Die "Kulturschöpferischen"
Wie 50 Millionen Menschen die Welt verändern

01.02.2001

Das beginnende 21. Jahrhundert hat bereits eine global verbreitete Reformbewegung - aber ihre Mitglieder wissen nichts davon. Die bewusste Selbstformation der »Kulturkreativen« könnte die Welt verändern.

Stell dir ein Land von der Größe Frankreichs vor, das plötzlich aus der Mitte Amerikas herauswächst. Es hat eine unermesslich reiche Kultur mit neuen Lebensstilen, Werten und Weltanschauungen. Es hat seine eigenen Vorbilder und seine eigene Vision der Zukunft. Stelle dir vor, wie neugierig wir alle wären, und wie sehr daran interessiert, zu entdecken, wer diese Menschen sind und woher sie stammen.

Nun stelle dir etwas anderes vor. Es gibt solch ein neues Land, genauso groß und genauso reich an Kultur, aber niemand sieht es. Es nimmt leise und fast unmerklich Gestalt an, als wäre es in der Tiefe der Nacht an den Radarschirmen vorbei eingeflogen worden. Aber es kommt nicht von anderswo her. Dieses neue Land ist durch und durch amerikanisch. Und anders als im obigen Bild, taucht es nicht nur an einer einzigen Stelle irgendwo in den Weiten der Maisfelder Iowas auf, sondern auch in den Straßen der Bronx, und überall im Land von Seattle bis St. Augustine. Es taucht überall dort auf, wo du es am wenigsten erwarten würdest: im Wohnzimmer deines Bruders und im Garten deiner Schwester, in Frauengruppen und bei Demonstrationen zum Schutz der Redwoods, in Büros und in Kirchen und in Internet Gemeinschaften, in Cafés und Buchhandlungen, auf Wanderwegen und in Vorstandsetagen.« 1

Wer sind die »Kulturschöpferischen«?

Dieses neue Land und seine Bevölkerung sind Thema der umfangreichen amerikanischen Studie, welche die Autoren Paul Ray und Sherry Anderson nach dreizehn Jahren Forschung im letzten Herbst veröffentlicht haben. Das Ergebnis von Meinungsumfragen bei über einhunderttausend Amerikanern und in Hunderten von Zielgruppen, und die Auswertung von über sechzig zusätzlichen gründlichen Interviews offenbaren eine vollständige Subkultur von Amerikanern 2, der die Autoren den Namen »The Cultural Creatives« gegeben haben, zu deutsch etwa »Die Kulturschöpferischen« oder die »Kulturell Kreativen«.

Diese Menschengruppe umfasst ein gutes Viertel der heutigen amerikanischen Bevölkerung. Sie ist tonangebend auf verschiedensten Gebieten kultureller und gesellschaftlicher Erneuerung, und sie hält ein breites Spektrum von Lösungen für die Probleme und Leiden unserer Zeit bereit. Die Kulturschöpferischen haben das Potential, die Zivilisation des 21. Jahrhunderts entscheidend zu beeinflussen. - Eine vergleichbare Untersuchung in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft aus dem Jahre 1997 lässt einen ähnlich hohen Anteil von solchen Kulturschöpferischen auch bei uns vermuten. 3 Ob Sie, die Leserin oder der Leser dieses Artikels, womöglich zu ihnen gehören?

Werte und Überzeugungen gehören zu den sichersten Indikatoren, um menschliches Verhalten vorauszusagen. Hier einige der Werte, die im Leben der Kulturschöpferischen eine zentrale Rolle spielen. Authentizität: Sie sagen, was sie denken, und sie tun, was sie sagen. Sie erwarten nicht von anderen Handlungen, zu denen sie nicht selbst bereit wären. Sie haben die gegenwärtige Betonung persönlicher Authentizität maßgeblich hervorgebracht. Engagierte Aktion und Ganzheitliches Lernen: Bei Projekten wollen sie durchweg beteiligt sein von der Hervorbringung über das Durchtragen zum Abschluss bis zum neuen Anfang. Sie wollen persönlich involviert sein.

