Völkische Selbstbestimmung und Dreigliederung – Zu einem Sammelband über Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Völker und Steiners Kritik daran

01.06.2002

Quelle
Zeitschrift „Der Europäer“
Jahrgang 6, Heft 8, Juni 2002, S. 9-12
Bibliographische Notiz

Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis des Autors

Als Rudolf Steiner 1917 zum ersten Male die «Dreigliederung» als grundlegende Sozialidee entwickelte, geschah das in Auseinandersetzung mit dem Ordnungsprogramm, mit dem der damalige amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) die USA in den Ersten Weltkrieg geführt hatte. Grundlegend für Wilsons Programm war insbesondere die Maxime eines «Selbstbestimmungsrechtes der Völker», die als Maxime für die Neuordnung der europäischen Landkarte dienen sollte. In der Dreigliederung wurde demgegenüber entwickelt, dass und warum National- und Volksfragen ganz von staatsrechtlichen getrennt gehalten werden sollten. In seinen Manifesten entwarf Steiner 1917 ein Programm, mit dem das Überleben des damaligen Österreich-Ungarn als staatsrechtliches Gebilde durch eine tiefgreifende Umwandlung hätte ermöglicht werden sollen. Diese Umwandlung projektierte (u.a.) die Ausgliederung aller kulturellen Fragen aus dem Zuständigkeitsbereich des bisherigen Staates. Mit dieser Ausgliederung sollte zugleich die eigenständige Entwicklung aller in dem Gebiet ansässigen «Nationen» oder «Völker» in Form selbstverwalteter Nationalkulturen ermöglicht werden. Die Geschichte der Bevölkerungsverschiebungen, Vertreibungen und ethnischen «Säuberungen» im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts hat die ganze Bedeutung von Steiners damaligen Einwänden gegen die Doktrin vom Selbstbestimmungsrecht der Völker bestätigt. Noch der deutsche Nationalsozialismus ist ja in einem Aspekt eine wilsonianistische Bewegung gewesen: seine Parolen «Deutschland muss frei sein» und «Alle Deutschen heim ins Reich» können als klassische Formulierungen des Wilsonianismus gelten.

Wilsons Friedensprogramm und seine Phraseologie wurden seinerzeit für Steiner zum Anlass, der es ihm ermöglichte, die Idee der Dreigliederung nach außen zu stellen. Durch die ganze Art seines Denkens wurde Wilson für Steiner zu einer Folie, die er als Hintergrund dafür benutzte, zu zeigen, wie und wie nicht wirklichkeitsgemäß über Fragen des sozialen Lebens gedacht werden kann.

Steiners Auseinandersetzung mit Wilsons Programm ist jetzt ein Aufsatzband gewidmet, der in der Schriftenreihe «Kontext» des Info 3 Verlages erschienen ist. [1] Er enthält eine recht heterogene Reihe sechs verschiedener Beiträge: zwei – von Markus Osterrieder und Jens Heisterkamp – sind eher historisch gehalten; einer – von Ted van Baarda – bemüht sich um eine systematische Behandlung des Gegensatzes; einer beleuchtet mit dem Hintergrund der damaligen Debatte die heutige Europäische Union (Jürgen Erdmenger); einer – von Ramon Brüll – entwirft ein heutiges politisch-kulturelles Programm; ein Beitrag schließlich (von Arnold Suppan u. Valeria Heuberger über Nationalitätenfragen in Mittel- und Osteuropa seit 1918) scheint ganz ohne den Hintergrund einer Kenntnis der Auseinandersetzung Steiners mit Wilson und überhaupt ohne Kenntnis der Dreigliederung geschrieben. Die Heterogenität der einzelnen Aufsätze besteht in Charakter, Qualität und Länge: der umfangreichste (von Markus Osterrieder) umfasst beinahe hundert Seiten, der kürzeste (von Ramon Brüll) gerade einmal zweieinhalb.

