Soziale Dreigliederung - vom Handelnden her erblickt

01.04.1980

Quelle
Zeitschrift „Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus“
21. Jahrgang, Heft 33, April 1980, S.37–42

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Bibliographische Notiz

Seine Gedanken an den Einrichtungen der sozialen Dreigliederung zu orientieren, wäre, wenn es sie schon gäbe, sicher nicht schwer. Oder jedenfalls weit weniger schwierig, als dies zu einer Zeit zu leisten, in der diese Einrichtungen höchstens in Ansätzen vorhanden sind; und auch wir noch nicht geschult sind, sie zu erblicken. Worin besteht daher heute die vordringliche Aufgabe? Einmal, so darf von dem Gesichtspunkt, der hier wiederum eingenommen werden soll, geantwortet werden, darin, daß es den Blick für die Keimkräfte zu schulen gilt, aus denen solche Einrichtungen erwachsen können. Und andererseits in dem dadurch möglichen bewußten Eingreifen und Entwickeln dieser Keimkräfte selber. – Läßt sich auf schriftlichem Wege dazu beitragen?

Ich habe in dem Aufsatz «Menschennatur und soziale Dreigliederung» (in Heft 31 dieser «Beiträge") versucht, die Menschennatur insofern zu beschreiben, als sich in ihr die gemeinten Keimkräfte in Gestalt von drei verschiedenen Verhaltensweisen zu regen beginnen. Sie mögen hier,

[Beiträge, Heft 33, April 1980, Seite 37]

verkürzt, als das nach Brüderlichkeit strebende assoziative, das Gleichheit anstrebende demokratische und das Freiheit erstrebende korporative Verhalten charakterisiert werden. Und ich möchte nun versuchen, etwas von der Aufgabe zu beschreiben, vor der diejenigen Menschen stehen, die diese in jenen drei Verhaltensweisen enthaltenen Keimkräfte wahrnehmen und bewußt ergreifen wollen.

Diese Menschen stehen zuallererst vor dem Problem, das als Frage formuliert etwa lauten würde: Welche dieser drei Verhaltensweisen ist wo sozial fruchtbar? – Jede von ihnen in einem anderen Gebiet der menschlichen Gesellschaft, antwortet die geisteswissenschaftlich geschulte Lebensbeobachtung. Jede von ihnen in einem anderen Bereich des sozialen Lebens, antwortet Rudolf Steiner selbst. Und nennt diese drei Bereiche Wirtschaftsleben, Rechtsleben und Geistesleben. – Wer sich im tagtäglichen Miteinander mit anderen Menschen, wenn auch noch oft unbewußt, vor die Frage gestellt fühlt, welche dieser drei Verhaltensweisen wo am Platze ist, wird daher sein Unterscheidungsvermögen für die entsprechenden sozialen Lebensbereiche nicht aus bloß theoretischen Gründen, sondern deswegen zu schärfen versuchen, weil er dieser Fähigkeit zum Handeln bedarf. Welche Hilfe kann zur Ausbildung einer solchen unterscheidenden Urteilsfähigkeit gegeben werden? Ich greife drei Versuche dazu heraus.

Da ist das Bemühen zu nennen, in der Mannigfaltigkeit der heute um uns ausgebreiteten sozialen Welt selbst drei Arten von Institutionen aufzufinden, um so zu einer «sinnenfälligen» Dreigliederung zu gelangen, wie Heinz Kloss sie genannt hat. Aber Heinz Kloss macht mit Recht darauf aufmerksam, daß es viele soziale Institutionen gibt, welche die Merkmale mehrerer gesellschaftlicher Lebensbereiche gleichzeitig aufweisen. So z.B. zeigt das Verlagswesen zu gleicher Zeit Merkmale des Geisteslebens wie des Wirtschaftslebens, wie Kloss in Heft 28 (S. 62) dieser «Beiträge» deutlich macht und deshalb lieber von Grenzsäumen als von Grenzlinien zwischen den verschiedenen sozialen Lebensbereichen gesprochen wissen möchte. – Für denjenigen aber, der in einem Verlag mitarbeitet oder anderweitig mit ihm zu tun bekommt, entsteht daraus verständlicherweise sofort das Problem, ob er hier nun durch eine Brüderlichkeit pflegende oder durch eine nach Freiheit strebende Verhaltensweise zum Gedeihen der sozialen Situation beitragen kann bzw. wann das eine und wann das andere richtig wäre. Der damit sich ausbreitenden Verunsicherung läßt sich durch eine andere Anschauung begegnen.

