Die Waldorfpädagogik in den Kulturen der Welt

01.01.2008

Was ist Waldorfpädagogik?

Die von Rudolf Steiner 1919 begründete Waldorfpädagogik ist konsequent an der Entwicklung und Individualität des Kindes orientiert. Als "Erziehung zur Freiheit" ist es ihre Intention, die Entwicklung des Kindes in seiner Gesamtheit zu fördern: Weltinteresse, intellektuelles Denken, Kreativität, gesunde Moralität, künstlerisches Empfinden, handwerkliche Fertigkeiten, soziale Fähigkeiten, Willenskraft... Die Waldorfpädagogik will dasjenige zur Entfaltung kommen lassen, was im Einzelnen als Individualität vorhanden ist. Sie ist die beste Grundlage für eine zusammenwachsende Welt, die auf die Fähigkeiten des Einzelnen vertrauen muß, um zukunftsfähig zu bleiben.

Eine sehr gute Einführung ist unsere reich bebilderte Publikation "Waldorfpädagogik", die deren Wesen mit 40 doppelseitigen Beiträgen in vielen Aspekten gut verständlich erläutert.

Sie werden gesehen haben, dass es sich wahrhaftig, wenn auch das Waldorfschul‑Prinzip einem ganz bestimmten Sprachgebiete entstammt, dabei durchaus nicht um etwas Nationales handelt, sondern um etwas im besten Sinne Internationales, weil Allgemein-Menschliches. Nicht den Angehörigen irgendeiner Klasse, nicht den Angehörigen irgendeiner Nation, nicht den Angehörigen überhaupt irgendeiner Einkapselung, sondern den Menschen mit den breitesten, herzhaftesten menschlichen Interessen wollen wir erziehen.
Rudolf Steiner, 17.8.1923, GA 307, S. 245.

Die Entwicklung der weltweiten Waldorfbewegung

Die weltweite Waldorfbewegung entwickelte sich zusammen mit den "Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V.".

Dieser Verein entstand 1971, um die Waldorfpädagogik und allgemein ein freies Schulwesen weltweit zu unterstützen. Heute kann er mit jährlich über drei Millionen Euro an Spendengeldern vielfältige Hilfe leisten.

Zunächst verbreitete sich die Waldorfpädagogik fast ausschließlich in Europa und Nordamerika. In den 70er und stärker in den 80er Jahren gab es einige Schulgründungen in Südamerika und Australien, ab 1986 dann auch in (zunächst Süd-)Afrika, in den 90er Jahren auch in Asien. Die "Freunde der Erziehungskunst" trugen durch ihre Hilfe nicht unwesentlich zu dieser Entwicklung bei.

Während es 1970 nur knapp 90 Waldorfschulen in 20 Ländern gab, arbeiten heute Waldorfschulen in 66 Ländern, und im Herbst 2007 wird die 1.000-ste Waldorfschule ihre Tore öffnen! (Im Herbst 2007 werden wir auf unserer Homepage umfangreiche Statistiken zu dieser Entwicklung bereitstellen).

Von diesen Schulen liegen 72 in Lateinamerika, 22 in Afrika, 108 in Osteuropa und 44 in Asien - und der Unterstützung von Initiativen in diesen Weltregionen gilt unser Hauptaugenmerk. Mit Osteuropa kam Anfang der 90er Jahre für die Waldorfbewegung eine ganz neue Region hinzu. Aber auch in Asien fasst die Waldorfbewegung eigentlich erst seit Ende der 90er Jahre langsam mehr Fuß.

Nirgendwo sprießen Waldorfschulen wie Pilze aus dem Boden - fast immer stehen sie zu sehr in Widerspruch zu allem Gewohnten und Vorgeschriebenem, auch zu Erwartungen der Eltern nach "schnellen Erfolgen". Dennoch suchen weltweit viele Eltern nach Alternativen zum angelsächsischen Schulsystem, zu Leistungsdruck, Multiple Choice, zur Heranzüchtung angepasster "Wissensträger" und zu einem "Bildungssystem", das immer mehr ohne künstlerische Fächer auszukommen meint, von künstlerischem Unterricht ganz zu schweigen. Insofern sind Waldorfschulen in jedem Land ein lebendiges Beispiel und ein Mahnmal für die eigentliche Bedeutung von Bildung und für die Möglichkeit einer anderen, einer echten Pädagogik.