Idealismus und Aktivismus: Wenn sie in einer Sache, die sie beschäftigt nicht gleichzeitig auch engagiert sind, halten sie ihre Überzeugungen nur für leeres Gerede. Sie wollen in Alltag und Beruf einen Beitrag zur Gesellschaft leisten und durch ihr Leben Teil einer neuen, besseren Welt sein. Global und ökologisch: Sie sind durchdrungen von der Bedeutung ganzheitlicher Systeme. Sie sind die Meinungsführer in der Ökologie und Vorreiter neuer, nachhaltiger Lebensstile.

Die Bedeutung der Frauen: Sie halten die weiblichen Erkenntnisqualitäten für zentral: Empathie und Sympathie für andere fühlen, sich auf den Standpunkt des anderen stellen können, persönliche Erfahrungen und eine Ethik der Fürsorge in den Vordergrund rücken. 60 Prozent der Kulturschöpferischen sind Frauen. Selbstlosigkeit, Selbstverwirklichung und Spiritualität: Je stärker ihre Interessen in Richtung Selbstlosigkeit, Selbstverwirklichung und Spiritualität gehen, umso stärker engagieren sie sich in sozialen Aktionen und sozialen Prozessen.Ray und Anderson unterscheiden innerhalb der Kulturschöpferischen zwei Untergruppen. Die Kerngruppe von 24 Millionen Menschen ist gebildeter und mit hohen Ansprüchen orientiert auf die eigene Entwicklung im Zusammenhang mit sozialem Engagement. Alle Kulturschöpferischen leben »grüne«, ökologische Werte, aber die Kerngruppe tut dies intensiver und aktiver. In der Kerngruppe gibt es doppelt so viele Frauen wie Männer. Die zweite Gruppe, die so genannten »Grünen Kulturschöpferischen«, ist weltlicher ausgerichtet. Sie hat ein mäßiges Interesse an Spiritualität, Psychologie und persönlichkeitszentrierten Werten.

Sie tendiert dazu, den Überzeugungen der Kerngruppe zu folgen. Der Anteil von Frauen und Männern in ihr ist etwa gleich. Doch ein Charakteristikum zeichnet die Gesamtheit der Kulturschöpferischen heute aus, und in ihm liegt ihre Aufgabe für die nächste Zukunft: Sie haben noch kein gemeinsames Bewusstsein ihrer selbst als kollektiver Subkultur. Sie haben noch nicht erkannt, welche Kraft in ihrem Potential liegt. Vereinfacht gesagt, jeder von ihnen tendiert dazu, sich mit seinen Überzeugungen und seiner Suche alleine zu glauben. Der Kampf um das gemeinsame Bewusstsein der Kulturschöpferischen wird sicherlich eine der zentralen Auseinandersetzungen der kommenden Zeit sein.

Wie wird man ein Kulturschöpferischer?

Der innere Abschied - der erste Schritt. Am Anfang steht auf irgendeine Weise der Abschied aus der Welt der dominierenden Kultur unserer Zeit. Oberflächlich betrachtet kann sich dies abspielen, während man z.B. im Jahr 1968 in den Fernseher schaut und sieht, wie die Polizei mit Knüppeln auf Demonstranten einschlägt, die eigentlich ganz so aussehen, wie man selbst. Plötzlich brechen die Tränen hervor, man hält es nicht mehr aus, sich einfach zurückzulehnen und nur zuzuschauen. Von da an ist nichts mehr wie vorher. Oder es geschieht durch den tragischen Verlust eines eigenen Kindes und die Konfrontation mit Tod und Sterben, die unsere moderne Welt so gerne verdrängt. Man hat eine unsichtbare Schwelle überschritten. Man macht sich auf den Weg - der zweite Schritt.

Man sucht ein neues Leben, einen neuen Sinn. Wie das unternommen wird - mit Herz oder Verstand, gezielt oder wahllos - ist völlig individuell. Und der Weg, auf dem man geht, entsteht auch erst durch die eigenen Schritte auf ihm. Unweigerlich begegnet man dabei sowohl innerlich als auch äußerlich den kritischen Stimmen der alten Kultur - der dritte Schritt. Zu den bevorzugten Techniken der sich in den Weg stellenden Kritiker gehören die verzerrten Spiegelungen des eigenen, oft noch unsicheren Suchens und Probierens, das strikte Verschweigen der eigentlichen Probleme und Tatsachen, und die offene Ablehnung und Zurückweisung. Man hat dann nur die Wahl, sich selbst zu belügen und in den Schlaf zurückzuträumen, oder aber aus den eigenen Werten einen neuen Lebensstil machen - der vierte Schritt.

