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Frieden mit sich selbst als Basis für den Völkerfrieden
Palästinensische Friedenskämpferin Sumaya Farhat-Naser spricht am Goetheanum – „Nicht Moral, sondern Macht regiert“ - Dialog muss aus Einsicht kommen.
von NNA-Korrespondent Wolfgang G. Vögele
DORNACH (NNA). Die ausbleibenden Fortschritte in der Friedenspolitik im Nahen Osten haben ein politisches Vakuum erzeugt, das sich von beiden Seiten aus mafiöse Organisationen mit ungehemmtem Waffenhandel zu Nutze machen. Das erklärte letzte Woche die bekannte palästinensische Friedenskämpferin Sumaya Farhat-Naser bei einer Veranstaltung am Goetheanum in Dornach in der Schweiz.
Die mehrmals friedens- und menschenrechtspreisgekrönte Professorin, die in Deutschland ihre akademische Laufbahn begonnen hat — sie ist Biologin mit Schwerpunkt Ökologie — veranschaulichte zunächst anhand von Folien die geopolitische Entwicklung in Gazastreifen und in der Westbank-Region, von 1947 bis heute. Das palästinensische Volk lebe seit 39 Jahren unter Militärbesatzung: „Unser Problem ist nicht religiös. Die Religion wird nur (von der Besatzungsmacht) benutzt. Nicht Moral, sondern Macht regiert.“
Die aus freien Wahlen hervorgegangene mehrheitliche Regierungsbeteiligung der islamisch-konservativen Hamas in Gazastreifen werde von den USA, Israel und den meisten europäischen Regierungen als Verhandlungspartner abgelehnt, weil sie Israel nicht anerkenne und terroristisch sei. So seien die westlichen Staaten und die meisten Länder Europas zu einer strikten Blockadepolitik gegenüber den Palästinensern übergegangen. Die Hamas sei aber die einzige Kraft, die etwas zur Hebung der sozialen Infrastruktur Palästinas beitrage.
Die Genfer Konvention, nach der Besatzungsmächte eine humane Verantwortung für besetzte Gebiete tragen, werde massiv missachtet. Ebenso jene Uno-Resolution, die den vollständigen Abzug der Besatzungstruppen fordert. Mit bitterer Ironie kommentierte Frau Farhat-Naser: „Das ist Demokratie.“
Die neuen israelischen Siedlungen in der Westbank gingen nicht (wie in den Medien oft behauptet) auf eine Privatinitiative der Siedler zurück, sondern folgten einem seit 1978 bestehenden Plan der Regierung Sharon, der auf eine schleichende Vereinnahmung des palästinensischen Lebensraumes abziele. In den letzten sechs Jahren habe sich Israel auf diese Weise 20% des Landes angeeignet. Die israelische Neubesiedelung sei faktisch eine Zerstückelung der Westbank, gekennzeichnet durch Behinderung der Mobilität (Umwege, Zeitverlust und Schikanen durch immer neue Checkpoints, deren Zahl sich inzwischen auf 500 erhöht habe).
Anhand von Fotos verdeutlichte Frau Farhat-Naser das Problem: Eine 8-12 Meter hohe Mauer mit Wachttürmen und Schießanlagen (zum Vergleich: die Berliner Mauer war 3 Meter hoch) trenne Menschen, entwickele auf beiden Seiten Ängste und Feindbilder. Das sei jedoch von der israelischen Seite im Sinne eines „Human Transfer“ gewollt, nach dem Motto: „Wer es nicht mehr aushält, geht von selbst.“ Tatsächlich wählten viele verzweifelte Palästinenser als letzten Ausweg die Emigration.
Israelische Menschenrechtsgruppen bekämpften die Besatzungspolitik, würden aber von den Politikern kaum gehört.
Auch das lebenswichtige Wasser sei ungerecht verteilt. Palästinenser müssen am Wasser sparen, weil sie täglich nur ein Zehntel dessen zugeteilt bekommen, was Israelis und israelitischen Siedler für die verschwenderische Bewässerung ihrer Gärten bekämen. Dem entsprechen auch die Wasserpreise: von Palästinensern wird pro Liter das Zehnfache an Geld verlangt.
Da sich das palästinensische Haupteinkommen auf dem Olivenanbau gründet, wurden vom Staat Israel planmäßig mehr als hunderttausend Olivenbäume entwurzelt und vernichtet. Die Rednerin erinnerte daran, wie viele Bäume von Europäern in Israel gepflanzt wurden und noch werden!
Ihre Bestandsaufnahme des palästinensischen Alltags unter israelischer Besatzung endete mit dem Fazit: „Es ist schwer, und es wird — wenn die bisherige Politik beibehalten wird — noch schwerer werden.“ Die Lösung könne nur in einem gerechten Friedensabkommen liegen. Ein Dialog müsse aus Einsicht kommen. Wenn die bisherige Methode versage, müsse man eben die Spielregeln ändern!
Als Gastgeber hatte zuvor Paul Mackay, Vorstandsmitglied der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, die Rednerin stellvertretend für Friedenskämpfer der ganzen Welt bei der Veranstaltung am 29. November begrüßt. Die vielen Zuhörer seien nicht nur wegen des Themas, sondern auch wegen der Persönlichkeit von Frau Fahat-Naser gekommen. Mackay nahm die Gelegenheit zum Anlaß, auf eine Serie von Veranstaltungen des Goetheanums im kommenden Jahr zum Thema Menschenwürde hinzuweisen. Unter dem Motto «Ursache Zukunft“ sollen Ausstellungen, Aktionen und als Höhepunkt im Juli ein öffentlicher Kongress stattfinden.
