Anarchismus - Max Stirner und Rudolf Steiner

Erziehung: Freiheit als Anfang, Mitte oder Ende?

01.04.2000

Aus Anarchismus und soziale Dreigliederung - Ein Vergleich

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Für Bakunin steht die Freiheit nicht am Anfang, sondern am Ende der Erziehung. Das Kind braucht Autorität, um zur Freiheit erzogen zu werden. Die Freiheit ist das Ziel, das Ergebnis einer Entwicklung. Was durchklingt, ist derselbe Ansatz wie bei seiner Ablehnung der Religion. Die Freiheit wird dem Kind nicht mit auf den Weg gegeben. Es muß sie sich immer mehr erringen. Es ist unfrei, soll aber frei werden. Und da das Positive ins Negative umschlägt, so kann die Autorität in die Freiheit umschlagen.

Die späteren antiautoritären Erzieher können natürlich mit einem solchen Ansatz nichts anfangen. Bakunin ist eben noch nicht so weit gewesen. Er hat noch nicht eingesehen, daß die Freiheit nur von der Freiheit kommen kann. Die Freiheit muß daher an den Anfang jeder Erziehung gesetzt werden .

Steiner sagt zwar auch, daß die Freiheit nur von der Freiheit kommen kann. Unter Freiheit meint er hier allerdings die Pressefreiheit. Bezüglich der Erziehung steht er dagegen Bakunin näher als den antiautoritären Erziehern. Die Freiheit verlangt er eher für den Erzieher als für die Erziehung: Die Freiheit des Kindes kann nur von der Freiheit des Erziehers kommen. Dies ist die Freiheit der Waldorfschule. Sie ist nicht nur mit der Autorität des Lehrers vereinbar, sondern in den ersten Schuljahren sogar auch mit der Nachahmung des Lehrers. Eine Differenzierung, die bei Bakunin fehlt. Mit seiner Dialektik allein kann er eben nicht den verschiedenen Entwicklungsphasen des Kindes gerecht werden. Dies braucht man aber, um zur Praxis übergehen zu können. Den antiautoritären Erziehern fehlt noch mehr: Das Vertrauen in jeder Möglichkeit der Verwandlung. Autorität bleibt für sie Autorität. Sie kann sich nicht in ihr Gegenteil, die Freiheit, umwandeln. Wurde die Waldorfpädagogik anfangs vor allem deswegen abgelehnt, weil sie die Freiheit zum Ziel hat, so wird ihr heute immer mehr vorgeworfen, sie würde die Kinder bevormunden. Rückt die Waldorfschule durch ihren Morgenspruch nicht in die Nähe islamischer Schulen, die ihre Pädagogik auf das Nachbeten des Korans aufbauen? Sehen nicht sogar heutige deutsche Staatsschulen freiheitlicher aus?

Mit den Aussagen Bakunins über die Erziehung hat sich Steiner meines Wissens nicht beschäftigt. Steiner hebt stattdessen einen Aufsatz Max Stirners hervor: Das unwahre Prinzip unserer Erziehung. Darin wendet sich Stirner gegen einen faulen Kompromiß zwischen Humanismus und Realismus. Humanismus steht nicht nur für die Fächer Latein und Griechisch, sondern für eine ganze pädagogische Ausrichtung. Eine solche Erziehung legt laut Stirner den Wert auf die Ausbildung des Denkens, bleibt aber willenlos. Der Realismus versucht dagegen den Willen zu fördern, wird aber dabei ideenlos. Beide beschränken sich auf ein Wissen, das unpersönlich bleibt. Stirner lehnt nicht nur beide Prinzipien ab, sondern auch ihre Abschwächung. Sie sollen sich stattdessen gegenseitig steigern. Bezeichnend dabei ist, was Stirner an den Anfang setzt: das Denken soll sich zum Willen steigern. Stirner ist wie Bakunin bei Hegel in die Schule gegangen. Entwicklung ist ihm daher kein linearer Begriff. Das Positive kann ins Negative umschlagen. Und wie Bakunin fehlt es ihm für dieses Umschlagen nicht an schlagfertigen Formeln. Seinen Erziehungsaufsatz faßt er selber zusammen:

Das Wissen muß sterben, um als Wille wieder aufzuerstehen und als freie Person sich täglich neu zu schaffen . (Hervorhebungen von Stirner)

Wenn Steiner diesen Aufsatz zu dem Bedeutendsten rechnet, was die Pädagogik zu allen Zeiten hervorgebracht hat, so fragt sich, ob er nicht nur zum Ziel der freien Person steht, sondern auch zum Weg, den Stirner dorthin aufzeigt. Es geht dabei um zwei Fragen: Geht der Weg zum freien Willen über das Denken? Führt dieser Weg an der Autorität vorbei?

Stirner zieht bewußt eine Parallele zwischen sozialer und pädagogischer Autorität. Es heißt aber nicht, daß er als Pädagoge sich auf die Füße treten lassen will:

" Wie in gewissen anderen Sphären, so läßt man auch in der pädagogischen die Freiheit nicht zum Durchbruch, die Kraft der Opposition nicht zu Worte kommen: man will Unterwürfigkeit.  (...) Die kindliche Eigenwilligkeit und Ungezogenheit hat so gut ihr Recht als die kindliche Wißbegierde. Die letztere regt man geflissentlich an; so rufe man auch die natürliche Kraft des Willens hervor, die Opposition. Wenn das Kind sich nicht fühlen lernt, so lernt er gerade die Hauptsache nicht. Man erdrücke seinen Stolz nicht, seinen Freimut. Gegen seinen Übermut bleibt meine eigene Freiheit immer gesichert. Denn artet der Stolz in Trotz aus, so will das Kind mir Gewalt antun; das brauche ich mir, der ich ja selbst so gut als das Kind ein Freier bin, nicht gefallen zu lassen. Muß ich mich aber durch die bequeme Schutzwehr der Autorität dagegen verteidigen? Nein, ich halte die Härte meiner eigenen Freiheit entgegen, so wird der Trotz der Kleinen von selbst zerspringen. Wer ein ganzer Mensch ist, braucht keine - Autorität zu sein. "

Die Freiheit des Kindes soll also dort aufhören, wo die Freiheit des Erziehers anfängt. Da beide schon jetzt Freie sind, prallen ihre Freiheit aufeinander. Wer sich als Erzieher auf eine Autorität stützen muß, ist nur ein halber Mensch. Und wenn das Kind die Stütze der Autorität sucht? Wenn es ein ganzer Mensch erst werden will, braucht es nicht zunächst eine Autorität? Es mag damit dem schon ganzen Menschen Gewalt antun, dieser muß doch wider Willen zur Autorität werden.

Ob der Weg Steiners zum Willen immer über das Denken geht, ist auch fraglich. In einem Vergleich zwischen Europa und Amerika beschreibt er dies als der mitteleuropäische Weg. Für den amerikanischen Weg, der umgekehrt verläuft, das heißt vom Willen zum Denken führt, hat Steiner schon einiges übrig. Betrachtet man seine Waldorfpädagogik näher, dann kommt bald heraus, daß ihr Ansatz nicht mitteleuropäisch ist. Sie geht vom Kind aus. Beim Kind geht der Wille dem Denken vor. Wer sich in das Kind hineinversetzen will, muß also umdenken, beziehungsweise umwollen. Daß sie dies versucht, macht gerade die Universalität der Waldorfpädagogik aus. Hier trifft sich Steiner wiederum mit Bakunin oder Proudhon, der so weit geht zu sagen, daß der Mensch mit seinen Händen denkt. Für das Kind stimmt es am ehesten.