Und das ist dann eine Herausforderung, die einen zehn, zwanzig, dreißig Jahre lang, eigentlich für den Rest des Lebens begleitet. Eine Vergleichsmöglichkeit mit den Kulturschöpferischen ergibt sich an dieser Stelle für Menschen, die mit der anthroposophen Bewegung sympathisieren. In einem Vortrag vom 13. Februar 1923 beschreibt Rudolf Steiner drei Schritte, durch die Menschen gehen, welche Anthroposophen werden: 1. Die Abkehr von einer Welt und Kultur, die als unwürdig und unmenschlich erlebt werden und die Wendung nach innen. 2. Die Suche nach einer höheren Erkenntnis und einem neuen, wirklicheren Bewusstsein. 3. Die erneute Wendung nach außen und das persönliche Engagement im Schicksal der eigenen Zeit. Hier im Sinne einer spirituellen Biographiearbeit als Anthroposoph den Erlebnis- und Erfahrungsaustausch mit Menschen zu suchen und zu pflegen, die sich zu den Kulturschöpferischen zählen, kann eine Brücke bilden helfen zwischen diesen beiden offensichtlich so verwandten geistigen Strömungen. 4

Aus der Schöpfungsgeschichte einer Kultur

Soziale Bewegungen haben zumeist einen sichtbaren Kernkreis von nur wenigen Hundert Anführern und Demonstranten. Um diesen Kern herum gibt es einen Kreis von einigen Tausend aktiven Unterstützern. Aber um diese beiden inneren Kreise herum gibt es einen weiteren Kreis, der zumeist übersehen wird. Das sind die Sympathisanten, die oft Millionen zählen, Menschen, die von den Ereignissen berührt sind, oft einfach nur die Argumente lesen und daraufhin in einem Bereich ihres Lebens neue Entscheidungen treffen. Hier sind die Kulturschöpferischen zu suchen. Sie gehören zu denen, die am Anfang, äußerlich gesehen, nur am Rande der sozialen Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre engagiert waren, die aber den späteren Verlauf der Bewegungen geprägt haben.

Ende der achtziger Jahre schien der größte Teil des Aktionismus verschwunden zu sein. Aber das lag daran, dass die Aktivisten sich auf lokale Themen konzentrierten statt auf nationale, und dass die Medien ihre Berichterstattung drastisch zurücknahmen. Außerdem ging, zumeist unsichtbar für Außenstehende, die kulturelle Arbeit der jeweiligen Bewegungen weiter, während Teile der politischen Anliegen von den etablierten Richtungen übernommen wurden.Hinzu kommt die parallel zu den sozialen Bewegungen verlaufende Entwicklung der spirituellen Bewegungen. Deren erste Generation, während der sechziger und siebziger Jahre, suchte noch ausschließlich die persönliche Entwicklung und den eigenen weiteren Weg. Die Sucher nach sich selbst und die sozialen Aktivisten schienen in dieser Zeit wie entgegengesetzte Pole.

Aber Anfang der achtziger Jahre wuchs innerhalb der spirituellen Bewegungen das Bedürfnis, die inneren Erfahrungsmöglichkeiten allen Menschen zur Verfügung zu stellen. Man suchte nach Multiplikatoren, um neue Arten von Schulen, Zentren, Instituten und Gemeinschaften aufzubauen. Und vor allem sah man mehr und mehr den Zusammenhang der eigenen Entwicklungsinteressen mit den größeren sozialen Themen und Problemen. Auf der Ebene gesellschaftlicher Bewegungen begann ein völlig neuer Verschmelzungsprozess zwischen sozialem Engagement und spiritueller Entwicklung.