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Den Aufsatz des Münchner Historikers Markus Osterrieder «Die Illusion der vierzehn Punkte. Über das ‹nationale Selbstbestimmungsrecht› als Kriegswaffe und dessen zerstörerische Folgen in Mitteleuropa» wird man nicht anders denn als großartig bezeichnen wollen. Es ist nicht nur der längste, sondern auch der gehaltvollste Beitrag des Buches, sein Kernstück, das alleine den Erwerb rechtfertigen könnte. Es ist eine detaillierte historische Studie über die – insbesondere englische – Nationalitätenpolitik im Ersten Weltkrieg und über die Entstehung, Hintergründe und Folgen von Wilsons «14 Punkten», dem Friedensprogramm, mit dem er 1918 in Europa Furore machte. Ein ganzer historischer Kontinent wird hier der Vergessenheit entrissen und in seiner wahren Bedeutung (und auch Ruchlosigkeit) enthüllt. Es ist ein Beitrag, der vieles von dem, was Rudolf Steiner seit 1916 in seinen Zeitgeschichtlichen Betrachtungen und späteren Vorträgen sagte, verständlicher und in seinen Bezügen durchsichtiger macht. Außerdem leistet Osterrieder in seinen Ausführungen auch eine Trauerarbeit aus der Perspektive des beginnenden 21. Jahrhunderts: er zeigt, welches reiche kulturelle Milieu in Mittel- und Osteuropa im zwanzigsten Jahrhundert durch die rücksichtslose politische Instrumentalisierung von Nationalitätenfragen zerstört wurde.

Als gehaltvoll erscheint in dem Band auch der Beitrag des Herausgebers und Info 3-Chefredakteurs Jens Heisterkamp. Er stellt die Vorgänge, die zum Kriegseintritt der USA 1917 führten und die Initiativen Wilsons und Steiners in den Jahren 1917-1919 in ihrem inneren Bezug dar. Heisterkamp versteht das als ein Fernduell «um das Bewusstsein maßgeblicher Kreise in Europa». [2] Der Aufsatz unternimmt eine Rekonstruktion der Bewusstseinslagen, welche die Endzeit des Ersten Weltkriegs und die Friedensregelungen 1918 und 1919 bestimmten. Sein Titel Die lautlose Front wirkt allerdings unnötig reißerisch: er erinnert an Agententhriller oder Sachbücher über das Geheimdienstmilieu. Im übrigen ist die Front auf der Wilson’schen Seite so lautlos nicht gewesen: Wilsons Parolen haben sich ja eher als ein ohrenbetäubender Lärm über Europa ausgebreitet. Der Beitrag überschneidet sich in einer Vielzahl von Passagen mit demjenigen Osterrieders: das ist charakteristisch für eine Schwäche des Bandes insgesamt, die in der mangelnden inneren Koordinierung seiner Teile besteht. Zumindest hätte man sich als Leser eine zusätzliche Einleitung gewünscht, die den inneren Gesamtbogen verständlich machen und den Zusammenhang der Teile hätte herstellen können.

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Ted van Baardas Beitrag «Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Steiners Kritik einer folgenreichen Idee» ist ein überarbeitetes Kapitel aus dem Report der holländischen Untersuchung, die seinerzeit die Frage des Rassismus im Werk Rudolf Steiners beurteilen wollte. [3] Seine Stoßrichtung geht dahin, zu zeigen, wie sehr Steiners jahrelange Auseinandersetzung mit Wilson gerade einen anti-nationalistischen Hintergrund hatte und dass Steiner von daher eben keinesfalls als Nationalist oder Rassist, sondern als das Gegenteil – als Individualist und Universalist – angesehen werden müsste; van Baarda lässt eine Vielzahl von Zitaten aufmarschieren, in denen Steiner Wilsons Parole vom «Selbstbestimmungsrecht» als Ausfluss und Auslöser einer Haltung zeigte, in der physische Kategorien des Menschseins – Blut, Rasse, Vererbung – verabsolutiert werden. Van Baarda möchte auch zeigen, dass die «Dreigliederung», die von Rudolf Steiner vorgebrachte Sozialidee, gerade darlegt, nach welchen Gesetzmäßigkeiten die soziale Sphäre in nicht-nationalistischer Weise geformt werden muss.

Diese Absichten des Kapitels sind selbstverständlich löblich. Und man wird van Baarda auch den Fleiß, mit dem er seine Zitate zusammengesucht hat, nicht absprechen können. Trotzdem kann man mit der Art, wie er seine Absicht ausgeführt hat, nicht warm werden. Es sei versucht, darzulegen, warum das so ist. Das Interesse des Kapitels scheint vor allem darauf ausgerichtet, Steiners «Standpunkt» als nicht nationalistisch (und insofern progressiv) herauszustellen; es geht überhaupt mehr um die Herausstellung seines Standpunkts, einer Parteirichtung, als um eigentliche Erkenntnis, – d.h. um den inneren Zusammenhang und die Bedeutung der Steiner’schen Ideen. In seinen Ausgangspunkt hat Baarda viel von dem übernommen, was auf der westeuropäischen Linken für fortschrittlich gehalten wird. Und er möchte zeigen, dass Steiner auch zu diesen Fortschrittlichen dazugehört, und nicht etwa, wie in den Rassismusvorwürfen insinuiert wurde, reaktionär oder sogar faschistisch war.

