GEW verlangt Förderung statt Sitzenbleiben

03.02.2002

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat die Kultusminister aufgefordert, "endlich das Sitzenbleiben abzuschaffen". Statt Jahr für Jahr rund 250.000 Schüler eine "Ehrenrunde" drehen zu lassen, sollten die Länder besser in "vorbeugende Fördermaßnahmen investieren", sagte das GEW-Vorstandsmitglied Marianne Demmer anlässlich der Ausgabe der Halbjahres-Zeugnisse.

Spätestens seit dem Schulleistungstest "Pisa" sei klar, "dass Sitzenbleiben nichts bringt und nur schadet", erklärte Demmer. Mehrfach sei inzwischen wissenschaftlich belegt, dass das Wiederholen einer Klasse "nicht einmal einen individuellen Lernzuwachs in den Fächern bringt, die Grund der Nichtversetzung waren". "In den meisten Fällen tritt ein Lern-Stillstand ein, weil auch in den übrigen Fächern lediglich Stoff wiederholt wird." Dies führe bei vielen Schülern zum "innerlichen Abschalten". Sitzenbleiben bringe also keine Verbesserung des individuellen Leistungsvermögens, kritisierte das GEW-Vorstandsmitglied. Es vergeude vielmehr "Lern- und Lebenszeiten junger Menschen".

Bis zum Erreichen der zehnten Klasse ist jeder vierte Schüler mindestens einmal hängen geblieben. Man zwingt die Kinder mit Schulzwang auf die Schulbank und läßt sie solange dort sitzen, bis sie genau das gelernt haben, was die Schulpläne vorschreiben, weil die Lehrpläne wie heilige Kühe behandelt werden, sehr zum Schaden der Kinder. Mit dem Sitzenbleiben als einer Art "Testat des Versagens" greift die Schule häufig in die Bildungs- und Berufskarriere des Jugendlichen ein. Familienkrisen und seelische Leiden sind nicht selten die Folge. Der Soziologe Klaus Hurrelmann sieht in der Angst vor Schulversagen Ursache für Stress Kopf- und Magenschmerzen, Nervenleiden und eine häufigere Neigung zum Drogenkonsum.

Dass Lehrpläne unnütz sind, sollte für jederman offenkundig sein: alle Kinder haben unterschiedliche Reifegeschwindigkeiten und bei den Schülern variiert die Begabung intern und von Fach zu Fach. Eine Schule, die nicht für differenzierte Individuen gemacht ist, dient nicht Menschen, sondern produziert nur ein standardisiertes, beschränktes Geistesleben.

Sitzenbleiben und Lehrpläne bedingen sich gegenseitig und gehören beide abgeschafft.

Paradox ist aber, dass Hessen und Mecklenburg-Vorpommern unlängst ihre Versetzungsordnungen verschärft haben und dies als Beitrag zur Leistungssteigerung der Schulen verkaufen, trotz der eindeutigen Stimmen der Erziehungswissensschaftler. Die Inkompetenz der Politiker fährt den Karren noch weiter in den Dreck, weil sie die Flucht nach vorne wählen.

Die Kinder würden viel besser gedeihen, wenn die Erziehung kein Zwangssystem sondern ein Anrechtssystem ist: Statt Schulzwang Recht auf Erziehung, Statt dem Zwang Klassen zu wiederholen, das Recht im sozialen Rahmen des Klassenverbandes zu bleiben, statt Leistungszwang Recht auf qualitative Erziehungsleistungen, statt dem Zwang des Stundenplans viel mehr Selbstgestaltungsrecht der Schüler.