Die Waldorfpädagogik will die Kinder und Jugendlichen zu wahren Weltbürgern heranwachsen lassen und ihnen zugleich die vielfältigen Schätze ihrer regionalen Kultur lebendig nahebringen. Beides bedingt einander, denn ein zunehmender Kulturverfall kann stets nur neue Nationalismen und Fanatismen hervorbringen.

Im folgenden wird zunächst der ausgeprägte interkulturelle Aspekt der Waldorfpädagogik beschrieben. Danach wird ausführlich auf den "kultur-individuellen Aspekt" eingegangen.

Der interkulturelle Aspekt

Die Waldorfbewegung hat aus mehreren Gründen einen starken interkulturellen Aspekt:

  • Aufgrund ihres Menschenbildes sieht sie jedes Kind ungeachtet seiner Herkunft, Rasse, Religion usw. als unverwechselbares Individuum an, das seine individuellen Fähigkeiten entwickeln und sich seiner individuellen Impulse bewusst werden und ihnen folgen will. Aus diesem Grund waren und sind Waldorfschulen zum Beispiel in Südafrika und Namibia Vorreiter für eine "Regenbogengesellschaft", in der Menschen aller Hautfarbe und sozialer Herkunft friedlich miteinander leben. Aus demselben Grund engagieren sich Waldorfschulen in Israel in friedenspädagogischen Projekten, die jüdische und arabische Kinder zusammenbringen.
  • Aufgrund des besonderen pädagogischen Ansatzes erleben Waldorfpädagogen weltweit, dass sie einem gemeinsamen Impuls folgen, der sich u.a. in dem oben angedeuteten Menschenbild äußert. Aus diesem Erleben der gemeinsamen Motive und Ansätze heraus sind zum Beispiel die alle drei Jahre stattfindenden Weltlehrerkonferenzen begründet worden. Darüber hinaus gibt es regionale Konferenzen, wie die Südamerikanische und die Asiatische Lehrertagung (Taiwan 2005, Bangkok 2007), das Zentralasiatische Seminar usw. (Daneben ist überhaupt die Lehrerbildung vielfach länderübergreifend organisiert, was aber vor allem mit den mangelnden Ressourcen in vielen Ländern zusammenhängt).
  • Aufgrund der Tatsache, daß in fast allen Ländern weltweit jegliche staatliche Unterstützung für freie, d.h. nicht-staatliche Schulinitiativen fehlt, ist die weltweite Waldorfbewegung auf ein international solidarisches Moment angewiesen. Dem entspricht die oben erwähnte Hilfeleistung durch die "Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners", die wiederum mit Hilfe von vielen Einzelspendern arbeiten. So sind unter anderem fast alle deutschen Waldorfschulen Mitglied der "Freunde der Erziehungskunst".
  • Damit erschöpft sich die Solidarität jedoch nicht. Es gibt vielfältige Schulpartnerschaften weltweit, die sich in unterschiedlicher Form äußern können, z.B. in Schüleraustausch oder Beratungshilfe. Die "Freunde der Erziehungskunst" entsenden im Rahmen ihrer Freiwilligendienste jährlich 500 junge Menschen - darunter viele ehemalige Waldorfschüler - in Dienststellen in aller Welt (z.B. Waldorfkindergärten, meist jedoch heilpädagogische und sozialtherapeutische Initiativen), was die kulturelle Verständigung sehr bereichert.
  • Ein Kernanliegen der Waldorfpädagogik ist es, durch die Inhalte und die Art des Unterrichtes echtes Weltinteresse zu wecken. Zu dieser "Erziehung für eine multikulturelle Zukunft" gehören unter anderem der Fremdsprachenunterricht ab der 1. Klasse oder der Geographie- und Geschichtsunterricht, die besonderes Verständnis für andere Kulturen vermitteln. Neben den in der Schule selbst behandelten Themen veranstalten mehrere deutsche Waldorfschulen immer wieder Projektreisen höherer Klassen, die dann - regional meist näherliegend - z.B. in Osteuropa bei konkreten Bauprojekten o.ä. helfen. Eine ganze Reihe von Waldorfschulen veranstaltet einmal im Jahr einen WOW-Day ("Waldorf One World") an dem die Schüler für Projekte arbeiten, die schwer benachteiligten Kindern weltweit zugute kommen. Teilweise organisieren die Schüler selbst internationale Jugendtagungen wie die Friedenstagung "Walk your Talk" im Mai 2007 in Israel/Palästina oder den Kongreß "connAction 2007" im August 2007 an der Rudolf-Steiner-Schule Schloss Hamborn.