In dieser Intention befleißigt sich Baarda (oder sein deutscher Übersetzer) einer Sprache, in der die Ideen, wie sie von Rudolf Steiner vorgebracht wurden, nicht wirklich leben und in ihrer Bedeutung und Reichweite begriffen werden können. Menschen, die seinen Bericht lesen, müssen wohl davon überzeugt sein, dass Rudolf Steiner kein Nationalist war: insofern ist die Fülle der Zitate wahrscheinlich überzeugend; es scheint aber kaum vorstellbar, dass sie durch seine Art der Darlegungen ein Interesse daran finden werden, sich tiefer mit dem Werk Rudolf Steiners zu beschäftigen. Zu sehr wird er hier in ein Korsett gepresst, in dem er nicht wirklich atmen kann.

Es seien einige Formulierungen und Sätze herausgegriffen, die zeigen können was gemeint ist: «Dass Wilson hier was ändern wollte, begrüßte Steiner.» «Es ist wenig verwunderlich, dass Steiner Wilsons Auffassung über die Freiheit der Völker grundsätzlich ablehnte.» «Den Spruch ecce homo, – siehe der Mensch! – dürfe man nicht zu oberflächlich interpretieren, forderte Steiner.» «Mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit kritisierte Steiner ...» «Solche geflügelten Worte stießen bei Steiner auf harte Kritik...» «Wir haben bereits dargelegt, dass Steiner ein überzeugter Fürsprecher einer individualistischen Position war ...» usw.

Derartige Motivierungsformeln aus dem Fundus eines Kolportagejournalismus scheinen Rudolf Steiners Reden und Handeln in Wirklichkeit nicht sehr angemessen. Sie evozieren eine geistig-psychische Atmosphäre, in deren Bannkreis die von Steiner vorgebrachten Gesichtspunkte und Gedanken nicht verstanden oder zumindest nicht in ihrer Reichweite erfasst werden können. Sie stutzen Rudolf Steiner auf eine Norm zurecht, in der die Anders- und Neuartigkeit, die ganze Besonderheit seines Wirkens nicht mehr in den Blick gerät; von dieser Norm aus muss die Art seines Redens dann übrigens umso befremdlicher wirken, weil ja nicht mehr verständlich ist, warum sich ein «aufgeklärter linksliberaler Antinationalist und Individualist» einer so ungewöhnlichen Redeweise befleißigt haben sollte.

Wenn Baarda seine Darstellung der Dreigliederung mit dem Satz einleitet: «Grundsätzlich gibt es mehrere Möglichkeiten, multi-ethnische Staaten zu organisieren», [4] so hat er (bzw. die Dreigliederung) damit eigentlich schon verloren. Die Dreigliederung versteht sich als die Darlegung grundlegender Gesetzmäßigkeiten der sozialen Bezüge des Menschen in diesem Zeitalter; zugleich hat Steiner Ideen dafür entwickelt, wie die sozialen Einrichtungen im Sinne dieser Gesetzmäßigkeiten verstanden werden und gestaltet sein müssen. Man kann selbstverständlich andere nicht dazu zwingen, ihr Denken so einzustellen, dass sie diese Gedanken in ihrer ganzen Bedeutung erfassen und in sich bewegen; aber man kann auch nicht die Dreigliederung explizieren, ohne diesen Anspruch aufrecht zu erhalten; man kann sie nicht als ein beliebiges Rezept hinstellen oder wenn man es tut, so muss für außenstehende Leser völlig unverständlich bleiben, warum manche Menschen dem solche Bedeutung beimessen und sich von der Aufnahme dieser Gedanken so viel erhoffen.

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Die Europäische Union als Verwirklichung der Dreigliederung?

