Sektion für Sozialwissenschaften, Goetheanum

Bereits im Dezember 1923 beabsichtigte Rudolf Steiner im Zusammenhang mit der Gründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, im Rahmen der Hochschule für Geisteswissenschaft eine Sektion für Nationalökonomie unter der Leitung von Guenther Wachsmuth einzurichten. Dazu kam es jedoch nicht, da Wachsmuth stattdessen lieber eine naturwissenschaftliche Sektion leiten wollte. Dies wurde ihm trotz seiner mangelnden mathematischen Vorbildung von Rudolf Steiner gewährt. [1] Bis dahin hatte sich Wachsmuth als Schatzmeister bewährt, [2] was den Vorschlag Rudolf Steiners umso verständlicher macht.

Die Initiative für eine Sektion für Sozialwissenschaft geht also nicht auf Rudolf Steiner zurück. Sie müsste – zumindest nach heutigem Verständnis – die unterschiedlichsten Disziplinen abdecken. Nach dem Abbruch der Dreigliederungsbewegung im Jahr 1922 legte Rudolf Steiner jedoch mit dem Nationalökonomischen Kurs den Schwerpunkt auf eine Erneuerung der Wirtschaftswissenschaft. [3]

Erst im März 1930 kam es auf Betreiben des Juristen Roman Boos zur Gründung der «Sozialwissenschaftlichen Vereinigung am Goetheanum», als Ersatz für die von ihm gewünschte, aber vom Vorstand abgelehnte Leitung einer Sektion für Sozialwissenschaft am Goetheanum. [4] Innerhalb dieses Rahmens veranstaltete Roman Boos mehrere sozialwissenschaftliche Tagungen und zuletzt im Mai 1933 eine wirtschaftswissenschaftliche Tagung. [5]

Erst nach dem Tod von Roman Boos im Jahr 1952 kam es im Juli 1954 auf Initiative von Hugo Reimann zur ersten Tagung der Arbeitsgruppe «Sozialwissenschaft am Goetheanum», die nachweislich bis Juni 1961 aktiv war. [6]

Während der Weihnachtstagung 1961 beschloss der Vorstand am Goetheanum schließlich die Gründung einer Sektion für Sozialwissenschaft und bat Kurt Franz David, die Leitung dieser Sektion ab dem 31. Dezember 1961 zu übernehmen. [7] Im Februar 1965 bat Kurt Franz David angesichts seiner zu starken Beanspruchung durch andere Aufgaben um Entbindung von seiner Verantwortung für die Sektion für Sozialwissenschaft. Die Leitung wurde daraufhin an Herbert Witzenmann übertragen.

Im Mai 1970 kam es zu einem Zerwürfnis zwischen Herbert Witzenmann und dem Vorstand des Goetheanums. Dieser nahm die Sektion für Sozialwissenschaft wieder in seine Hände zurück. In der Folgezeit fand von der Sektion aus wenig statt, bis Manfred Schmidt-Brabant im März 1975 zum Leiter bestellt wurde.

Mit ihm passierte bald dasselbe wie zuvor mit Kurt Franz David und später mit Paul Mackay: Er wurde von anderen Aufgaben so in Anspruch genommen, dass die Sektion für Sozialwissenschaft dabei zu kurz kam. Immerhin soll es zu seiner Zeit die meisten Tagungen gegeben haben.

Als klar wurde, dass entgegen den bisherigen Erwartungen in Dornach keine Forschungstätigkeit stattfinden würde, gründete Dietrich Spitta 1981 zusammen mit Stefan Leber in Stuttgart die «Sozialwissenschaftliche Forschungsgesellschaft». Von dort aus konnte von 1986 bis 2000 die Schriftenreihe «Sozialwissenschaftliches Forum» erscheinen, die am Beispiel einzelner Themen einen Überblick über die verschiedenen Strömungen der Dreigliederungsbewegung gab. 1993 veröffentlichte sie eine Bibliographie der sozialen Dreigliederung. Seitdem übernimmt das Institut für soziale Dreigliederung diese Aufgabe.