Ganz anders sieht es aus, wenn man nicht die Waldorfpädagogik, sondern die Philosophie der Freiheit Steiners heranzieht. Schon allein der Aufbau spricht für sich. Nach der Wissenschaft der Freiheit kommt die Wirklichkeit der Freiheit. Erstmal durchdenken, dann durchführen. Hier schreibt ein Mitteleuropäer für Mitteleuropäer. Daher sein Rat an die englischen Übersetzer: Sie müssen von vornherein den Willen stärker betonen, indem sie im Titel vom aktiven Denken sprechen. So wie er sie geschrieben hat, ist die Philosophie der Freiheit weder etwas für Kinder, noch für Engländer. Bezeichnend dafür ist, daß Mackay, als er die Philosophie der Freiheit gelesen hat, den ersten Teil über die Wissenschaft der Freiheit übersprungen hat. Ihn hat nur die wirkliche Freiheit interessiert. Die wissenschaftliche Freiheit ist aber gerade das, was laut Steiner im Hauptwerk Stirners, "Der Einzige und sein Eigentum", noch gefehlt hat. Und dies obwohl Stirner in seinem vorangegangenen Aufsatz über Erziehung noch vom Denken ausgehen will. Sieht man von diesem wissenschaftlichen Vorspann ab, so soll es zwischen Stirner und Steiner keinen Unterschied mehr geben. Mackay hat davon abgesehen. Vielleicht liegt hier auch der Schlüssel zur Behauptung Steiners, daß Stirner und Mackay eine äußere Freiheit anstreben, während er mit seiner Philosophie eine rein innere Freiheit gemeint hat. Innerlichkeit könnte für Wissenschaftlichkeit stehen. Die anarchistische Versuchung würde für Steiner darin gelegen haben, auf diese Wissenschaft zu verzichten, weil sich kein Anarchist dafür interessiert.

Pädagogik und Philosophie ist bei Steiner jedenfalls nicht dasselbe. Die Philosophie der Freiheit ist keine Pädagogik, sondern eine Erziehung für Erwachsene, eine Selbsterziehung, die nicht beim Willen, sondern beim Denken ansetzt.

Was bringt aber Steiner dazu, von einer Übereinstimmung seiner Philosophie der Freiheit mit dem Hauptwerk Stirners zu sprechen ? Meinen beide vielleicht doch dasselbe unter Freiheit ? Wer ist dieser ethische Individualist, wer dieser Einzige und sein Eigentum ?

Die Unfreiheit hat bei Steiner zwei Seiten. Der ethische Individualismus besteht darin, diese beiden Einseitigkeiten zu vermeiden. Es geht einerseits um den leiblichen Zwang. Meine Triebe zwingen mich etwa zum Essen. Dies läßt sich wohl nicht vermeiden. Bei anderen Trieben kann man sich aber schon eher die Frage stellen. Aber nicht nur das Leibliche, sondern auch das Geistige kann zum Zwang werden.

"Der Unterschied zwischen mir und meinem Mitmenschen liegt durchaus nicht darin, daß wir in zwei ganz verschiedenen Geisteswelten leben, sondern daß er aus der uns gemeinsamen Ideenwelt andere Intuitionen empfängt als ich. Er will seine Intuitionen ausleben, ich die meinigen. Wenn wir beide wirklich aus der Idee schöpfen und keinen äußeren (physischen oder geistigen) Antrieben folgen, so können wir uns nur in dem gleichen Streben, in denselben Intentionen begegnen. Nur der sittlich Unfreie, der dem Naturtrieb oder einem angenommenen Pflichtgebot folgt, stößt den Nebenmenschen zurück, wenn er nicht dem gleichen Instinkt und dem gleichen Gebot folgt." (Hervorhebungen von mir)

In diesem Zitat steht natürlich viel mehr als allein das, was von mir hervorgehoben worden ist. Es dauert aber nicht mehr lange, bis es auch aufgegriffen wird.

