Das soziale Hauptgesetz und die Gesetze der gesellschaftlichen Dreigliederung

01.02.1979

Quelle
Zeitschrift „Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus“
20. Jahrgang, Heft 32, Februar 1979, S.14–21

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Bibliographische Notiz

Dieses Hauptgesetz gilt für das soziale Leben mit einer solchen Ausschließlichkeit und Notwendigkeit, wie nur irgendein gewisses Gebiet von Naturwirkungen gilt.

Rudolf Steiner

Als Rudolf Steiner im Herbst 1906 das dritte und in Ermangelung eines ihm entgegengebrachten Interesses auch letztes Stück eines Aufsatzes veröffentlicht, der auszusprechen unternimmt, was die Geisteswissenschaft zur sozialen Frage zu sagen hat, stellt er in den Mittelpunkt seiner Ausführungen die Formulierung einer sozialen Gesetzmäßigkeit, die er von Anfang an das soziale Hauptgesetz nennt. Was diese Formulierung enthält, wird wohl damals wie heute von dem einen Teil seiner Leser als «haarsträubender Idealismus», von dem anderen als etwas angesehen, von dem sie bestenfalls glauben, daß man es nach und nach verwirklichen könne, wenn man danach strebt, «im Sinne» dieses Geistes zu handeln. Beiden Arten von Lesern ist mithin gemeinsam, daß sie seinen Inhalt als eine Anweisung zu sozialem Wohlverhalten ansehen. Ist dies aber der Fall? Dürfen wir unbesehen annehmen, daß es sich hier darum handelt, seitens der dafür allerdings leicht verdächtigen anthroposophischen Geisteswissenschaft eine bestimmte soziale Verhaltensweise vorzuschreiben?

[Beiträge, Heft 32, Februar 1979, Seite 14]

Rudolf Steiner spricht von einem Gesetz, dessen Gültigkeit sich mit der irgendeines beliebigen Naturgesetzes vergleichen lasse. Muß nicht eine solche schwerwiegende Aussage ernsthaft geprüft werden? Er spricht zudem von einem Hauptgesetz. Setzt aber ein solcher Ausdruck nicht gleichzeitig die Existenz von Gesetzen voraus, die, etwa weil sie weniger umfassend sind, eine neben- oder unterzuordnende Bedeutung besitzen? Wie jedoch könnten denn solche Gesetze aussehen? Indem sich die folgende Skizze diesen beiden Fragen zuwendet, möchte sie zu der Erkenntnisgrundlage beitragen, auf die der anthroposophische Sozialimpuls, die Dreigliederung der menschlichen Gesellschaft, gebaut ist.

Ein Gesetz der Physik beschreibt z.B. die Bedingungen, unter denen eine bestimmte Naturerscheinung zustande kommt und – das ist für unsere Auseinandersetzung wichtig – gegebenenfalls wieder verschwindet, wenn die Bedingungen dafür wegfallen. Zum Beispiel: Befindet sich ein (undurchsichtiger) Körper zwischen einer Lichtquelle und einem zweiten Körper, so wirft er auf den letzteren einen Schatten. Ändert man diese Bedingungen, so verschwindet er wieder. Ist dies auch in bezug auf die Phänomene und ihre Bedingungen der Fall, von denen das soziale Hauptgesetz spricht? Schauen wir uns die von Rudolf Steiner gewählte Formulierung einmal daraufhin an:

Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.

Versteht man das «Heil einer Gesamtheit» als eine in der sozialen Welt mögliche Erscheinung, das «Abgeben» von Er-

[Beiträge, Heft 32, Februar 1979, Seite 15]