Mit dieser gut besuchten Veranstaltung kam das Zentrum der anthroposophischen Weltbewegung am Goetheanum in Dornach gleichzeitig seinem Auftrag nach, der Entfaltung des Allgemein-Menschlichen zu dienen und dabei auch die brennenden Zeitfragen im Auge zu behalten. Die Referentin unternimmt gegenwärtig eine Vortragsreise in der Schweiz, wobei sie auch Seminare für Schweizer arabischer Herkunft abhält. Trotz eines aktuellen Todesfalls in ihrer Familie hatte sich Frau Farhat-Naser entschieden, die Veranstaltung am Goetheanum durchzuführen, zumal diese terminlich gerade auf den Solidaritätstag mit den Palästinensern fiel.
Eine Warteschlange wies den Weg zum Terrassensaal, der den Andrang der Zuhörer kaum fassen konnte. Die Teilnehmer, unter ihnen zahlreiche Jugendliche, konnten sich schon vor der Veranstaltung an einem Büchertisch über die Situation im „Land der Olivenbäume“ über die Arbeit der Referentin informieren. Manche von ihnen erhielten am Schluss das erhoffte Autogramm.
Die Arbeit von Frau Farhat-Naser in Palästina besteht hauptsächlich aus Friedenserziehung. Indem man lernt, in Konflikten seine Menschlichkeit zu wahren, lerne man auch zu überleben.
Seit Januar 2005 hält sie für sieben Frauen- und Jugendgruppen Seminare zur Friedenserziehung ab. In einem interkonfessionellen Zentrum (überwiegend Muslime und Christen) bemühe man sich zu verstehen: „In jedem Menschen liegt ein guter Kern, es liegt an mir selbst, ob ich ihn zur Entfaltung bringe.“ Die Verschiedenheit der Menschen und Religionen könne auch als Reichtum erfahren werden. Wenn Frau Farhat-Naser, die selbst Christin ist, ihre Schüler immer wieder darauf hinweist, dass die drei großen monotheistischen Religionen 90% Gemeinsames haben, käme das gut an. Als die zuständige Behörde überraschend schnell die Kurse genehmigte, stellte sich heraus, dass der zuständige Sachbearbeiter ein ehemaliger Student von Frau Farhat-Naser gewesen war.
Durch bestimmte Trainingsmethoden solle gelernt werden, wie Ärger vermieden und Selbstbeherrschung erlangt werden kann. Da solche Kurse für „Empowerment“ jedoch behördlich nicht anerkannt worden wären, wurden sie umbenannt, etwa in „Kurse zur Vorbereitung auf die Frühehe.“
Grundlage des Völkerfriedens sei es, den Frieden mit sich selbst zu finden. Zur Strategie der De-Eskalation gehöre auch das Eingeständnis eigener Fehler, wie die Pflege von rassistischem Gedankengut oder das Zulassen von Hassgefühlen. Mehrere Frauengruppen (meist Mütter) widmen sich unter ihrer Anleitung einer „gewaltfreien Erziehung“. Männer hätten es schwerer, sich dem Friedensgedanken zu öffnen, da sie im Nahen Osten traditionell für die „harte Linie“ zuständig seien und somit unter starkem sozialem Druck stünden. Eine Änderung bahne sich jedoch auch bei den Männern an, sobald sie z.B. an den Ehe-Seminaren für Heiratswillige teilnehmen.
Viel psychohygienische Arbeit sei nötig, um einen Gesinnungswandel einzuleiten, z.B. auch eine Lachkultur, die auch das Erzählen von Witzen beinhalte.
Zur israelischen Friedensbewegung (in Israel eine verachtete Minderheit) habe sie keinen Kontakt; gemeinsame Veranstaltungen könnten derzeit nur in den USA stattfinden. Als Frau sei sie durch bessere Reisemöglichkeiten privilegiert.
Die Referentin ließ durchblicken, dass sie eine leichte Besserung der Lage von einem Regierungswechsel in den USA erwartet.
Die temperamentvolle Art der Darstellung und die offene, ehrliche Art von Frau Farhat-Naser erweckten sympathische Resonanz. Ihre Ausführungen zeugen von hoher Fachkompetenz, wobei sie abstrakte Darstellungen vermeidet und bei allem, was sie sagt, klare Besonnenheit mit herzhaftem Engagement verbindet.
„Wie können wir helfen?“ — diese Frage aus dem Zuhörerkreis beantwortete die Referentin wie folgt: Die Hilfe von außen sei ebenso wichtig wie ihre eigene Arbeit. Diverse Träger, Kirchen, sonstige Friedens- und Fraueninitiativen spenden Geld, z.B. für das Projekt „Women Advocating for Peace“. Hilfreich sei es auch, ausländische Journalisten auf die Lage aufmerksam machen. Diese dürften sich nämlich nur 2 Stunden täglich in den besetzten Gebieten aufhalten. Ihre Informationen bekämen sie, da sie meist kein Arabisch könnten, meist nur aus israelischen Quellen.
Paul Mackay dankte am Ende für die von Frau Farhat-Naser repräsentierte Menschlichkeit.
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