Einige Seiten später führt Steiner einen Spruch Kants über die Erhabenheit der Pflicht als Beispiel für den geistigen Zwang an. Das Gegenbeispiel ist dabei Schiller, der sich ironisch darum beschwert, daß er seine Pflichten leider aus Neigung erfüllt. Das Thema setzt Schiller in einer Fußnote seiner Schrift "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" näher auseinander.

"Edel ist ein Gemüt zu nennen, welches die Gabe besitzt, auch das beschränkteste Geschäft und den kleinlichsten Gegenstand durch die Behandlungsweise in ein Unendliches zu verwandeln. (...) Der Moralphilosoph [Sylvain: gemeint ist Kant] lehrt uns zwar, daß man nie mehr tun könne als seine Pflicht, und er hat vollkommen Recht, wenn er bloß die Beziehung meint, welche Handlungen auf das Moralgesetz haben. Aber bei Handlungen, welche sich bloß auf einen Zweck beziehen, über diesen Zweck noch hinaus ins Übersinnliche gehen (welches hier nichts anders heißen kann als das Physische ästhetisch ausführen), heißt zugleich über die Pflicht hinaus gehen, indem diese nur vorschreiben kann, daß der Wille heilig sei, nicht daß auch schon die Natur sich geheiligt habe. Es gibt also kein moralisches, aber es gibt ein ästhetisches Übertreffen der Pflicht, und ein solches Betragen nennen wir edel. (...) Von einem edeln Betragen ist ein erhabenes zu unterscheiden. Das erste geht über die sittliche Verbindlichkeit noch hinaus, aber nicht so das letztere, obgleich wir es ungleich höher als jenes achten." (Hervorhebungen von Schiller)

Anders als noch Schiller gibt aber Steiner Kant nicht einmal in moralischer Hinsicht Recht. Er hält nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein moralisches Übertreffen der Pflicht für möglich, und dieses Übertreffen nennt er den ethischen Individualismus. Bleibt Schiller bei einer Kunst der Freiheit, so schreitet Steiner fort zu seiner Philosophie der Freiheit.

"Die Handlung aus Freiheit schließt die sittlichen Gesetze nicht etwa aus, sondern ein; sie erweist sich nur als höherstehend gegenüber derjenigen, die nur von diesen Gesetzen diktiert ist. Warum sollte meine Handlung denn weniger dem Gesamtwohle dienen, wenn ich sie aus Liebe getan habe, als dann, wenn ich sie nur aus dem Grunde vollbracht habe, weil dem Gesamtwohle zu dienen ich als Pflicht empfinde ? Der bloße Pflichtbegriff schließt die Freiheit aus, weil er das Individuelle nicht anerkennen will, sondern Unterwerfung des letztern unter eine allgemeine Norm fordert. Die Freiheit des Handelns ist nur denkbar vom Standpunkte des ethischen Individualismus aus." (Hervorhebungen von mir)

Bei Stirner findet sich dasselbe Mißtrauen gegen den Geist, der zur Pflicht wird. Er betont, wie Schiller und Steiner, daß der Mensch nicht nur durch seinen Leib unfrei werden kann.

"Es hat das Christentum dahin gezielt, Uns von der Naturbestimmung (Bestimmung durch die Natur), von den Begierden als antreibend, zu erlösen, mithin gewollt, daß der Mensch sich nicht von seinen Begierden bestimmen lasse. Darin liegt nicht, daß er keine Begierden haben solle, sondern daß die Begierden ihn nicht haben sollen, daß sie nicht fix, unbezwinglich, unauflöslich werden sollen. Was nun das Christentum (die Religion) gegen die Begierden machinierte, könnten Wir das nicht auf seine eigene Vorschrift, daß Uns der Geist (Gedanke, Vorstellungen, Ideen, Glaube usw.) bestimmen solle, anwenden, könnten verlangen, daß auch der Geist oder die Vorstellung, die Idee Uns nicht bestimmen, nicht fix und unantastbar oder "heilig" werden dürfe? Dann ginge es auf die Auflösung des Geistes, Auflösung aller Gedanken, aller Vorstellungen aus. Wie es dort heißen mußte: Wir sollen zwar Begierden haben, aber die Begierden sollen Uns nicht haben, so hieße es nun: Wir sollen zwar Geist haben, aber der Geist soll uns nicht haben." (Hervorhebungen von Stirner)