trägnissen seiner eigenen Leistungen als Bedingung zu ihrem Zustandekommen, so wird zunächst deutlich, daß diese Formulierung nicht eine bestimmte soziale Verhaltensweise vorschreibt, sondern nur ihre Folge beschreibt. Richtig ist allerdings, daß die hier umrissenen Bedingungen nicht der Natur entnommen werden können, sondern nur dann vorhanden sind, wenn sie von Menschen geschaffen werden. Das aber ändert nichts an der Ausschließlichkeit und Notwendigkeit, die wir auch z.B. mit dem Begriff des Naturgesetzes verbinden, sondern besagt – daß dieses Gesetz für ein anderes Wirklichkeitsgebiel «lt, eben für das der menschlichen Gesellschaft. – Aber nicht nur das Zustandekommen, sondern auch das Verschwinden des gemeinten Gesamtwohls kommt nicht von ungefähr, sondern ist eine gesetzmäßige Folge von Bedingungen, die wir chaffen. Und auch sie sind im sozialen Hauptgesetz bzw. in der logischen Konsequenz mit beschrieben. Will man auf sie abheben, so ließe sich die obige Formulierung auf folgende Weise fortsetzen:

Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso kleiner, je mehr der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je weniger er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt und je weniger seine eigenen Bedürfnisse aus den Leistungen der anderen, sondern aus den eigenen Leistungen befriedigt werden.

Wie ein physikalisches Gesetz mit den Bedingungen einer Erscheinung gleichzeitig die Bedingungen des Verschwindens dieser Erscheinung beschreiben kann, so beschreibt das soziale Hauptgesetz nicht nur die gesetzmäßige Folge eines bestimmten sozialen Verhaltens, sondern gleichzeitig auch, was sich gesetzmäßig aus dem gegenteiligen Verhalten ergibt. Sollte von hier aus beispielsweise verständlich werden, warum sich gegenwärtig die Kluft zwischen arm und reich weltweit ständig vertieft?

[Beiträge, Heft 32, Februar 1979, Seite 16]

Je mehr wir den bloß beschreibenden Charakter des sozialen Hauptgesetzes einsehen, um so erwächst ihm gegenüber die Empfindung, daß hier mit unserer Menschenwürde voll gerechnet ist. Nicht Vorschriften brauchen wir, sondern Einsichten. Denn eben durch sie kann das soziale Hauptgesetz von demjenigen ergriffen werden, der sich in Freiheit das Ziel setzt, am Wohl einer Gesamtheit zu arbeiten. Es zeigt ihm, welche Bedingungen er herstellen muß, um zu diesem Wohle beizutragen. Was heißt es, die Erträgnisse seiner Leitungen anderen zur Verfügung zu stellen? Einerseits etwas ganz Selbstverständliches, tagtäglich Geschehendes; andererseits etwas für unsere Vorstellungs- und Empfindungsgewohnheiten völlig Neues.

Um etwas in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft Selbstverständliches handelt es sich dort, wo unter jenen «Erträgnissen» der eigenen Leistung Waren verstanden werden. Denn es wäre unsinnig, nicht gleichzeitig dafür Sorge zu tragen, daß andere sie verbrauchen können. Niemand will selbstverständlich auf den Waren, die er produziert, sitzen bleiben. Anders ist es, wenn unter diesen Erträgnissen der finanzielle Gewinn verstanden wird, der durch Erlös der Waren entsteht. Hier scheint es für unsere Vorstellungs- und Empfindungsgewohnheiten im Gegenteil selbstverständlich, ihn möglichst für sich zu behalten.

Was also ist gemeint? Rudolf Steiner spricht innerhalb des obengenannten Aufsatzfragment von sozialen Einrichtungen, die es hier zu schaffen gelte, um zu verhindern, daß jemand die Früchte seiner Arbeit für sich in Anspruch nimmt und nicht anderen zur Verfügung stellt. Auf welche Weise aber diese Einrichtungen zu schaffen sind, dazu findet sich in dem Fragment nichts. Dagegen spricht Rudolf

[Beiträge, Heft 32, Februar 1979, Seite 17]

Steiner im sozialen Hauptgesetz selber aus, daß der leitende Gesichtspunkt für ein solches Zurverfügungstellen die Bedürfnisbefriedigung sein muß. Und eben dies bringt Rudolf Steiner auch beispielsweise 14 Jahre später in seinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» zum Ausdruck, wenn er in der zweiten Auflage über die Einkommensbildung bzw. ein gesundes Preisverhältnis sagt: «Dieses muß so sein, daß jeder Arbeitende für sein Erzeugnis so viel an Gegenwert erhält, als zur Befriedigung sämtlicher Bedürfnisse bei ihm und den zu ihm gehörenden Personen nötig ist, bis er ein Erzeugnis der gleichen Arbeit wiederum hervorgebracht hat.» Eine Formel, die er dann wiederum zwei Jahre später innerhalb des Nationalökonomischen Kurses ausdrücklich bestätigt und zum Kardinalproblem de Wirtschaftslebens entfaltet.[1]