Allgemein gesprochen besagt diese, daß jede gesellschaftliche Institution nur «hauptsächlich» einem der drei sozialen

[Beiträge, Heft 33, April 1980, Seite 38]

Lebensbereiche, dem Geistes-, Rechts- oder Wirtschaftsleben, angehöre, «nebenbei» aber durchaus die beiden anderen stets mitumfasse. Will man dabei die Fixierung des Blickes auf das Institutionelle festhalten, so kann man hier von «Enklaven» und «Sonderzellen» sprechen, wie Heinz Kloss das in seiner ausführlichen Darstellung «Vom Grenzverlauf zwischen den Gliedern des sozialen Organismus» (in Heft 27 dieser «Beiträge") tut, um dieses «Nebenbei» im «Hauptsächlichen» zu charakterisieren. Löst man dagegen den Blick von dem Institutionellen ab und richtet ihn stärker auf den darin tätigen Menschen, so entsteht ein Bild der sozialen Dreigliederung, das den Menschen weniger mit der Institution, in der er arbeitet, als mit der Rolle, die er beispielsweise durch sein Berufsleben spielt, identifiziert. In dieser Sicht gehören die Lehrer einer Schule dem Geistesleben, aber z.B. der Hausmeister dem Wirtschaftsleben an.

Wie auch innerhalb der menschlichen Leibesorganismus der Kopf nur «hauptsächlich» Kopf ist (Sinnesorgane, Gehirn), «nebenbei» aber auch Brust (Atemorganisation der Nase und des Mundes, Blutzirkulation) und Gliedmaße (beweglicher Unterkiefer) ist, die Gliedmaßen hingegen «hauptsächlich» Gliedmaßen, aber «nebenbei» auch Brust (Blutzirkulation) und Kopf (Tast-, Bewegungs-, Wärmesinn usw.) sind, so läßt sich auch der soziale Organismus auf eine Art betrachten, in der die drei ihrem Wesen nach unterschiedlichen Glieder räumlich miteinander verflochten auftreten. Und es muß voll anerkannt werden, daß diese Anschauung in der Geschichte der Dreigliederungsbewegung zu einer notwendigen Verfeinerung der Begriffe wie der Aufmerksamkeit geführt hat. Aber wenn man aus der Sicht dessen blickt, der durch sein Verhalten aktiv zur Gestaltung der drei Glieder des sozialen Organismus beitragen will, wird hier noch ein weiterer Schritt notwendig. Denn für einen solchen Menschen wird die gemachte Unterscheidung in ein «Hauptsächlich» und ein «Nebenbei» in dem geschilderten Sinne zwar nicht weniger richtig – aber sie wird für ihn unwichtig bzw. gleichgültig. Wie das? Schauen wir noch einmal auf den menschlichen Leibesorganismus bzw. auf den Gebrauch, den wir von ihm machen. Wie wir hier z.B. die spezifische Aktivität der Sinnesbeobachtung seelisch immer in gleicher Weise entfalten müssen, ob nun das dabei benutzte Sinnesorgan anatomisch im Kopf oder in den Gliedmaßen lokalisiert ist, so ist es auch auf sozialem Feld. Vom Gesichtspunkt des handelnden Menschen her betrachtet ist es beispielsweise gleichgültig, ob an einer bestimmten Stelle des sozialen Lebens mir Wirtschaftsleben «hauptsächlich» oder «nebenbei» entgegentritt: in beiden Fällen stehe ich vor der Aufgabe, jene Aktivität zu ent-

[Beiträge, Heft 33, April 1980, Seite 39]

falten, die als nach Brüderlichkeit strebende assoziativer Verhaltensweise bezeichnet werden kann.