Der allzugeistige Mensch hat einen "Sparren zu viel" . Er hat eine fixe Idee, oder besser gesagt, sie hat ihn. Bei Steiner heißt es dazu: "Man muß sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft." Den allzuleiblichen Menschen haben die Begierden. Wobei Stirner diese beiden Unfreiheiten als Phasen der menschlichen Biographie ansieht. Das Kind hat der Leib, den Jüngling hat der Geist. Aufgabe der Erziehung ist es daher, den Mann aus diesen beiden Sackgassen herausführen. Wie dieser Mann aussieht, soll noch deutlicher werden. Eins dürfte inzwischen eindeutig geworden sein: Stirner und Steiner stimmen darin überein, daß die Unfreiheit zwei Gesichter hat.

Ihr zweiter Berührungspunkt ist eng mit diesem ersten verwandt. In seinem Aufsatz über die Erziehung setzt sich Stirner zum Ziel die freie Person. Die Betonung legt er schon damals auf die Person, und nicht etwa auf die Freiheit. Es ist eben nicht gleichgültig, wer frei ist:

"Wie übel es Uns bekommt, wenn frei und zügellos die Lüste mit Uns durchgehen, davon wird Mancher die Erfahrung gemacht haben; daß aber der freie Geist, die herrliche Geistigkeit, der Enthusiasmus für geistige Interessen, oder wie immer in den verschiedensten Wendungen dies Juwel benannt werden mag, Uns noch ärger in die Klemme bringt, als selbst die wildeste Ungezogenheit, das will man nicht merken, und kann es auch nicht merken, ohne bewußterweise ein Egoist zu sein." (Hervorhebung von mir)

Es geht also nicht um die Geistesfreiheit, sondern um die Freiheit der Person. Nach allem was gesagt worden ist über den Geist, ist es zwar verständlich, daß seine Freiheit an mir vorbei geht. Ist er frei, so bin ich gebunden. Die Frage ist aber, wie sich diese Behauptung mit dem Ansatz der sozialen Dreigliederung verträgt. Wird da nicht die Freiheit des Geisteslebens angestrebt? Bei Stirner heißt es dagegen:

"Was bleibt übrig, wenn Ich von Allem, was Ich nicht bin, befreit worden? Nur Ich und nichts als Ich. Diesem Ich selber aber hat die Freiheit nichts zu bieten. Was nun weiter geschehen soll, nachdem Ich frei geworden, darüber schweigt die Freiheit, wie unsere Regierungen den Gefangenen nach abgelaufener Haftzeit nur entlassen und in die Verlassenheit hinausstoßen.(...)

Ich habe gegen die Freiheit nichts einzuwenden, aber Ich wünsche Dir mehr als Freiheit; Du müßtest nicht bloß los sein, was Du nicht willst, Du müßtest auch haben, was Du willst, Du müßtest nicht nur ein "Freier", Du müßtest auch ein "Eigner" sein."

Nicht mehr die Freiheit ist das Ziel, sondern die Eigenheit. Die Freiheit ist nicht mehr das Ende, sondern die Mitte, ist nur noch bloß ein Mittel, um zu mir selbst zu kommen. Dieses Selbst sieht aber Steiner auch. Geist und Individuum ist ihm dasselbe. Und gerade weil es dieses Individuelle gibt, und nur deswegen, verlangt das Geistesleben die absolute Freiheit. Es würde sonst nichts geben, was freigelassen werden könnte. Das treibende, aktive Element liegt im Individuum. Der Rest verhält sich passiv, wird umfallen. Was Stirner unter Eigenheit versteht und von der Freiheit absetzt, das meint Steiner, wenn er von der eigentlichen Freiheit spricht. Dies läßt sich hier am besten durch eine Stelle illustrieren, wo sich Stirner demselben Gleichnis bedient wie vorhin Wilson. Es soll nämlich wieder einmal am Beispiel des Segels gezeigt werden, was Freiheit heißt.