Eine große Strömung in Richtung Veränderung

Heute am Anfang des 21. Jahrhunderts sind drei große Trends zu beobachten. Der erste besteht in einer Veränderung in den sozialen Bewegungen der letzten vierzig Jahre. In ihren Ansätzen werden sie einander ähnlicher. Bei zentralen Themen beginnen sie miteinander zusammenzuarbeiten, und sie orientieren sich auf spirituelle oder bewusstseinsorientierte Bewegungen hin. Der sichtbarste Ausdruck dieses Zusammenfließens war die so genannte »Schlacht von Seattle« im Jahr 1999. Dort wurde der Zusammenhalt einer neuen politischen Haltung demonstriert.

Ökologen und Feministen, Anarchos und Gewerkschafter, Hexen und Nonnen, Verbraucher und Gesundheitsapostel, Menschenrechtsaktivisten und Ureinwohner als Verbund selbstständig agierender kleiner Gruppen ohne zentrale Organisation, aber geübt in Gewaltfreiheit und zivilem Ungehorsam, fügten der Welthandelsorganisation eine schwere Niederlage zu. In ihrem sofort im Internet veröffentlichten Brief beschrieb die Indianerin Starhawk ihre Erfahrung aus der Arrestzelle in Seattle als die machtvollste Initiation, die sie je erlebt hat. 5 Der zweite Trend besteht in der Herausbildung einer gemeinsamen Schnittmenge von Mitgliedern, die an allen Bewegungen aktiven Anteil hat. Das sind die Kulturschöpferischen. Sie sind der Stoff aus dem die Verbindung zwischen allen Bewegungen besteht. Sie gestalten die Bewegungen und werden durch die Bewegungen selbst wieder beeinflusst.

Und drittens beginnt sich eine neue Art von Bewegung zu entwickeln, die den Zusammenfluss aller anderen von Anfang an in sich selbst trägt. Ein Beispiel dafür ist die gerade entstehende Bewegung für »Environmental Health« (etwa: Bewegung für Umwelt und Gesundheit). Sie drückt sowohl den Zusammenhang zwischen Umwelt und menschlicher Gesundheit aus, als auch den Einfluss, den menschliches Verhalten auf die Umwelt hat. In ihr kommen gleichzeitig tiefe spirituelle Erfahrungsgesichtspunkte von der Einheit allen Lebens zum tragen, Gesichtspunkte der Entwicklungspolitik und Sozialer Gerechtigkeit, Gesichtspunkte verantwortungsbewusster Wirtschaft und Politik, und schließlich die ganz persönliche Erfahrung jedes Menschen, der erkennt, dass alles, was heute geschieht auch ihn verletzen und schädigen wird.

Ein planetarischer Übergangsritus

Ein Blick auf mögliche Zukunftsszenarios lässt vermuten, dass es weder einen vollständigen Zusammenbruch der Zivilisation geben wird, in der die Kulturschöpferischen sich ihres Potentials als Subkultur nicht bewusst werden noch dass die Kulturschöpferischen sich alle gegenseitig erkennen und effektiv in der Welt so wirksam werden, dass sich eine ganzheitliche und gesunde planetarische Integration entfaltet, in der alle heutigen Probleme und Gegensätze ihre heilsame Verwandlung finden. Es dürfte vielmehr so kommen, dass die Kulturschöpferischen in einigen Bereichen erfolgreich sein werden, in anderen weniger, und dass es auch Felder gibt, wo sie auf hartnäckigen Widerstand gegen jede Veränderung stoßen.

Im Verlauf dieser Entwicklungsrichtung wird es sicher zu kleineren und dann auch zu größeren gesellschaftlichen Krisen kommen, ausgelöst etwa durch ein kollektives psychologisches Trauma, eine ökologische Katastrophe oder eine Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen aufgrund gesteigerter sozialer und ethnischer Konflikte. Die Frage wird dann sein, ob bis dahin die kreative Minderheit der Kulturschöpferischen gelernt hat, aus dem »Fall in den Abgrund« soviel Schwung zu sammeln, dass sie daraus wieder herausspringend eine höhere kulturelle Stufe als vorher zu erreichen und zu stabilisieren vermag.Voraussetzung dafür wäre, dass man sich in einem Abgrund, im Nichts bewegen kann, dass man das »Reich unter den Wellen« oder das »Land über dem Himmel« als den eigentlichen fruchtbaren Bereich des Lebens, als die Gebärmutter des Neuen erfahren, schätzen und zu nutzen gelernt hat. Dies ist das Thema der Einweihung, welches die Studie von Ray und Anderson durchweg prägt. Einweihung in ihrem Verständnis geht durch die Phasen des Abstreifens und Verlustes der alten Identität, dem Eintreten in das Dazwischen mit dem Fall ins Ungewisse, dann der Einweihung auf eine neue Ebene und schließlich der Integration der neuen Fähigkeiten.