Die Friedensarbeit israelischer Waldorfinitiativen

In Jerusalem begann 1998 der Waldorflehrer Eyal Bloch mit einem Projekt, bei dem seine 3. Klasse und eine Partnerklasse aus dem arabischen Dorf El-Hadar bei Bethlehem (deren Kinder waren teilweise in Flüchtlingslagern aufgewachsen waren) jede Woche gemeinsam ein Stück Land bearbeiteten. Dabei wurde zusammen gesungen, gespielt und gegessen. Beim ersten Treffen hatten sich die Kinder - durch die Einflüsse der Umwelt geprägt - noch geweigert, sich an den Händen zu halten. Am Ende arbeiteten, spielte und lachten sie zusammen, als wäre es schon immer so gewesen. Bald kamen Initiativen mit anderen Klassen hinzu.

Eyal Bloch war es auch, der 1999 den ersten Anstoß zur Idee der "Friedensolympiade". 2001 fand dann die erste große Olympiade statt - in Olympia und Delphi. 200 elfjährige Kinder aus Konfliktgebieten wie Isarel/Pälästina, Jugoslawien (Belgrad, Pristina), Irland und Zypern lernten gemeinsam die friedensstiftende Idee und die verbindende Wirkung einer nicht auf nackten Wettkampf ausgerichteten Olympiade kennen. Auch die zweite "Olympeace" brachte wieder 250 Kinder in Griechenland zusammen.

Die Waldorfschule in Harduf hat in Zusammenarbeit mit der Schule im arabischen Nachbardorf Shefar´am andere Formen der Friedensarbeit realisiert: Nach einer vorausgehenden, 2002 begonnenen Fortbildung arabischer Erzieherinnen eröffnete im Herbst 2004 in Shefar´am der erste arabische Waldorfkindergarten. Inzwischen gibt es auch ein ganz neues Oberstufenkonzept, in dem die Waldorfschule eine starke Betonung auf die Verständigung beider Kulturen legt. Im Mai 2007 zeigten Schüler beider Schulen in einem beispielhaften Theaterprojekt, wie diese Zusammenarbeit über alle kulturellen und religiösen Grenzen hinweg möglich ist.

Ein ganz eigenständiges Projekt ist der erste jüdisch-arabische Kindergarten "Ein Bustan" in Tivon, der im Herbst 2005 eröffnete.

Der kultur-individuelle Aspekt

Die von Rudolf Steiner begründete Waldorfpädagogik ist kein "Exportprodukt", das einer anderen Kultur übergestülpt wird - aus mehreren Gründen:

  • Auf der Grundlage des spirituellen Menschenbildes der Anthroposophie steht das Wesen des Kindes im Mittelpunkt des waldorfpädagogischen Ansatzes. Er ist daher zum einen überkulturell-menschheitlich, zum anderen völlig individuell. Die Waldorfpädagogik ist von ihrem Wesen her eine "Erziehung zur Freiheit" (so der Titel eines Buches von Frans Carlgren und Arne Klingborg).
  • Rudolf Steiner hat für die Waldorfschule keinen Lehrplan gegeben. Er hat in den Jahren der Begründung der ersten Waldorfschule (1919 in Stuttgart) den Lehrern Empfehlungen gegeben, welche Themen der Entwicklung der Kinder entsprechend für die einzelnen Klassenstufen besonders geeignet sind - und auf welche Weise sie den Kindern und Jugendlichen nahegebracht werden können. Auch wenn diese Empfehlungen nach Steiners Tod (1925) auf der Grundlage der gemachten Erfahrungen von Waldorflehrern weiter ausgearbeitet wurden und heute oft vom "Lehrplan der Waldorfschule" die Rede ist, ist dieser gesammelte Erfahrungsschatz vor allem Empfehlung und Hilfestellung für den einzelnen Waldorflehrer, der aus dem Erleben "seiner" Kinder heraus den individuell richtigen Unterricht konzipieren darf und soll.
  • Waldorfinitiativen weltweit entstehen bis auf ganz wenige Ausnahmen immer als Initiativen vor Ort. Einzelne Menschen begegnen der Waldorfpädagogik, begeistern andere für diesen Ansatz - und die Initiative entsteht. Oft geht eine mehr oder weniger lange gemeinsame Elternarbeit voraus, dann wird zunächst meist ein Waldorfkindergarten gegründet, aus dem später organisch eine Schule entstehen kann.
  • Während weltweit die kulturelle Vielfalt zunehmend verloren geht und sich auch die Bildungssysteme immer mehr aneinander angleichen (deren "Amerikanisierung" in der Vergangenheit in vielen Ländern auch durch Auflagen von Weltbank und internationalem Währungsfonds gefördert wurde), arbeitet die Waldorfpädagogik immer wieder gerade für die Bewahrung und Wiederentdeckung des regionalen und überregionalen kulturellen Erbes.

