Rückblickend auf meine Schülerschaft

01.06.1992

Quelle
Zeitschrift „Lazarus“
Heft 2/1992, Johanni 1992, S. 32–33
Bibliographische Notiz

(1919 – 1934) an der ersten Waldorfschule in Stuttgart, fällt mir der Wind der weiten Welt auf, der durch unsere Klassen blies, und auch der Schule als Ganzes kosmopolitische Lüfte und Düfte zutrug. Wie konnte das auch anders sein in der ersten einheitlichen Volks- und höheren Schule, die beiden Geschlechtern, sowie allen Ständen, Nationen und Religionen offen war? So wurde diese Schule von Rudolf Steiner (1861 – 1925) im Jahre 1919 konzipiert und errichtet.

Die Ungeheuerlichkeit dieser Neuschöpfung mache man sich nur einmal klar. Mädchen waren jahrhundertelang von der sogenannten höheren Bildung, die eben Männersache war, ganz offiziell ausgeschlossen. Dann gab es gesonderte Einrichtungen für Mädchen ... Der gemeinschaftliche Unterricht beider Geschlechter ist heute das Normale geworden, aber es besteht noch eine Trennung in die verschiedenen Schulsysteme wie Grundschule, Haupt- bzw. Volksschule, Mittel- oder Realschulen und Gymnasium; von den Fachschulen ganz zu schweigen.

Der Generaldirektor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, Emil Molt, hatte zunächst im Sinn, für die Kinder seiner Arbeiter (damals sprach man von Proletariern) eine besonders gute, – besonders menschengerechte Schule ins Leben zu rufen, und bat Rudolf Steiner, diese einzurichten. Der ging darauf ein und zugleich weit über Molts Vorstellungen hinaus. Er öffnete die Tore der Schule allen Gesellschaftsschichten, ob sie nun zahlen konnten oder nicht. Zwar war Deutsch Unterrichtssprache, doch hatten wir von Anfang an Vertreter der verschiedensten Nationen unter uns. Allein in meiner Klasse waren später Österreich, Italien, Frankreich, England, Rußland, die Schweiz und USA sowie Chile beteiligt. Auch lebten Atheismus und die Vielfalt der Religionen und Konfessionen friedlich unter einem Dach vereint. Die Eltern bestimmten, ob und welche Unterweisung ihr Kind auf religiösem Gebiet erhalten sollte. So war der äußere Rahmen.

Der zog nach sich, daß Künstler aus aller Welt mit ihren Darbietungen oder ihren Kindern zu uns kamen, – oder sonst zu unseren Gunsten auftraten. Gerade Künstler erkannten die Heilkräfte der Waldorfpädagogik. Aber auch an der internationalen Forschung und Wissenschaft konnten wir teilhaben – oft aus erster Hand.

So ist mir zum Beispiel unvergeßlich, wie unser Klassenlehrer [Herbert Hahn, Red.] mit so sonderbaren, langen Zetteln ins Zimmer trat. Heute weiß ich, daß das Druckfahnen waren. Da lernten wir, noch ehe das Buch erschien, die Abschiedsreden des großen Buddha in der Übersetzung des Orientalisten Beckh [Hermann Beckh: Buddha und seine Lehre. Stuttgart 1980 in 5. Auflage erschienen, Red.] kennen und stückweise auswendig. Heute noch erfreut mich die blütenreine Bildersprache des "Vollendeten": Weltenatem ...

Rudolf Steiner suchte sich die Waldorflehrer nicht aus dem Fundus staatlich Herangezüchteter aus (erst, als Kind, waren sie selbst Schüler, dann gingen sie aufs Seminar oder auf die Hochschule, um danach als Lehrer auf die hoffnungsvolle Jugend losgelassen zu werden). Solche, quasi wie in "Schul-Inzucht" gezeugten Ignoranten des ganzen breiten, pulsierenden außerschulischen Lebens suchte er sich gerade nicht aus. Ja, wenn einmal jemand aus dem Clan der herkömmlichen Lehrer herangezogen wurde, so mußte der genügend weltoffenes Interesse mitbringen. – So hatten wir z.B. in der Oberstufe einen Lehrer in Technologie, der als Ingenieur am Walchenseewerk mitgearbeitet hatte, von dem die Stadt Stuttgart den Strom bezog, mit dem wir lebten. Oder wir konnten in der Mittelstufe erleben, wie sich unser Lehrer aus dem Baltikum mit seinem österreichischen Kollegen in irgendeiner uns fremden Sprache unterhielt. Sei das nun Finnisch oder Serbokroatisch; und es ging bei uns das Gerücht um, der eine beherrsche zwölf und der andere dreizehn Sprachen.

Ja, Steiner ging so weit zu fordern, daß seine Lehrer nach einer gewissen Zeit der Lehrertätigkeit in einen anderen Beruf wechselten, um den Zusammenhang mit dem praktischen Leben nicht zu verlieren. Wir wurden nicht nur selbst auf die Praxis vorbereitet durch vermehrte künstlerische Tätigkeiten, Betriebsbesichtigungen oder Fächer wie Handwerk, Handarbeit und Gartenbau (für beide Geschlechter) oder später dann Feldmessen, die ganz praktische Anwendung der Trigonometrie und dergleichen, sondern wir hatten eben auch Lehrer, die aus einer weitgestreuten Praxis kamen und dadurch die größtmögliche Weltoffenheit an uns heranbrachten. Da erinnere ich mich unter anderem an «Madame», eine Französin für den Französisch-Unterricht. Ihre zwei Söhne gingen mit uns zur Schule und brachten einige uns unbekannte Gewohnheiten mit. Was wir kannten, war, daß die Brüder gelegentlich in Streit gerieten. Neu war für uns, daß sie dann aus einem gewissen Abstand einen Anlauf nahmen, um sich dann gegenseitig ins Gesicht zu spucken. Daß uns das ein falsches Bild von Frankreich vermittelte, war uns schon dadurch klar, daß es auch unter uns zusammengewürfelten «Einheimischen» eine beachtliche Variationsbreite von Reaktionen gab.

[Lazarus, Johanni 1992, Seite 32]

Auch waren unsere Lehrer stets bemüht, uns in der wissenschaftlichen und technischen Forschung auf dem Laufenden zu halten, und schließlich befand sich auf dem Schulgelände ein Forschungsinstitut.

Damals, nach dem Ersten Weltkrieg, war der internationale Zug unseres Schullebens etwas ganz Neues und dem Schwabentum unserer Umgebung durchaus Fremdes und Unverständliches. – So fiel es uns bei der Zehnjahresfeier der Waldorfschule in der Stuttgarter Liederhalle auf, daß die Herren vom Kultusministerium alle in besserem Schwäbisch redeten, unsere Lehrer jedoch in geschliffenem Hochdeutsch.

Mit einem Satz aus der damaligen Ministerrede will ich schließen: «Wir haben in den zehn Jahren viel von der Waldorfschule gelernt, und die Waldorfschule kann noch von uns lernen!» Tosender Beifall. – Heute aber kürzt dies Stuttgarter Ministerium die Zuschüsse für die fortschrittlichsten Schulen Baden-Württembergs. Sie haben also noch nicht genügend gelernt, die Herren Minister, die die Macht des Staates auch heute noch in Gebiete tragen, in denen sie nichts als tiefstes Unglück stiften: ins Geistesleben und ins Wirtschaftsleben, statt sich auf Rechtsfragen zu beschränken. Lernen Sie – so möchte man sagen – meine Damen und Herren, bitte immer weiter, wie auch wir alle das bis an unser Lebensende versuchen sollten!

[Lazarus, Johanni 1992, Seite 33]