In diesem Sinne durchläuft die Menschheit eine Einweihung, deren Ausgang ungewiss ist. Die Tatsache von fünfzig Millionen Menschen, die sich bereits auf den Weg gemacht haben - vieles spricht dafür, dass es weltweit viele Millionen mehr sind - drückt aus, dass die Menschheit als Ganzes den Schritt der Trennung von ihrer alten Identität schon vollzogen hat und sich jetzt im Nichts eines Zwischenbereiches befindet. Was gibt hier Hilfe und Orientierung?

Eingeweiht durch das Leben

»Ich starb mehrere Male während der Zeit dieser dreißig Tage, aber ich lernte, und ich fand was nur in der Stille gefunden werden kann, abseits der Menge, in den Tiefen. Ich hörte die Stimme der Natur selbst, wie sie zu mir sprach, und sie sprach mit der Stimme liebevoller mütterlicher Sorge und Zuwendung. Manchmal hörte sie sich auch an wie die Stimme von Kindern, oder wie fallender Schnee, und was sie sagte war: Fürchte dich nicht vor der Welt.« 6

Mit diesen Worten eines Eskimo Schamanen über seine Einweihung als kleiner Junge und unter dem Bild von Raupe, Puppe und Schmetterling tragen die Autoren Lebensbilder von heutigen Amerikanern zusammen, die selbst durch eine Lebenseinweihung gegangen sind und heute zu den neuen Führern in der Bewegung der Kulturschöpferischen gehören. 7 Zwei von ihnen sind Elisabet Sahtouris und Will Keepin. Die Biologin Elisabet Sahtouris 8 fand in der abgeschiedenen Natur einer kleinen griechischen Insel und im einfachen Leben ihrer Bewohner den inneren Tod und zu dem neuen Leben, das ihr heute ermöglicht, sich weltweit für die Probleme und Belange bedrohter Bevölkerungen einzusetzen. Ihre wissenschaftliche Ausbildung im Verein mit der erworbenen inneren Weisheit verleihen ihr die Wirkung, dies mit kraftvoller Ausstrahlung zu tun.Will Keepin kam Anfang der achtziger Jahre als überzeugter Anhänger atomaren Fortschrittsglaubens an das Internationale Institut für Angewandte Systemanalysen in Österreich. Eine Projektstudie dieses einflussreichen Instituts hatte gerade der Großindustrie die Prognose wissenschaftlich gesichert, welche diese Industrie so dringend brauchte: Um dem globalen Energiebedarf nachzukommen, wäre während der nächsten fünfzig Jahre alle fünf bis sechs Tage ein Atomkraftwerk zu bauen. Will Keepin musste erkennen, dass die Studie unsauber, dilettantisch und wissenschaftlich nicht haltbar war.

Der Druck von außen, zu schweigen, die Angst von innen, isoliert zu werden, ließen ihn alle Abgründe der Einsamkeit durchmachen. Die Bücher geistiger Lehrer und die Menschengemeinschaft von Findhorn halfen ihm, seinen Weg zu gehen. 9 Heute arbeitet er als sozialer Transformationsberater für Kommunen und Unternehmen. Die wirklichen Führer dieses neuen Jahrhunderts werden die sein, so Keepin, die sowohl ihre tiefe spirituelle Arbeit als auch ihre Arbeit in der Welt geleistet haben, und in der Lage sind, beides zu verbinden.