Aus den vorangegangenen Bemerkungen wird deutlich, dass es jeweils die Aufgabe der Menschen vor Ort ist, die Waldorfpädagogik unter den Bedingungen ihres Landes, ihrer Kultur und ihres konkreten Umfeldes umzusetzen. Immer wieder neu müssen von den jeweils tätigen Menschen die entscheidenden Forschungsfragen gestellt werden:

Was sind die Zusammenhänge zwischen den von Steiner gegebenen Empfehlungen (bzw. den später von den Waldorflehrern gesammelten Erfahrungen) und den Entwicklungsstadien des jungen Menschen? Warum "passt" dieses oder jenes Thema gerade zu einer bestimmten Altersstufe? Was ist in dieser gerade "dran" und kann und muss angeregt werden? Und wenn die Empfehlungen einen Bezug zur mitteleuropäischen Geschichte und Kultur hatten: Womit kann ich anderswo in der Welt, aus der je regionalen Geschichte und Kultur schöpfend, den jungen Menschen in gleicher Weise anregen und fördern?

Oder allgemeiner: Was ist das Wesen der Waldorfpädagogik? Was bedeutet dies für den Ort, wo ich stehe; für die Kinder, mit denen ich hier arbeite? Welche Gestalt muss die Waldorfpädagogik bekommen, um diesen Kindern und diesen Voraussetzungen gerecht zu werden?

Dass diese Fragen nicht leicht und schon gar nicht sofort zu beantworten sind, ist selbstverständlich. Dies trifft aber auch auf jede andere Pädagogik gleichermaßen zu. Vom Prinzip her ist die Waldorfpädagogik so offen und individuell gestaltbar wie kaum ein anderer Ansatz.

Konkret wird die Verlebendigung des pädagogischen Ansatzes in einer anderen Kultur unter anderem das Folgende beinhalten. Märchen, Geschichten, Legenden und Mythen, die insbesondere in den unteren Klassen erzählt und kreativ (z.B. in Klassenspielen) behandelt werden, werden selbstverständlich auch aus der jeweiligen Kultur entnommen werden. Dabei ist zu beachten, dass die von Steiner gegebenen Empfehlungen sich keineswegs auf die "mitteleuropäische Kultur" beschränkten, sondern auf alles menschheitlich und bewusstseinsgeschichtlich Bedeutsame an.

Durch das Beschriebene dürfte klar werden, dass die Gestaltung der Waldorfpädagogik über die Erde hin ein lebendiges Geschehen ist, das auch großer Forschungsbemühungen bedarf. Diese Forschungsarbeit ist keineswegs abgeschlossen, kann es auch gar nicht sein. Die hier berührten Fragen sind sicherlich in vielen Fällen noch überhaupt nicht zufriedenstellend bearbeitet, aber Waldorfpädagogen weltweit wissen um diese essentiellen Fragen und forschen im besten Falle täglich daran. Denn letztlich sind es zwei Seiten derselben Medaille bzw. Frage: Wie muss Waldorfpädagogik in meinem (Kultur-)Umkreis gestaltet werden? Und: Was brauchen die mir anvertrauten Kinder von mir jetzt und hier? Dass diese Frage auf der Grundlage des tief spirituellen und damit immer auch "humanistischen" anthroposophischen Menschenbildes täglich lebendig bleibt, ist einer der wesentlichsten Aspekte des waldorfpädagogischen Ansatzes.

Beispiele

Es gibt bisher leider keine uns bekannte Literatur bzw. gar "wissenschaftliche" Forschung zum Thema. Daher können im folgenden nur einige kurze Einblicke gegeben werden, die einen ersten "praktischen" Eindruck des zuvor Gesagten vermitteln.