Symptomatisch in seiner Verfehltheit wirkt der Beitrag von Jürgen Erdmenger über die Europäische Union: «Nationalstaat noch heute? Der neue Weg Europas nach dem Zweiten Weltkrieg und seine Perspektiven zu Beginn des 21. Jahrhunderts». Erdmenger, der als (ehemaliges?) Mitglied der Europäischen Kommission, d.h. des Brüsseler Exekutivorgans der Gemeinschaft, vorgestellt wird, möchte deutlich machen, dass die Problematik des Nationalstaats, wie sie seinerzeit von Steiner gegenüber Wilson aufgeworfen wurde, in der heutigen EU weitgehend überwunden ist; er beschreibt die EU als ein Gebilde, das eine gelungene Antwort auf die «Gefahren des Nationalismus» ist. Das Behagen einer großen Selbstzufriedenheit ist manchmal unter den juristisch-politischen Sprachformeln von Erdmengers Diskurs herauszuhören: «Erfreulicherweise sieht die Welt heute aber doch anders aus als 1918. Man muss, zumindest in weiten Teilen Europas, nicht erst jetzt damit anfangen, die Verhältnisse nach den Regeln der Dreigliederung zu gestalten», [5] behauptet er beispielsweise an einer Stelle.

Man wird nicht bezweifeln können, dass der europäische Einigungsprozess seit 1950 tatsächlich eine Spitze gegen die alten europäischen Nationalismen enthält; und dass er diesen Nationalismen Ausdrucksmöglichkeiten versperrt, indem er den Nationalstaaten Kompetenzen entzieht. Aber das macht andererseits nur deutlich, dass eben der vereinseitigte Kampf gegen (einen alten) Nationalismus keine Zielsetzung der Dreigliederung, geschweige denn ein Zeichen ihrer Umsetzung, sein kann. Das spezifische Problem des Nationalstaats ist ein Sonderfall des Problems des Einheitsstaates, jener Staatsauffassung, wie sie sich im Europa der Neuzeit herausgebildet hat, in welcher der Staat sich als Gestaltungsorgan für die Gesellschaft versteht. Erdmenger scheint keinen Begriff von dieser Problematik zu haben. Rudolf Steiner hat gezeigt, dass die legitime Rolle desjenigen, was man als «Staat» bezeichnen könnte, die eines Organs der Rechtsbildung ist; zerstörerisch muss der Staat dagegen immer wirken, wo er irgendwelche positive Zielsetzungen für irgendwelche Entwicklungen in der Gesellschaft – was sich oder was sich nicht auf welchem Gebiet auch immer entwickeln soll – vorgibt oder zu verwirklichen versucht und dafür Mittel an sich zieht, die ihm nicht zustehen. Das ist gänzlich unabhängig davon, was das für Zielsetzungen sind , – ob er nun die Menschen eher zu Bestien oder zu Engeln abzurichten versucht, ob er eher Verarmung oder Schaffung von Reichtum intendiert. Es ist sogar unabhängig davon, ob die Staatsorgane, die so verfahren, demokratisch oder diktatorisch bestimmt sind. Und auch die Frage, inwieweit den «Bürgern» über diese Staatsaktivitäten hinaus noch «Freiräume», «Freiheitsrechte» zugestanden werden, erscheint dabei nur als zweitrangig.

Die Europäische Kommission, weit davon entfernt, sich dieser Problematik in irgendeiner Weise bewusst zu sein, erscheint geradezu als ein Höhepunkt des europäischen Einheitsstaatsdenkens; als solcher wird sie ja auch in der Bevölkerung gesehen, wo ihre Regelungswut längst sprichwörtlich geworden ist. Ihre 20 Kommissare bilden eine Miniaturwelt, in der alle Lebensbereiche der Gesellschaften noch einmal reproduziert werden, um von dort aus regiert zu werden; in diesem Charakter geht die Kommission noch über das hinaus, was in den Kabinetten der Regierungen der europäischen Staaten ohnehin seit Jahrhunderten üblich ist.

So gesehen erscheint die Europäische Union eher als ein Gebäude im Sozialen, – eine «Architektur», wie sie sich selbst gerne nennt –, in dem eine bedeutende, aber untergeordnete Frage – die Verhinderung von Kriegen zwischen den europäischen Nationalstaaten – auf eine solche Art verabsolutiert wurde, dass durch die Art ihrer Lösung fruchtbare Sozialbildungen kaum mehr Luft bekommen können. Die EU ist in Wirklichkeit keine Lösung der Probleme, die Rudolf Steiner seinerzeit am Nationalstaat aufgezeigt hatte, sondern nur ihre Verlagerung auf eine andere Ebene. Sie erscheint auf dieser neuen Ebene sogar als Potenzierung der Probleme. Es ist dafür symptomatisch, dass das Exekutivorgan der Europäischen Union als «Kommission» benannt wurde und ihre Vertreter als «Kommissare», d.h. mit Namen, die koloniale oder kommunistische Vorbilder heraufzubeschwören scheinen.

