Freizügigkeit für Temelin

12.10.2001

Nach einem Treffen am 12.10. mit seinem tschechischen Amtskollegen Milos Zeman sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Aufnahme des Nachbarlandes in die EU werde "massiv und ohne Einschränkungen" unterstützt. Unterschiedliche Einschätzungen hätten keine Auswirkungen darauf, dass das Energiekapitel um das Atomkraftwerk Temelin in den Verhandlungen mit der Union möglichst rasch abgeschlossen werden solle. Die deutsche Regierung hatte in einem Gutachten erhebliche Bedenken wegen der Sicherheit von Temelin vorgebracht. Das Atomkraftwerk befindet sich seit einem Jahr im Testbetrieb, mußte aber mehrfach wegen technischer Probleme abgeschaltet werden.

Deshalb, und wegen der Grenznähe zu Deutschland und Österreich stellt sich Österreich bei dem Energie- Kapitel quer - zu groß sind in der dortigen Bevölkerung die Proteste gegen den Reaktor. Zwar forderte der SPÖ-Politiker Heinz Fischer am 07.10.2001, Wien sollte den Beitritt nicht mit Temelin verbinden. Ein österreichischer Diplomat meinte aber: "Eine Überarbeitung von Temelin oder die Aufhebung der Benes-Dekrete - etwas muss uns Tschechien geben, sonst stimmt das Parlament gegen den Beitritt." Solche Warnungen schlagen Prager Politiker gerne in den Wind. Sie verweisen auf Aussagen, wie zum Beispiel von Bundeskanzler Gerhard Schröder, der im August, während eines Böhmen-Besuchs, eine Verknüpfung des EU-Beitritts mit Temelin ablehnte. Es wundert nicht, dass Zeman erfreut über die Unterstützung des Bundeskanzlers reagierte, den er seinen Freund nannte. Der tschechische Ministerpräsident erwartete auch einen baldigen Abschluss der Verhandlungen zur Frage der Freizügigkeit von Arbeitskräften, ohne auf die von Schröder geforderte Übergangsfrist von sieben Jahren vor einer vollständigen Liberalisierung einzugehen.

Gerhard Schröder versucht, falschen Kuhhandel mit Tschechien zu treiben: Verzicht auf einen Einspruch gegen Temelin in Gegenzug zu Begrenzung der Freizügigkeit von Arbeitskräfte beim EU-Betritt Tschechiens. Dabei versagt Gerhard Schröder als Staatschef, dessen erste Aufgabe doch eigentliche die Bewahrung seiner Bürger vor Sicherheitsrisiken ist. Stattdessen übt er sich weiter in der Rolle des Wirtschaftsmannes und vermischt Politik und Wirtschaft.

Dem Wahlversprechen, mit dem (zumindest die bessere Hälfte) der Regierung an die Macht kam, sind wirtschaftliche Interessen untergeordnet und damit wird die Chance, in Rahmen der EU-Zusammenarbeit den Ausstieg aus dem Atomzeitalter zu schaffen, vertan. Seit dem 11.09. ist das offensichtliche Sicherheitsrisiko im Punkto Atomindustrie offenkundig und in viele Ländern Europas wird die Atomindustrie seit langem kritisch betrachtet und belastet die bilaterale Beziehungen vieler europäsicher Länder. Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass viele Atomstaaten ihre AKWs in unmittelbarer Grenznähe ansiedeln, so beispielsweise im Fall des französischen Fessenheim direkt an der Rheingrenze zu Deutschland, oder des schwedischen Barsebeck an der Sundküste, knapp 10 km vor der dänischen Millionenmetropole Kopenhagen, oder des deutschen AKW Greifswald, etwa 30 km von der polnischen Grenze entfernt.

Es gibt genug Politiker, die liebend gerne das Thema Atomenergie auf EU-Ebene aufgreifen würden, und in Tschechien werden die kritischen Stimmen immer lauter. So bevorzugt der tschechische Präsident Vaclav Havel in der Frage Temelin klare Worte. Nach den Anschlägen in den USA sei jeder Hochmut gefährlich, sagte er. Dabei sei egal, "ob es um islamische Fundamentalisten gehe oder um den Hochmut der Technokraten mit ihren Temelins". Der Streit um das südböhmische AKW, ist nach Ansicht von politischen Beobachtern in Prag in eine entscheidende Phase getreten. Wie ein Politiker sagte: "Früher war Kritik an Temelin genau so dumm, wie gegen den Wind zu pinkeln. Es scheint aber, dass sich der Wind gedreht hat".

Mit der, freilich bislang unerfüllten wirtschaftlichen Schönwetterprognose des Bundeskanzlers steht das Berliner Barometer nun aber auf Hochdruck und sorgt für eine Windflaute der Atomkritik. Sehr schade!