Hamburger Schulpolitik von der Kaserne aus

20.11.2001

Wer keinen pädagogischen Sinn mehr hat, braucht Statistiken. Es bedurfte daher einer aufwendigen empirischen wissenschaftlichen Studie, um den Vorteil von Berichten über Noten bei Schulzeugnissen festzustellen. Mehr als 3000 Hamburger Schüler, Lehrer und Eltern wurden befragt. Dazu kamen Fallstudien an zwei Hamburger Grundschulen, von denen eine überwiegend auf Notenzeugnisse, die andere auf Berichtszeugnisse setzt.

Das Ergebnis ist eindeutig. Die meisten Grundschullehrer sprechen sich für Berichtszeugnisse aus. "Angesichts der zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft in den Grundschulen ist aus ihrer Sicht eine Praxis der Leistungsbeurteilung gefordert, die Lernprozesse begleitet und in Zeugnissen aussagekräftig festhält - eine Anforderung, die von Notenzeugnissen nicht erfüllt werden kann." Die Eltern sind sich aber nicht so sicher. Befürworter und Kritiker der Berichtszeugnisse halten sich die Waage. Ihr Urteil hängt aber entscheidend davon ab, ob die Lehrer die Vorzüge der Berichtszeugnisse wirklich ausgenutzt haben. Sind die Berichte nichtssagend, dann haben Eltern doch lieber Noten. Grundschüler wiederum sprechen sich eindeutig für Berichtszeugnisse aus, und beschäftigen sich auch eingehend damit, wenn sie individuell auf sie zugeschnitten sind.

Berichtszeugnisse machen also die Lehrer nicht besser als sie sind. Wer seine Pädagogik ohne Schüler machen will, wird es so weiter treiben und statt einer Note zu geben, sind mit einem gut, befriedigend oder ausreichend zufrieden geben. Berichtszeugnisse können nur eines: Lehrer nicht schlechter machen als sie sind. Und das ist völlig ausreichend. Viel wichtiger noch ist die Wirkung auf die Schüler. Während Noten Schüler auf den Kampf aller gegen alle trimmen, geben Berichte die Möglichkeit, sie mit sich selber zu konfrontieren, sie mit sich selber kämpfen zu lassen, ohne ihre Mitschüler als Feinde mißbrauchen zu müssen. Dies schafft die Grundlage für eine andere Wirtschaft als unsere heutige, für eine Wirtschaft, wo es auch ohne Konkurrenz Fortschritt geben könnte.

Eines haben aber die Wissenschaftler trotz ihrer vielen Befragungen nicht verstanden. Die Entscheidung darüber, ob Noten oder Berichte gegeben werden sollen, wollen sie nur deswegen nicht der Mehrheit der Eltern einer Klasse überlassen, weil darin Konfliktstoff liegt und die Eltern von den Lehrern in deren Sinne beeinflußt werden. Sollen die Lehrer wirklich wie Soldaten nur Befehle ausführen? Man glaubt einen dieser Bildungspolitiker zu hören, der von Harmonie und Elternwillen redet und sein Parteiprogramm meint. So meinen es die Wissenschaftler aber wiederum nicht. Sie wollen nicht die Entscheidung selber treffen, sondern sie der Schulkonferenz überlassen. Dies löst aber das Problem nicht, solange es für Lehrer und Eltern keine wirklich freie Schulwahl gibt.

So viel für die Wissenschaftler. Nun die politische Fallstudie. Hamburg hat seit Anfang des Monates einen liberalen Schulsenatoren, Rudolf Lange, den einzigen Liberalen in der ganzen Regierung. Im Koalitionsvertrag mit den Christdemokraten und der Schill-Partei steht aber, daß Leistung an der Schule wieder meßbar sein soll. Ab Klasse 3 sollen verbindlich Ziffernnoten eingeführt werden. Zum parteipolitischen Liberalismus gehört eben die Vergöttlichung der Konkurrenz. Solchen Dogmen opfert man gerne die Autonomie der einzelnen Lehrer und Schulen. Pädagogisch kontraproduktiv ist auch die Verfügung der Koalition, daß Schulabschlüsse in Zukunft in allen Schulformen nur aufgrund von Abschlußprüfungen vergeben werden sollen. Die Aufgabenstellungen sollen zentral vorgegeben werden. Als ob die Lehrer nicht die Leistungen ihrer Schüler durch jahrelange Beobachtung am besten einschätzen könnten. Dies würde viel sicherer zu einer internationalen Vergleichbarkeit der Leistungen führen, als die sachfremden Verfügungen von nationalen und provinziellen Schulbehörden.

Schulsenator Rudolf Lange will die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie zunächst prüfen, heißt es aus der Schulbehörde. Als Vorzeigeliberale will er seine Entscheidung nicht sofort bekannt geben. Schaut man sich aber seine Biographie an, kann man sich schon denken, was herauskommen wird. Rudolf Lange hat sich sein ganzes Leben mit militärischen Fragen beschäftigt und es sogar zum Konteradmiral gebracht. Als Pensionierter wird er jetzt weiter für Disziplin sorgen können. Wie das Motto seiner Regierung so schön heißt: Ohne Freiheit gibt es keine Sicherheit, ohne Sicherheit keine Freiheit. Im Klartext: Jede Schule ist eine Kaserne.