Mit seinen Thesen zur sozialen Dreigliederung ist Dieter Brüll bei vielen aktiven Anthroposophen auf ein offenes Ohr gestossen. Sein Buch „Der anthroposophische Sozialimpuls“ [1] ist ein Beispiel dafür, wie das Verständnis der sozialen Dreigliederung durch falsche Grundannahmen unterminiert werden kann.
Die Relativierung der sozialen Dreigliederung
Wie wenig Dieter Brüll von der sozialen Dreigliederung verstanden hat, zeigt die von ihm eingeführte Unterscheidung zwischen Makrodreigliederung, Mesodreigliederung und Mikrodreigliederung. [1] Am Problematichsten ist dabei, was er unter Mesodreigliederung versteht, nämlich eine Dreigliederung von sozialen Einrichtungen, wie z. B. Schulen, weil er damit dasjenige, was Rudolf Steiner unter sozialer Dreigliederung verstanden hat, nicht ergänzt, sondern aufhebt. Dieter Brüll kommt zu der Einschätzung, dass bei der Mesodreigliederung, bei der Dreigliederung innerhalb von sozialen Einrichtungen, nicht so weit gegangen werden kann wie bei der Makrodreigliederung. Im Ergebnis relativiert Dieter Brüll somit die Notwendigkeit einer Selbständigkeit von Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben.
In die selbe Richtung einer Relativierung der sozialen Dreigliederung geht Dieter Brülls Behauptung, Rudolf Steiner wäre damals missverstanden worden. Ihm wäre es nicht so sehr um die Selbständigkeit, sondern um das Zusammenwirken von Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben gegangen. [1] Richtig ist, dass Rudolf Steiner 1922 meinte, England habe es damals – im Unterschied zu Deutschland – schon zur Selbständigkeit von Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben gebracht. Dort fehle nur noch der weitere Schritt zu ihrem richtigen Zusammenwirken. Damit relativiert aber Rudolf Steiner – im Unterschied zu Dieter Brüll – nicht die Notwendigkeit ihrer Selbständigkeit. Was Rudolf Steiner 1922 konkret unter Zusammenwirken versteht, führt er selber am Beispiel von Kapital und Arbeit aus. Um sich richtig von aussen auf das Wirtschaftsleben auszuwirken, dürfen Kapital und Arbeit selber nicht mehr zum Wirtschaftsleben gehören, das heisst, sie müssen unverkäuflich werden. Ist diese Bedingung erfüllt, dann geht es beim Kapital speziell um das richtige Auswirken des Geisteslebens auf das Wirtschaftsleben und bei der Arbeit um das richtige Auswirken des Rechtslebens auf das Wirtschaftsleben. Diese beiden Auswirkungen spielen im Gedankengebäude von Dieter Brüll jedoch keine Rolle. Seinem abstrakten Wunsch nach einem Zusammenwirken vermochte Dieter Brüll keinen konkreten Inhalt zu geben, so dass er im Ergebnis nur dazu führte, die soziale Dreigliederung zu relativieren.
Die Vereinseitigung der sozialen Dreigliederung
Durch das Gegeneinanderausspielen von Selbständigkeit und Zusammenwirken kam es zu einer folgenschweren Verwirrung. Wo die gedankliche Klarheit fehlt, machen sich die Instinkte breit. In den 1970er Jahren war der Drang übermächtig, alles zu demokratisieren, auch dasjenige, was stattdessen individualisiert oder kollektiviert gehört. Dieter Brüll ist in diese Strömung geraten. Das zeigt sich, wenn er beschreibt, wie es sich die Dreigliederung innerhalb einer Schule konkret vorstellt. Indem Dieter Brüll dort dem Geistesleben und Wirtschaftsleben die Kompetenz abstreitet, Entscheidungen zu treffen, wurde der demokratische Impuls bei ihm allein entscheidend. [2] [3]
Die Theorie zu dieser Praxis hatte Dieter Brüll schon Jahre zuvor geliefert durch seine Diskreditierung von Geistesleben und Wirtschaftsleben und seine Behauptung, allein das Rechtsleben sei sozial. [1] Durch sein Ausblenden des Ratschlags im Geistesleben und des Vertrags im Wirtschaftsleben gerieten beide zur Karikatur ihrer selbst. Sowohl das Rechtsleben als auch das Geistesleben und das Wirtschaftsleben können auf ihre jeweils eigene Art sozial werden. Das umfassende Soziale kann aber erst im richtigen Zusammenspiel von Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben entstehen. Indem Dieter Brüll einem dieser drei den Vorzug gibt, hat er zu der zunehmenden Zersplitterung der sozialen Dreigliederungsbewegung beigetragen. Andere haben dem Geistesleben oder dem Wirtschaftsleben den Vorzug gegeben. Sie alle kamen dadurch bestenfalls zu Drittelwahrheiten, die ihnen den Blick auf die eigentliche soziale Dreigliederung versperrt haben.
Die Verwechslung der sozialen Dreigliederung
Durch die Art, wie Dieter Brüll versucht, die soziale Dreigliederung um den anthroposophischen Sozialimpuls zu ergänzen, trägt er zu Verwechslungen zwischen den beiden bei. Die soziale Dreigliederung, wie sie Rudolf Steiner ab 1919 vertreten hat, ist nicht der formelle, strukturelle Teil eines umfassenderen anthroposophischen Sozialimpulses, [1] sondern dessen Beitrag zur Gegenwart. Was Rudolf Steiner vorher als soziales Hauptgesetz dargelegt hat, bezieht sich dagegen auf zukünftige Entwicklungen. Auf sie vorzugreifen, geht nur im Kleinen. Bei der sozialen Dreigliederung ist es aber umgekehrt, sie geht nur im Großen.
Bei seinem Bestreben, die soziale Dreigliederung als rein formell zu verstehen, hat Dieter Brüll zentrale Inhalte der sozialen Dreigliederung ausgeblendet. Dies trifft insbesondere auf die Aussagen Rudolf Steiners zur Arbeitszeit als Frage des Rechtslebens. Diese Art der Trennung von Arbeit und Einkommen, wie sie in der Gegenwart im Großen möglich wäre, ignorierte er. Stattdessen träumte er von einer absoluten Trennung und war – mit seinem Sohn Ramon Brüll – der Erste, der sich unter Berufung auf Rudolf Steiner und das soziale Hauptgesetz für ein bedingungsloses Grundeinkommen stark machte. [4] Dort nahm die verhängnisvolle Verwechslung zwischen sozialer Dreigliederung und bedingungslosem Grundeinkommen ihren Anfang.
Anmerkungen
[1] Dieter Brüll [1984] Der anthroposophische Sozialimpuls – Ein Versuch seiner Erfassung
[2] Dieter Brüll [1992] Waldorfschule und Dreigliederung – Der peinliche Auftrag
[3] Dieter Brüll [1994] Wie funktioniert freies Geistesleben?
[4] Dieter Brüll [1987] Gedanken zum Grundeinkommen
Sylvain Coiplet
Stand: 10.04.2023