Die Bedeutung eines solchen Schrittes für die Erkenntnispraxis entdeckt man erst, wenn man diese Verhaltensweisen wirklich vollzieht.

Ohne mit dieser Bemühung wenigstens begonnen zu haben, würde man allzuleicht geneigt sein, hier von bloßer «Deduktion» – etwa von den Begriffen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit usw. her – zu sprechen. Wer ihn wagt, wird dabei gewahr, daß ja für den Handelnden ohnehin nicht seine bisherigen Vorstellungen über einen sozialen Lebensbereich letztlich für diesen entscheidend sind, sondern allein, durch welche Verhaltensweise ihm es gelingt, diesen Lebensbereich mindestens an der Stelle zu fördern, an der der so Handelnde selber in ihn eintritt. An dieser Stelle berührt sich eine solche Förderung gleichzeitig mit der Frage, für welche der in den gekennzeichneten drei Verhaltensweisen lebenden Keime dieser Lebensbereich den geeigneten Entwicklungsboden abgibt, auf dem die assoziativen, demokratischen oder korporativen Einrichtungen einmal wachsen können. – Aus all dem wird deutlich, daß der hier zu schildernde dritte Versuch zur Ausbildung der gekennzeichneten Unterscheidungsfähigkeit eben in dem charakterisierten Schritt ansetzt, durch Anwendung jener drei Verhaltensweisen selber die Wahrheit zu finden. Durch ihn können wir nicht nur überall dort, wo wir in der Frage der drei unterschiedlichen Lebensbereiche noch unsicher sind, Sicherheit durch eigene Erfahrung gewinnen, sondern er erlaubt uns auch, unsere bisherigen Vorstellungen von diesen Lebensbereichen auf ihren Wirklichkeitswert hin zu prüfen. Ja, selbst Rudolf Steiner gegenüber sind wir auf diesem Wege in der Lage zu tun, wozu er uns selbst unzählige Male aufgefordert hat: Auch seine Aussagen zu prüfen, ehe wir sie als wahr annehmen.

Ein Beispiel: Rudolf Steiner hat so oft und eindeutig ausgesprochen, daß das Unterrichts- und Erziehungswesen dem Geistesleben angehört, daß man sich, wie Gerhard Schabbon im vorigen Heft dieser «Beiträge» (S. 31) betont, nur in einen bewußten Widerspruch dazu setzen kann, wenn man dasjenige, was der Lehrer an seinen Schülern leistet, dem Wirtschaftsleben zurechnet. Nun will Gerhard Schabbon auch da seine Ausführungen als Frage verstanden wissen, wo er sie als eine Behauptung formuliert. Vom Gesichtspunkt des handelnden Menschen könnte geantwortet werden, daß die Frage, ob dasjenige, was der Lehrer gegenüber seinen Schülern leistet, dem Wirtschaftsleben angehöre, ja vom Fragenden selber geprüft werden könne. Wenn nicht anders, so dadurch, daß dieser sich versuchsweise einmal

[Beiträge, Heft 33, April 1980, Seite 40]