Die neuen Alten, die Gemeinschaft und der Mythos für unsere Zeit

Auf ihrer Suche nach Orientierung für eine neue Zivilisation wenden sich die Kulturschöpferischen an traditionelle Quellen der Weisheit: die Alten, die Gemeinschaft und der Mythos. Das Alter erfüllt in der modernen Welt keinen Sinn. Im Gefühl der Hilflosigkeit und Überflüssigkeit, mit der darunter verdrängten Angst vor dem Tode, geben die meisten alten Menschen keine Orientierung für die nachkommenden Generationen.

Aber die junge Generation braucht den Rat der Alten, und die mittlere Generation braucht Ermutigung im Leben. Unter dem Gesichtspunkt, dass das Alter ein sinnvolles Nichts ist, der geschenkte Übergang im Lebensprozess selbst, schaffen die Kulturschöpferischen Anlässe, bei denen alte Menschen ihre Lebenserfahrungen an die jüngeren weitergeben können und durch diese Weitergabe selbst in die Phase des Alterns eingeweiht werden.Unsere Zeit kennt keinen wirklich tragenden positiven Mythos für die Zukunft der Menschheit. Kulturschöpferische fühlen sich weder getragen vom traditionellen Bild des drohenden Weltuntergangs und Weltendes, noch vom modernen Versprechen des immer weitergehenden wirtschaftlichen Wachstums und technologischen Fortschritts und damit verbundenen materiellen Wohlstand.

Die Kulturschöpferischen suchen ihre eigene Geschichte, ihren eigenen Mythos. Gefunden haben sie ihn noch nicht. Aber sie erzählen sich ihre Geschichten, und umso individueller und eigenständiger sie von ihrer Lebensreise der Selbsterkenntnis berichten können, umso aufmerksamer hören sie einander zu. Doch ein Element scheint allem kulturschöpferischen Suchen gemeinsam zu sein: das Bild der Erde. Die Erde, unsere Heimat, von der wir ein Teil sind, die ein Teil von uns ist, sie ist wie das große Ziel und der Sinn unseres Seins. So etwa drücken sie es aus.Und Gemeinschaft untereinander und Gemeinschaft mit der Erde ist die dritte der Quellen, die sich die Kulturschöpferischen zu erschließen suchen. Sie schaffen Anlässe für Gruppen, sie versammeln sich in Kreisen, um sich ihre Geschichten und auch Dichtungen zu erzählen und vorzutragen. Sie improvisieren mit Musik, Tanz und Ritualen, um einer Welt Ausdruck zu schaffen, in der sie selbst leben wollen.

Beispiele dafür sind die wöchentlichen gemeinsamen musikalischen Improvisationsabende bei Celia Thompson-Taupin in San Francisco, wo bei »Suppe und Brot« jeder vom Laienmusiker bis zum Taxifahrer und Therapeuten eingeladen ist 10, oder das »Theater der Erde« von Vijali Hamilton 11, die auf einer zweijährigen Reise um die Erde an zwölf Orten mit den Einheimischen zusammen je ein in Stein gehauenes, skulpturelles Ritual geschaffen hat, in das die Geschichte und die Kultur von Land und Menschen eingeflossen ist.

Die Strategie des »Big Tent«

Trotz der Begeisterung, die Paul Ray und Sherry Anderson durch ihre Studie vermitteln, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Wirksamkeit der in Europa - oder spezieller in Deutschland - sicher genauso zahlreich vorhandenen Kulturschöpferischen für mich getrübt wird durch mein Erlebnis, dass bei uns die Integration von sozialem Engagement und spiritueller Entwicklung noch nicht wie in Amerika erreicht ist.

Die sozialen Aktivisten orientieren sich nach wie vor stark am Staat und der durch ihn vorgegebenen Politik und halten kritische Distanz zu spirituellen Fragen, während die so genannten Esoteriker sich weiterhin nicht in das sozial-politische Engagement begeben. Es gibt sie auch bei uns schon, die Kulturschöpferischen der Kerngruppe, wie sie oben beschrieben worden sind, aber sie scheinen noch nicht sehr zahlreich und wirksam zu sein.Diesen Eindruck habe ich Paul Ray als Frage vorgelegt. Er hat dazu folgendes geantwortet: Das amerikanische Zweiparteien-System ist ein Fluch für die Menschen, die eine Alternative suchen, denn die Demokraten und Republikaner haben die Gesetze für das Leben dritter Parteien sehr schwer gemacht. Daraus hat sich ergeben, dass, anders als in Europa, die Fähigkeit, politische Koalitionen zu bilden, in den USA sehr schwach ist. Aber damit zusammenhängend hat sich in den USA auch die Bereitschaft zu freiwilligem Engagement innerhalb der Zivilgesellschaft viel stärker entwickelt als in Europa. Und damit einhergehend auch die Bereitschaft der Bewegungen, miteinander Koalitionen zu bilden.

