslandsforderungen gegenüber englischen Unternehmen haben. England ist das Weltfinanzzentrum. 80 % der europäischen Hedgefonds sind in England ansässig. Man kann davon ausgehen, dass die deutschen Banken ihr Geld an solche Finanzunternehmen ausgeliehen haben, die damit wiederum ihre spekulativen Geschäfte betreiben. Zeitgleich mit der Einführung des Euros wurde in Deutschland ja auch dem sog. „Rheinischen Kapitalismus“ der Garaus gemacht. Von einer „Sozialpartnerschaft“ zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und politischen Institutionen konnte immer weniger die Rede sein. Damit einhergeht, dass die Anteilseigner der großen deutschen Aktiengesellschaften heute überwiegend im Ausland ansässig ist.

Andreas Neider: Welche Möglichkeiten sehen Sie, aus der Euromisere noch heraus zu kommen?

Stephan Eisenhut: Diese Misere kann nicht durch technische Maßnahmen überwunden werden. Sie kann schon gar nicht durch Politiker gelöst werden. Sie erfordert ein Bewusstsein dafür, an welche Kräfte man im Denken anknüpft. Ein bloß technisch-organisatorisches Denken bemerkt nicht, mit welchen Kräften es in Wirklichkeit arbeitet. Deshalb wies Rudolf Steiner immer wieder darauf hin, dass es nicht bloß darauf ankomme anderes zu denken, sondern anders zu denken. Es ist möglich, ein Denken zu entwickeln, das die geistigen Kräfte, mit denen es arbeiten muss, bewusst ergreift und erkennt. Nur aus diesem Denken kann ein echtes freies Geistesleben geschaffen werden. Denn es hat die Kraft, die materiell-technische Organisation zurückzudrängen und den dadurch entstandenen Raum auszufüllen.

Andreas Neider: Wo sehen Sie heute Ansätze für ein breiteres Verständnis von Rudolf Steiners volkswirtschaftliche Ideen, denn eigentlich müsste doch eine solche Krise wie die jetzige zum Aufwachen zwingen?

Stephan Eisenhut: Eine breitere Öffentlichkeit kann nur ein Verständnis für das entwickeln, was sich im Leben bereits entfaltet hat. So wird heute durchaus mit einer gewissen Irritation bemerkt, dass sehr viele anthroposophische Einrichtungen auf ganz unterschiedlichen Gebieten in den letzten 90 Jahren eine recht große Fruchtbarkeit entwickelt haben. Mit dem dahinterstehenden Gedankengut tut man sich jedoch weiterhin schwer.

Die volkswirtschaftlichen Ideen Rudolf Steiners können nicht in dem Sinne in einzelnen Einrichtungen verwirklicht werden, wie das bei den landwirtschaftlichen, pädagogischen und medizinischen Ideen möglich war. Sie können höchsten einzelne Einrichtungen, wie z.B. die GLS-Bank, beeinflussen. Sie werden bisher auch in anthroposophischen Kreisen noch sehr wenig verstanden. Deswegen halte ich gegenwärtig erst einmal eine starke Initiative dahingehend für notwendig, anhand dieser Ideen das oben angesprochene andere Denken überhaupt zu entwickeln. Je mehr Menschen diese Gedanken innerlich aktiv bewegen, desto stärker wird die Kraft werden, die sich an die Stelle des heute alles dominierenden technischen Organisationswesens setzen kann. Deswegen habe ich die schon oben erwähnte Serie zum Nationalökonomischen Kurs Rudolf Steiners in der Zeitschrift die Drei begonnen. Sie soll Menschen ansprechen, die bereit sind, an der Entwicklung ihres Denkens zu arbeiten. Das Verständnis der volkswirtschaftlichen Inhalte ist auf diesem Denkweg natürlich ein sehr wichtiges Nebenprodukt.

Anmerkungen

[1] Interessanter Weise machte genau diesen Gesichtspunkt die deutsche Monopolkommission 2004 in ihrem 15. Hauptgutachten „Wettbewerbspolitik im Schatten ‚Nationaler Champions“ geltend: „Das Bild von der Volkswirtschaft als Wettbewerber entstammt einer militaristischen Politiktradition. Danach sind Länder Rivalen, das "stärkste" besiegt die anderen, annektiert ihr Land und vertreibt oder unterwirft ihre Bürger. Mit Wirtschaft hat dieses Bild nichts zu tun.“ Siehe: http://www.monopolkommission.de/haupt_15/sum_h15_de.pdf
[2] vgl. hierzu: Stephan Eisenhut: Eine Anschauung des volkswirtschaftlichen Prozesses – Zur Komposition des Nationalökonomischen Kurses, in: die Drei, Oktober 2011, S. 17 ff.
[3] vgl.: Historischer Deal Mitterrand forderte Euro als Gegenleistung für die Einheit, http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,719608,00.html


Erstveröffentlichung in Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland - Ausgabe 11/2011 November, unter dem Titel "Was geht hier eigenlich vor? Vier Fragen zur Eurokrise". Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autoren.