enthält, sich im Sinne der hier gemeinten Brüderlichkeit um die tatsächlichen Bedürfnisse derer zu kümmern, die von ihm lernen wollen; um dann abzuwarten, ob dies fruchtbar sei. – Wer allerdings Gerhard Schabbon kennt, weiß selbstverständlich, daß er die hier zu machenden Erfahrungen längst gewonnen und in einer jahrzehntelangen Lebenspraxis verarbeitet hat, so daß es solch grober Methoden, auf die Bedeutung der Brüderlichkeit im Verhältnis von Lehrer und Schüler aufmerksam zu werden, erst gar nicht bedarf. Aber: Nimmt er diese Erfahrung innerhalb seiner sozialen Erkenntnispraxis auch so ernst, wie es ihr zukommt? Dann würde sich ihm hier ein Weg eröffnen u.a. zu verstehen, warum Rudolf Steiner selbst sich in den von Gerhard Schabbon oben gekennzeichneten «Widerspruch» gesetzt hat, wenn er in seinen «Kernpunkten» ausspricht, daß dasjenige, was der Lehrer an seinen Schülern leistet für den Wirtschaftskreislauf Ware ist. (Gedanken, die uns abhalten können, solche Erfahrungen in dem angezeigten Sinne auch ernst zu nehmen, hat Hartwig Wilken in Heft 28 dieser «Beiträge», S. 46/7 zusammengefaßt.)

Wollte Rudolf Steiner, auch durch das – doch wohl bewußte? – Aussprechen solcher eben dem Leben selber angehörenden «Widersprüche», zu der hier geschilderten Art von Erkenntnispraxis anregen? Zu einer solchen, die von den gekennzeichneten drei Verhaltensweisen ausgehend den am Handeln Erkennenden mit einbezieht? Die daher Geistesleben alles nennt, was eines freiheitlich-korporativen, Rechtsleben alles, was eines gleichheitlich-demokratischen, Wirtschaftsleben alles, was eines brüderlich-assoziativen Verhaltens zu seinem Gedeihen bedarf? Sie ergibt, daß ein einzelner Mensch – und so eben auch der oben betrachtete Lehrer – gleichzeitig in allen drei sozialen Lebensbereichen stehen kann und das im allgemeinen, z.B. insofern er einem Beruf nachgeht, auch tut. – Aber auch dann, wenn jemand auf Grund seiner bisherigen Anschauungen bezweifelt, daß es Rudolf Steiners Anliegen war, so das Erkennen am Handeln in den sozialen Erkenntnisweg miteinzubeziehen: er könnte sich selber doch auf diesem Wege vorbereiten, immer fruchtbarer in die soziale Welt einzugreifen. Denn die Entwicklung der Keimkräfte, die sich schon in dem gemeinten dreigliedrigen Verhalten einen ihnen gemäßen Ausdruck schaffen, hängen weniger von den Vorstellungen ab, die wir uns von dem Anliegen Rudolf Steiners bisher gebildet haben, als von dem, was wir als unser eigenes Anliegen uns vorstellen und ergreifen.

Diese Keimkräfte zunächst in dem zu pflegen, was in der Gegenwart unmittelbarste Menschennatur, die der Bewußtseinsseele, ist: darin kann heute nicht nur der zweite Schritt zu einer Neugestaltung des sozialen Lebens liegen,

[Beiträge, Heft 33, April 1980, Seite 41]

sondern darin liegt auch eine einzigartige Möglichkeit, schon unter den gegenwärtigen bedrückenden Verhältnissen zu einem menschenwürdigen sozialen Handeln zu kommen – oder wenigstens bewußt die Leiden auf uns zu nehmen, die dadurch entstehen, daß diese Verhältnisse uns fortwährend zu Handlungsweisen verführen oder sie uns aufzwingen, die unserer Menschenwürde nicht entsprechen.

Der erste Schritt zu einer Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens aber liegt, solange die unbewuBte oder bewußte Sehnsucht nach einer solchen Neugestaltung noch nicht jenen Einrichtungen begegnen kann, die aus dem angeführten dreigliedrigen Verhalten erwachsen, darin, daß der Mensch, der diese Sehnsucht in sich spürt, Gedanken begegnet, die ihn als handelndes Wesen miteinbeziehen, und dadurch nicht einfach eine Lehrmeinung vertreten, sondern gleichzeitig aufzeigen, wie solche Gedanken auf ihre Tragfähigkeit für das Leben an diesem selbst geprüft werden können.

[Beiträge, Heft 33, April 1980, Seite 42]