Notwendigkeit zu strafen weist auf krankhafte Gesellschaft hin

Quelle: GA 332a, S. 106-107, 2. Ausgabe 1977, 26.10.1919, Zürich

Fragen: Ist das Prinzip des Strafrechts nicht ein Überbleibsel? Weiter: Hat der Gedanke des Strafens eine Berechtigung gegenüber dem Gedanken der pädagogischen Besserung?

Es ist tatsächlich der Gedanke des Strafens einer der allerschwierigsten, und alle möglichen Antworten sind im Laufe der geschichtlichen Betrachtung gerade auf diese Frage gegeben worden. Auf einem solchen Boden, aus dem Ideen hervorgehen wie die der Dreigliederung des sozialen Organismus, ergeben sich auch gewisse Konsequenzen, die sich auf einem anderen Boden nicht ergeben. Alles einzelne, was innerhalb einer sozialen Ordnung geschieht, ist im Grunde genommen doch eine Konsequenz der ganzen sozialen Ordnung. So wie jedes Stück Brot, das ich erwerben kann, mit seinem Preis eine Konsequenz der ganzen sozialen Ordnung ist, so sind auch die Antriebe beim Strafen in der ganzen Struktur des sozialen Organismus drinnen begründet. Und gerade an dem Umstande, daß Strafen notwendig werden, gerade darinnen zeigt sich, daß im ganzen sozialen Organismus etwas ist, was eigentlich nicht drinnen sein soll. Wenn man, ich sage jetzt nicht, den dreigliederigen sozialen Organismus als solchen vertritt, sondern überhaupt aus solchen Impulsen eine praktische Weltanschauung entwickelt, aus der heraus man die Idee vom dreigliederigen sozialen Organismus gewinnt, dann ergibt sich eigentlich die Anschauung, daß man allerdings mit Bezug auf Strafe und Strafvollzug zu anderen Dingen kommen wird, und die Notwendigkeit des Strafens wird viel weniger eintreten, wenn solche Dinge sozial wirklich sind, wie sie zum Beispiel gerade in dem heutigen Vortrage gefordert worden sind. Das Strafrecht, das wie der Schatten eigentlich unsoziale Zustände begleitet, wird in sozialen Zuständen auf ein Minimum herunter reduziert werden können. Daher werden die Fragen, die heute auftauchen gegenüber dem Strafrecht, ob es ein Überbleibsel ist und dergleichen, auf einen ganz neuen Boden gestellt werden, wenn eine solche Umwälzung wirklich geschieht. Ich möchte sagen: Wenn der Mensch krank ist, so tut er gewisse Dinge; wenn er gesund ist, tut er andere Dinge. So ist es auch hier. Es weist hin die Notwendigkeit, zu strafen, auf gewisse Krankheitssymptome innerhalb des ganzen sozialen Organismus. Wenn man anstrebt, den sozialen Organismus gesund zu machen, so werden die Begriffe über Strafe, Strafrecht, Strafvollzug eben doch auf einen ganz anderen Boden gestellt werden können. Also ich möchte sagen: Man muß versuchen, in der ganzen Auseinandersetzung über die soziale Umwandelung die Antwort zu suchen auf dasjenige, was dann auch aus dem einzelnen, wie zum Beispiel Strafrecht oder Strafvollzug, wird.