Nach Rays Verständnis leisten in Europa die Parteien und die Regierungen viel von dem, was in den USA die Bewegungen und die Zivilgesellschaft machen. Daraus könnte sich in Europa eine engere Anlehnung der Aktivisten an die Parteien und an die Regierung ergeben als in Amerika. Die europäischen Aktivisten sind aber auch leichter zu dem Glauben zu verleiten, dass die für sie angemessene Haltung darin bestünde, sich politisch und säkular zu verhalten, denn eines Tages könnten sie ja selbst die Positionen der Macht übernehmen ( - Träume von Dummköpfen, denn dadurch werden sie leichter vereinnahmt und in die Sachzwänge der Modernisten verstrickt).Auf der anderen Seite treten die Aktivisten, welche die Kerngruppen der politischen Bewegungen sowohl in Europa als auch in Amerika bilden, oft sehr säkular auf und geben sich uninteressiert an spirituellen und persönlichen Entwicklungsfragen. (Obwohl sie in persönlichen Gesprächen dafür plötzlich großes Interesse zeigen können, und oft auch einen Bruch im eigenen Leben offenbaren.) Aber es sind ihre Anhänger, die ungehindert beides tun. Und ebenso sind die zentralen Vertreter der Bewusstseinsbewegungen hier wie dort oft sehr apolitisch eingestellt, oder verachten gar jede Politik insgesamt. Und genauso gehen ihre Anhänger wie die der sozialen Bewegungen ganz offen beidem nach.

Und darin liegt die Hoffnung: in der breiten Bewegung der Kultur allgemein, viel mehr als in den oft sehr einseitigen Aktivisten der einzelnen Bewegungen. Deshalb sollten sich deren Mitglieder zuerst auf die gemeinsamen Werte konzentrieren und nicht etwa von Anfang an verlangen, dass man auch in allen einzelnen Positionen übereinstimmt. Von dieser Überzeugung aus kann man sich auf Gruppenprozesse einlassen, die von der Idee getragen werden, Koalitionen über gemeinsame Werte zu bilden, nicht so sehr aus dem detaillierten Vergleich von Einzelpositionen. Das ist die »Big Tent«-Strategie.

Solche »Big Tents« sind in europäischen Parlamenten relativ normal. Aber in diesem Fall würden sie innerhalb der Zivilgesellschaft 12 gebildet und ihre gemeinsame Basis in der Bevölkerung wären die Kulturschöpferischen, die in den verschiedenen Bewegungen vertreten sind.Wir kämpfen nicht mehr um die Macht in der Welt der Modernisten. Das würde tatsächlich genaue Abgrenzungen erfordern. Vielmehr betonen wir alle verschiedenen Facetten der sehr komplexen Schöpfung einer ganzen, neuen Kultur. Es wird buchstäblich Tausende solcher Facetten geben, und jede Facette leistet ihren berechtigten Beitrag. Alle Teile von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft werden sich in diesem Prozess verwandeln, und zum jetzigen Zeitpunkt weiß niemand, wohin der richtige Weg geht.

Deshalb können wir uns freizügig in einem losen Verbund von Koalitionen engagieren, die in Bereichen sich überschneidender Interessen und Positionen arbeiten, ohne dass wir uns gedrängt fühlen müssen, Übereinstimmung in jedem einzelnen Punkt unserer Anschauungen zu erzielen. Diejenigen, die weiterhin darauf bestehen wollen, sind immer noch verfangen in ideologischen Positionen modernistischer Prägung - und die funktionieren nicht.