Südamerika

In Südamerika forschen die Waldorflehrer unter anderem während der großen Südamerika-Tagungen regelmäßig an der Frage, wie die regionale Kultur noch besser in den Unterricht integriert werden kann. Dies betrifft etwa die naturkundlichen Gegebenheiten oder spezielle musikalische Elemente, aber auch die Indio-Kulturen (während die "offizielle Geschichte" die Zeit vor der "Entdeckung" Südamerikas vielfach bis heute ausgeblendet hat). Zudem öffnen sich die Waldorfschulen zum Beispiel in Argentinien auch den speziellen sozialen Herausforderungen, der wachsenden Armut. So machen etwa Waldorfschüler in Buenos Aires Sozialpraktika in Gemeinschaftsküchen oder musizieren in ihrer Jahresarbeit mit Kindern eines Elendsviertels.

In Brasilien erforschen die Oberstufenschüler der Waldorfschule Cuiabà das einmalige Ökosystem des Pantanal und erwerben ein staatlich anerkanntes Umwelt-Diplom. Mehrere ehemalige Schüler sind heute begabte Studenten oder Wissenschaftler.

Afrika

In Ägypten prägt in der Waldorfschule Sekem die islamische Religion den Tages- und Jahresrhythmus des Schulgeschehens. Dabei feiert die Schule ebenso die christlichen Jahresfeste. Sekem ist ein umfassendes sozio-kulturelles Projekt, das auf biodynamischer Landwirtschaft aufbaut. Sein Gründer, Ibrahim Abouleish, wurde für seine sozio-kulturellen Verdienste 2003 mit dem "Alternativen Nobelpreis" ausgezeichnet.

In Togo eröffnete im Herbst 2004 ein Kindergarten unter der Leitung einer erfahrenen Pädagogin, die sich bei einem Aufenthalt in Deutschland für den Waldorfimpuls begeisterte, in ihrer eigenen Art diesem jedoch von Anfang an nahestand. Sie selbst hält die Waldorfpädagogik gerade deshalb für das "einzig Richtige für Afrika", weil sie an die dortigen Gegebenheiten anknüpfe und zugleich in die Zukunft führe.

In Ghana gründete eine ehemals in Deutschland tätige Waldorflehrerin ein Projekt, das Jugendliche von der Straße holte (Die Baobab Children Foundation). Die jungen Menschen lernen hierbei ganz praktische Tätigkeiten, die ebenfalls wiederum eng an die lokale Kultur anknüpfen (u.a. Holzschnitzen, Malerei, Kenteweben, Batik, Trommeln und Tanz).

Die Waldorfschulen in Südafrika pflegen gerade in den Townships ganz selbstverständlich das Besondere der afrikanischen Kultur in den Geschichten und Liedern, überhaupt in der Musik, aber auch im Künstlerischen und anderen Fächern.

Europa

Die Waldorfbewegung in Norwegen begann mit einer Erneuerung des kulturellen Erbes. Die ersten Lehrer suchten und fanden vergessene Schätze aus dem Kulturerbe - Märchen und Lieder - und knüpften an die Tradition der nordischen Volkshochschulen, in denen das lebendige Wort gepflegt wurde, an, indem sie Schauspiele, Gedichte und Erzählungen dichteten, Musik komponierten und Theater und Opern mit den Kindern inszenierten.

Die kulturell-regionale Gestalt der Waldorfpädagogik zeigt sich natürlich immer bis in Einzelheiten, die zunächst überhaupt nicht erwähnenswert scheinen. So ist es selbstverständlich, dass Waldorfschüler in Italien zum Beispiel bei der Weinernte helfen.

In Moldawien lernen die Kinder in der Waldorfschule Chisinau nicht nur alles über die rumänisch-moldawische Kultur und Geschichte, sondern üben auch ganz praktisch Volkstänze und spielen neben der Flöte auch traditionelle Instrumente wie Pfeife, Caval und Ocarina.

Asien...

In Israel prägt das Judentum die spezielle Ausgestaltung des Unterrichts, indem das Alte Testament durch alle Klassen hindurch in jeweils zwei bis drei Epochen behandelt wird. Im übrigen lernen die Waldorfschüler von der ersten Klasse an auch Arabisch - die Sprache der Nachbarkultur. Zu den Friedensinitiativen der israelischen Waldorfschulen siehe weiter oben.