"Man erkennt es nicht in der ganzen Fülle des Wortes, daß alle Freiheit wesentlich - Selbstbefreiung sei, d. h. das Ich nur so viel Freiheit haben kann, als Ich durch meine Eigenheit Mir verschaffe. Was nützt den Schafen, daß ihnen Niemand die Redefreiheit verkürzt? Sie bleiben beim Blöcken. (...) Geschenkte Freiheit streicht sogleich die Segel, sobald Sturm oder - Windstille eintritt: sie muß immer - gelinde und mittelmäßig angeblasen werden".

Die Eigenheit von Stirner ist die Kraft, die zu einer aktiven Freiheit führt, zu einer Freiheit, die nicht gegeben, sondern erobert wird. Durch die Wortschöpfung vermeidet er die Verwechslung mit all dem, was sonst unter Freiheit verstanden werden kann. Genauso wie Steiner mit einer anderen Wortschöpfung, dem "ethischen Individualismus", die Verwechslung mit dem vermeiden konnte, was die meisten unter Anarchismus verstanden haben. Mit der Freiheit hat Steiner allerdings weniger Berührungsängste. Und auch mit dem Geist.

Mit dem was bei Stirner groß geschrieben wird, dem Ich, hat es bei Steiner eine besondere Bewandnis. Das Persönliche wird von Stirner radikaler formuliert. Steiner verzichtet auf diese Zuspitzung. Das Persönliche erlebt bei ihm stattdessen eine Umwandlung: Das Persönlichste, das Ich, ist zugleich das Allgemeinste. Hier läßt sich dieselbe Stelle aus der Philosophie der Freiheit wie vorhin zitieren, nur mit einer anderen Betonung.

"Der Unterschied zwischen mir und meinem Mitmenschen liegt durchaus nicht darin, daß wir in zwei ganz verschiedenen Geisteswelten leben, sondern daß er aus der uns gemeinsamen Ideenwelt andere Intuitionen empfängt als ich. Er will seine Intuitionen ausleben, ich die meinigen. Wenn wir beide wirklich aus der Idee schöpfen und keinen äußeren (physischen oder geistigen) Antrieben folgen, so können wir uns nur in dem gleichen Streben, in denselben Intentionen begegnen. Nur der sittlich Unfreie, der dem Naturtrieb oder einem angenommenen Pflichtgebot folgt, stößt den Nebenmenschen zurück, wenn er nicht dem gleichen Instinkt und dem gleichen Gebot folgt." (Hervorhebungen von mir)

Das Ich schlägt als Geist eine Brücke von der Freiheit zur Gleichheit. Stirner würde davor zurückschrecken. Ein solcher Geist wäre ihm nicht nur eine Gefahr für die Freiheit, sondern auch für die Eigenheit. Er will wie Schiller lieber bei der Innerlichkeit der Seele bleiben, die Einseitigkeit von Leib und Geist vermeiden.

Wie schon bei Bakunin liegt also der Unterschied zwischen Stirner und Steiner nicht in ihrer Auffassung der Freiheit. Eine passive Freiheit wird man auch bei Stirner kaum finden können. Entscheidend ist schon wieder die anarchistische Ablehnung des Geistigen. Bei Steiner verträgt sich der Geist doch ganz gut mit der Freiheit, und die Eigenheit mit der Gleichheit im Geiste. Um nicht von denen mißverstanden zu werden, die unter Gleichheit etwas anderes verstehen, stellt er allerdings die ganze Dreigliederungszeit hindurch den letzteren Gesichtspunkt zurück.