Fußnoten

1 Paul H. Ray, Ph. D., and Sherry Ruth Anderson, Ph. D.: The Cultural Creatives, New York 2000, Harmony Books, S. 3
2 Die Darstellung und der Vergleich der drei hauptsächlichen amerikanischen Subkulturen - Modernisten, Traditionalisten und Kulturschöpferische - bilden einen zentralen Schwerpunkt in der Studie von Ray und Anderson, der in diesem Artikel nicht weiter ausgeführt werden kann.
4 Rudolf Steiner: Anthroposophische Gemeinschaftsbildung, Dornach 1983, Rudolf Steiner Verlag, (GA 257) S. 70-86. Eine weitere wertvolle Anregung zur Vertiefung der Frage nach dem Verhältnis von Kulturschöpferischen und Anthroposophen ergibt sich aus einer Erarbeitung des Buches »Das spirituelle Ereignis des 20. Jahrhunderts« von Jesaiah Ben Aharon. Dort werden - in den Worten anthroposophischer Terminologie ausgedrückt - zwei Gruppen einer zusammengehörigen Michaelschule beschrieben. Beide Menschengruppen sind heute auf der Erde in den großen ökologischen, politischen, kulturellen und geistigen Umwandlungen unserer Zeit wirksam. Für das Ziel einer Erneuerung der Menschheitszivilisation stehen sie vor der Aufgabe, zu einer gemeinsamen Zusammenarbeit zu finden. Jesaiah Ben Aharon: Das spirituelle Ereignis des 20. Jahrhunderts, Dornach 1993, Verlag am Goetheanum, dort insbesondere das vierte Kapitel.
5 Offener Brief im Internet von Starhawk, 10. Dezember 1999. Für ein Internet Video vom Independent Media Center und Beth Sanders Neuerscheinung So sieht Demokratie aus, siehe www.indymedia.org
6 Victor Turner: Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites of Passage, in Louise Carus Mahdi, Steven Foster und Meredith Little (Hrsg.): Betwixt and Between: Patterns of Masculine and Feminine Initiation, LaSalle, IL: Open Court 1987, S. 9.
7 Ein eindrucksvoller Bericht einer solchen Lebenseinweihung findet sich bei Julia Butterfly Hill in ihrem Buch: Die Botschaft der Baumfrau, Pößneck 2000. Riemann Verlag. Julia Hill selbst wird zwar von den Autoren nicht erwähnt, ihr Bericht spielt auch in der Zeit nach Fertigstellung des Buchmanuskriptes von Ray und Anderson, aber auf sie treffen alle Aspekte einer Repräsentantin der Kulturschöpferischen zu.
8 Elisabeth Sahtouris: Earthdance: Living Systems in Evolution, Alameda, Californien: Metalog Books, o.D. Das Buch kann aus dem Internet heruntergeladen werden unter www.ratical.org/LifeWeb.
9 Bill Keepin und Brian Wynne: Technichal Analysis for IIASA Energy Scenarios, Nature 312 (Dezember 20-27, 1984, S. 691-695.
10 Ray & Anderson, S. 306-309
11 Vijali Hamilton: In the Fields of Life, Castle Valley, Utah: Earth Mandala Press 1999. Siehe auch www.rocvision.com/vijali.htm.
12 Zum Zusammenhang der Kulturschöpferischen mit der Zivilgesellschaft siehe auch Nicanor Perlas: Die Globalisierung gestalten - Zivilgesellschaft, Kulturkraft und Dreigliederung, Frankfurt/M. 2000, Info3-Verlag. Nicanor Perlas, dem ich auch den Hinweis auf dieses Buch von Paul Ray verdanke, steht seit Jahren mit Paul Ray im Austausch über dessen Forschungsergebnisse. Er sieht in den Kulturschöpferischen die hauptsächlichen Träger der heutigen Globalen Zivilgesellschaft, die durch ihr Auftreten als ausgleichende kulturelle Kraft gegenüber den Folgen der einseitig wirtschaftlich und politisch geprägten »Elitären Globalisierung« auch der Wirksamkeit für eine Soziale Dreigliederung neue Möglichkeiten eröffnet hat.


Quelle: Info3, 02/2001, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autoren