Als ehemaliger Banker interessierte sich der Nachfolger von Manfred Schmidt-Brabant, Paul Mackay, vor allem für Ökonomie. Entsprechend benannte er die Sektion für Sozialwissenschaft in «Sektion für Sozialwissenschaften» um und ließ 2002 die Gründung der eigenständigen «Wirtschaftskonferenz am Goetheanum» innerhalb dieser Sektion zu. Ansonsten ließ er sich von seinem Mitarbeiter Ulrich Rösch vertreten.

Erst sein Nachfolger, Gerald Häfner, wurde wirklich aktiv und entfaltete eine intensive Vortragstätigkeit auf der ganzen Welt. Seinen ursprünglichen Schwerpunkt, die Frage der direkten Demokratie, erweiterte er im Zusammenspiel mit Armin Steuernagel um das echte Dreigliederungsthema Eigentum. Dankenswerterweise vermied er das ihm zwar sympathische, einem wirklichen Verständnis der sozialen Dreigliederung jedoch abträgliche Thema des bedingungslosen Grundeinkommens.

Anmerkungen

[1] Im Rückblick stellt Guenther Wachsmuth den Sachverhalt so dar, als ginge es um eine sozialwissenschaftliche Sektion und dies auch noch zusätzlich zur naturwissenschaftlichen Sektion. Dies halte ich für unglaubwürdig. Ich halte mich hier an die entsprechende Tagebucheintragung seines Kollegen Albert Steffen:

«Am 16. Dezember in der Villa Hansi (Frau Dr. Wegman, Dr. Wachsmuth, ich). Dr. Steiner liest die Statuten vor und sagt dann, wie er sich den Vorstand denke. Er: Präsident. Frau Dr. Steiner und ich Vicepräsident. Frau Wegman Protokollführerin. Wachsmuth Kassier (Wachsmuth schlägt vor Schatzmeister, wozu Dr. Steiner lachend sagt: Der Name tut nichts zur Sache.) Dann Vorsteher der einzelnen Fächer. Dr. Steiner der ganzen Hochschule. Ich belles lettres. Wachsmuth Nationalökonomie. Er möchte lieber Naturwissenschaften. Aber Dr. Steiner sagt, es sei schade, daß er kein Mathematiker wäre.» (zitiert nach GA 259, S. 727-728, ebenso GA 260a, S. 776)

Dietrich Spitta stützt sich hier mangels weiterer Quellen auf Guenther Wachsmuth: https://triarticulation.fr/IH/SWS/GeschichteSpitta.html

[2] Siehe GA 260a, S. 775

[3] Bezeichnend dafür ist folgender Bericht von Brüno Krüger:

«Mir schwebte vor, Rudolf Steiner zu bitten, uns auch einen rechtswissenschaftlichen Kurs zu schenken, wie zum Beispiel den ökonomischen Kurs und andere. Meine Umfrage bei dem kleinen Häuflein Juristen in Württemberg blieb völlig erfolglos. Niemand wollte sich mir anschließen. Trotzdem trug ich ihm meine Bitte vor. Überraschend trat er einige Schritte gegen mich zurück, mit abwehrend erhobenen beiden Händen. Bestürzt stammelte ich: ‹Aber lieber Herr Doktor, die Rechtswissenschaft ist doch eine sehr bedeutende.› Da kam er wieder auf mich zu und sprach mit ungemein gütiger herzwarmer Stimme: ‹Gewiss, sogar die bedeutendste, aber was haben die Menschen daraus gemacht!› Er geleitete mich zur Tür. Für ihn war diese Anfrage erledigt.» (zitiert nach: Bruno Krüger, Leben und Schicksal. Vom Weg eines Wahrheitssuchers. Der Europäer Jg. 27 / Nr. 9/10 / Juli/August 2023, S. 11)

[4] https://dokumentationen.kulturimpuls.org/ereignisse/8256

[5] https://dokumentationen.kulturimpuls.org/institutionen/9378

[6] Im Nachlass von Dietrich Spitta, der sich im Institut für soziale Dreigliederung in Berlin befindet, sind 30 Lieferungen dieser Arbeitsgruppe erhalten. Die letzte ist auf Juni 1961 datiert.

[7] Dietrich Spitta: «Zur Entstehungsgeschichte der Sektion für Sozialwissenschaft und des Rüspe-Kreises»: https://triarticulation.fr/IH/SWS/GeschichteSpitta.html

Sylvain Coiplet

Stand: 22.08.2025

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