In Indien vereinigen die Waldorfschulen oft Elemente aus Ost und West - auch hier aus dem Bewusstsein heraus, dass es nur eine Menschheit gibt. So stehen neben den indischen Märchen die Gebrüder Grimm, neben den Fabeln von Äsop das Panchatantra und buddhistische Tiergeschichten, neben den griechischen und nordisch-germanischen Mythen die großen indischen Epen. Und die fünften Klassen treffen sich zu einer wunderbaren griechischen Olympiade.

In Nepal sammelte die kleine Tashi Waldorfschule in Kathmandu von Anfang an traditionelle Lieder, Geschichten, Mythen usw., um dieses kulturelle Erbe lebendig in ihren Kindergarten- und Schulalltag zu integrieren.

Auch in Thailand leistete man viel Forschungsarbeit zur Individualisierung der Waldorfpädagogik. In der Panyotai Waldorfschule in Bangkok werden in der ersten Klassen Märchen erzählt, die teilweise nur noch wenig bekannt sind, später thailändische Volkssagen und Legenden sowie vielfältige Geschichten aus dem das Land prägenden buddhistischen und chinesischen Kulturkreis. Drittklässler bauen eine eigene Bambushütte und pflanzen und ernten Reis. Die älteren Klassen behandeln große Epen wie das Ramayana, die - obwohl zum Beispiel in Indien entstanden - zum festen Kulturerbe vieler asiatischer Länder gehören. Auch die großen Feste Songkran (das thailändische Neujahrsfest) und Loy Kratong (das Fest der schwimmenden Laternen) werden mit neuem Verständnis belebt und gefeiert.

In Japan greifen die Waldorfschulen die japanischen Gegebenheiten und Traditionen auf. Die Kenji-Schule in Tokyo nimmt zum Beispiel am jährlichen Stadtteilfest teil, an dem zahllose Menschen in traditioneller Kleidung mit Tanz, Trommeln und Flötenspiel durch die Straßen ziehen. Die Waldorfschüler führten dabei zum Beispiel den traditionellen Nanazu-mai-Tanz auf, mit dem man ursprünglich für eine reiche Ernte und Frieden - und der mit japanischen Kurz- und Langschwertern getanzt wird.

In Australien bemühten sich die Waldorfschulen, die Kultur der Aborigines in ihren Unterricht einzubeziehen und viele Waldorfschüler waren in der Versöhnungskampagne aktiv, in der die Australier bei den Aborigines für das 200 Jahre lang erlittene Unrecht um Entschuldigung baten. In Neuseeland  wiederum integrierten die Waldorfschulen Elemente aus der Kultur der Maori.

Zusammenfassung

Die von Rudolf Steiner begründete Waldorfpädagogik orientiert sich konsequent an der Entwicklung und Individualität des Kindes. Sie versucht, die je individuellen Impulse der Kinder und Jugendlichen zur Entfaltung kommen zu lassen. Ein wesentlicher Aspekt dieses Bestrebens ist es, das jedem Kind eigene Weltinteresse anzuregen und zu fördern.

In diesem Zusammenhang greift die Waldorfpädagogik selbstverständlich die jeweilige Umwelt des Kindes auf, die Geschichte, Natur und Kultur in ihren regionalen Gegebenheiten. Darüber hinaus versucht die Waldorfpädagogik, den Blick zuletzt immer auch auf das große Ganze zu richten. Auf diese Weise wächst jeder junge Mensch zugleich wahrhaftig in die je eigene Kultur und in die eine Menschheit hinein.

Dass die Waldorfpädagogik kein Exportprodukt ist, das einer anderen Kultur einfach übergestülpt wird, geht also bereits daraus hervor, dass der zentrale Ansatzpunkt schlicht und einfach das Wesen des Kindes ist - dieser Ansatz ist zum einen überkulturell-menschheitlich, zum anderen völlig individuell. Darüber hinaus hat Rudolf Steiner keinen Lehrplan vorgegeben, sondern gegenüber den Lehrern der ersten Waldorfschule Empfehlungen ausgesprochen, die sich an der Entwicklung des Kindes orientierten.

Diese Empfehlungen innerlich lebendig zu machen, ist die Aufgabe der Waldorfbewegung in jedem einzelnen Land. Die Forschungsfrage lautet: Was ist der grundsätzliche Charakter jeder Entwicklungstufe und was entspricht dem als Thematik? Anhand dieser Frage wird der Waldorfpädagoge dann auch aus der je regionalen Geschichte und Kultur viel Material für seinen Unterricht schöpfen können - um so mehr, als alle Waldorfschulen aus der Initiative von Menschen vor Ort entstehen.