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Das verweist auch auf Mängel des Buches als Ganzes. Die Dreigliederung, die doch den Kern von «Steiners Kritik» – an sich kein ganz angemessener Ausdruck – an Wilson bildet, wird darin so behandelt, als ob ihr Verständnis eigentlich vorausgesetzt wird. Sie kann für einen außenstehenden Leser durch die Beiträge des Bandes nicht wirklich einsichtig werden, durch denjenigen Erdmengers wird sie sogar verunklart. An keiner Stelle wird auch versucht, deutlich zu machen, wie sich die Wirtschaftsideen der Dreigliederung zu der vorwiegend thematisierten Nationalstaatsproblematik verhalten; es wird kaum deutlich, dass die Dreigliederung eigentlich auch ein ganz anderes Herangehen an alle wirtschaftlichen Fragen impliziert und erfordert. Die Art und der innere Zusammenhang von Steiners Wirken am Ende des Ersten Weltkriegs bleiben in dem Band halb ver-

wischt. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass seine Macher sich vielleicht dessen geschämt haben, wie dieses Wirken mit Steiners Sorge um das Schicksal der bis heute weitgehend verfemten Mittelmächte bzw. des von ihnen damals beherrschten Mitteleuropa verquickt war. Typisch dafür ist vielleicht auch, dass dem Band im Anhang zwar der Wortlaut einer entscheidenden Rede Wilsons – auf Englisch ohne Übersetzung! – beigegeben ist, aber kein Text oder keine Zusammenstellung von Äußerungen Rudolf Steiners.

Man bekommt den Eindruck, dass sich der Herausgeber für den Band die Nationalstaatsproblematik auch deshalb herausgepickt hat, weil mit Antinationalismus in der politisch-kulturellen Landschaft hierzulande besonders leicht zu punkten ist. Dabei wäre es in der heutigen Situation sinnvoll, nicht nur auf die Gefahren des Nationalismus, sondern auch auf die Bedeutung und Fruchtbarkeit der Nationalkulturen hinzuweisen. Es geht eben nicht nur darum, dass das Nationale keinen staatsrechtlichen Ort haben darf, sondern auch darum, dass seine Pflege in der kulturellen Sphäre wertvoll sein kann und gegenüber einer primitivisierten Welteinheitskultur sogar noch ein zukunftsweisendes Potential besitzt. Allein in dem Beitrag Markus Osterrieders wird eine Liebe zu den Volksindividualitäten im mittel- und osteuropäischen Raum spürbar, an vielen anderen Stellen aber erklingt eher der Doktrinarismus einer Schein-Elite, die alle Liebe zu nationalen Kulturelementen für lästige Ressentiments von Zu-Kurz-Gekommenen oder Ewig-Gestrigen zu halten scheint.

Andreas Bracher, Hamburg

Anmerkungen

[1] Jens Heisterkamp (Hg.), Die Jahrhundertillusion. Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Völker, Steiners Kritik und die Frage der nationalen Minderheiten von heute. Mit einem Vorwort von Rupert Neudeck, Frankfurt/Main 2002.

[2] Jens Heisterkamp, «Die lautlose Front. Der Eintritt der USA in die Weltpolitik unter Woodrow Wilson und Rudolf Steiners soziale Impulse im ersten Weltkrieg», in: Jens Heisterkamp (Hg.), Die Jahrhundertillusion, a.a.O., S. 147-172, hier: S. 147.

[3] Diese Untersuchung war als Band 1 der gleichen Schriftenreihe erschienen, zu der auch der hier besprochene Band gehört: Anthroposophie und die Frage der Rassen. Zwischenbericht der niederländischen Untersuchungskommission «Anthroposophie und die Frage der Rassen». Mit einer Zusammenfassung des Abschlussberichts, Frankfurt/Main 1999.

[4] Ted van Baarda, «Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Steiners Kritik einer folgenreichen Idee», in: Jens Heisterkamp, Die Jahrhundertillusion, a.a.O., S. 11-52, hier: S. 37.

[5] Jürgen Erdmenger, «Nationalstaat noch heute? Der neue Weg Europas nach dem Zweiten Weltkrieg und seine Perspektiven zu Beginn des 21. Jahrhunderts», in: Jens Heisterkamp (Hg.), Die Jahrhundertillusion, a.a.O., S. 173-195, hier: S. 176.