Die Verbreitung der Waldorfpädagogik begann zunächst fast ausschließlich in Europa und Nordamerika. In den 70er und stärker in den 80er Jahren gab es einige Schulgründungen in Südamerika und Australien, ab 1986 dann auch in (zunächst Süd-)Afrika, in den 90er Jahren auch in Asien. Die 1971 gegründeten "Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V." halfen und helfen nach wie vor vielen Schulen mit Spendengeldern und trugen so nicht unwesentlich zu dieser Entwicklung bei.

Waldorfschulen stehen überall für eine Pädagogik, die die wirkliche innere Entwicklung und den innerlichen Reichtum der Kinder fördern will. Während die staatlichen Bildungssysteme immer mehr Augenmerk auf "Wettbewerbsfähigkeit", Erfüllung der Lehrpläne und möglichst viel abfragbares Wissen legten, war der Waldorfbewegung seit jeher ein im tiefsten Sinne künstlerischer Unterricht, der auch die Fülle der regionalen Phänomene und Kulturschätze aufnimmt, ein zentrales Anliegen. Auf diese Weise wurden viele Waldorfschulen weltweit geradezu zu Orten, wo die Elemente der jeweils regionalen Kulturen lebendig gepflegt und sogar wiederentdeckt wurden.

Dem gegenüber steht ein starker interkultureller Aspekt, der die Waldorfbewegung ebenso auszeichnet. Er äußert sich zum Beispiel darin, dass

  • die afrikanischen Waldorfschulen oft Vorreiter einer "Regenbogengesellschaft" waren und noch heute sind;
  • in israelische Waldorfschulen vielfältige Friedensinitiativen zu einer freudigen Zusammenarbeit zwischen jüdischen und arabischen Schülern führen;
  • Waldorfpädagogen weltweit einander auf Konferenzen begegnen und ihre Erfahrungen austauschen;
  • Waldorfschulen über Grenzen hinweg vielfältige Partnerschaften pflegen und Projektreisen durchführen;
  • Waldorfschüler selbst internationale Jugendtagungen organisieren und Freiwilligendienste im Ausland leisten;
  • viele Waldorfschulen einen "WOW-Day" veranstalten, dessen Erlöse benachteiligten Kindern weltweit helfen.

Die Waldorfpädagogik ist eine Pädagogik, die alle Grundlagen dafür legt, dass junge Menschen ihre eigenen Entwicklungswege gehen und ihre individuellen Fähigkeiten und Impulse entwickeln können. Sie verwurzelt die Kinder und Jugendlichen in ihrer je eigenen Kultur und führt sie zugleich in die eine, ungetrennte Menschheit hinein.

Dem weltweiten Kulturverlust und den nationalen und regionalen Egoismen begegnet die Waldorfpädagogik mit lebendigem Kulturleben und echtem Weltinteresse.

Holger Niederhausen

© 2006-2007 Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. - Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autoren und des Vereins.

"Eine global gültige Pädagogik erscheint möglich, wenn drei Elemente in ein lebendiges Wechselspiel gebracht werden: Die leiblichen Veränderungen und die mit ihnen verbundenen psychischen Metamorphosen stellen die Herausforderungen dar, auf welche das pädagogische Handeln zu antworten hat; die jeweilige Kultur modifiziert diese Antworten und prägt damit das Seelische des Kindes; das seiner selbst immer stärker bewusst werdende Ich sucht auf der Grundlage der ihm gegebenen Anregungen seinen eigenen Weg.

Exakt an diesem Punkt zeigt sich die Fruchtbarkeit anthroposophischer Menschenkunde für eine interkulturelle Pädagogik, differenziert sie doch zwischen Leib, Seele und Geist und bekommt somit sowohl die universellen körperlichen Entwicklungsprozesse als auch die von der jeweiligen Sprache und Kultur geprägten seelischen Verhältnisse sowie die Individualität, das "Ich" des Kindes, in den Blick. Auf dieser Grundlage konnte eine interna­tionale Schulbewegung mit insgesamt über tausend Schulen auf allen Kontinenten entstehen, in denen Waldorfpädagogik in völlig unterschiedlichen kulturellen Kontexten praktiziert wird."

Michael Brater et al.: Schule ist bunt. Eine interkulturelle Waldorfschule im sozialen Brennpunkt. Freies Geistesleben, 2007, S. 98.