Damit erhebt sich gleichzeitig die Frage, ob sich anhand dieses Problems einer der Fäden auffinden läßt, die von der Darlegung des sozialen Hauptgesetzes zur Vertretung des Dreigliederungsgedankens z.B. in den «Kernpunkten» und zu den Darstellungen des Nationalökonomischen Kurses führen. So ist es in der Tat. Eine genauere Untersuchung würde z.B. ergeben, daß mit den nach den Darlegungen von 1906 zu schaffenden sozialen Einrichtungen jene drei Formen von Selbstverwaltung gemeint sind, die Rudolf steine als assoziative, demokratische und korporative in den «Kernpunkten» beschreibt. Denn Geld dient heute nicht nur zur Bedarfsbefriedigung, sondern auch zum Erwerben von Macht über andere Menschen und als Arbeitsantrieb. Eine menschengemäße Gestaltung der Einkommensbildung ist daher nicht nur eine Frage des Wirtschaftslebens, sondern auch eine des Rechts- und Geisteslebens, wie an anderer Stelle gezeigt werden soll. Im Rahmen der vorliegenden Skizze soll dagegen noch auf eine andere Weise auf den Zusammen-

[Beiträge, Heft 32, Februar 1979, Seite 18]

hang der sozialen Dreigliederung mit dem genannten Hauptgesetz aufmerksam gemacht werden.

Nicht nur einen bedeutungsvollen Zusammenhang der sozialen Wirklichkeit lernen wir durch das Aufzeigen des sozialen Hauptgesetzes kennen, sondern auch etwas darüber, in welcher Struktur soziale Gesetzmäßigkeiten überhaupt zu erfassen sind. Dabei formuliert Rudolf Steiner so, daß der gekennzeichnete Zusammenhang zwischem dem sozialen Zustand als «Erscheinung» und dem sozialen Verhalten als vom Menschen geschaffenen «Bedingungen» alle möglichen Fälle abdeckt (: ... um so größer, je weniger bzw. mehr ...).

Läßt sich das so Gelernte auch bei anderen Gesetzmäßigkeiten der sozialen Wirklichkeit anwenden? Um den Rahmen die, ser Ausführungen nicht zu sprengen, soll hier vorläufig nur der Versuch gemacht werden, solche Formulierungen einfach auszusprechen und – wie beim sozialen Hauptgesetz auch – die jeweilige Prüfung an den verschiedenen Erfahrungsfeldern ganz dem Leser zu überlassen.

Die wichtigste Gesetzmäßigkeit auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens läßt sich beispielsweise formulieren:

  • Die Befriedigung des Bedarfs einer Gesamtheit von Menschen gelingt um so besser, je mehr Brüderlichkeit 'zwischen den beteiligten Menschen vorhanden ist. Oder:
  • Das Wirtschaftsleben einer Gesamtheit wird um so gesünder, je mehr assoziatives Verhalten gepflegt wird. Oder auch:
  • Je mehr assoziative Gestaltung, um so gesünder das Wirtschaftsleben.

Aber gleichzeitig ist damit auch gesagt:

  • Je weniger assoziatives (brüderliches) Verhalten ent-

[Beiträge, Heft 32, Februar 1979, Seite 19]

wickelt wird, um so mehr krankt das Wirtschaftsleben einer Gesamtheit von Menschen.

Für das Gebiet des Rechtslebens ließe sich der wichtigste gesetzliche Zusammenhang etwa formulieren:

  • Vereinbarungen von Rechten und Pflichten innerhalb einer Gesamtheit von Menschen werden um so tragfähiger, je mehr jeder den anderen als gleichgestellten Partner anerkennt. Oder:
  • Das Rechtsleben einer Gesamtheit von Menschen wird um so lebensfähiger, je mehr demokratisches Verhalten geübt wird. Oder wieder als Kurzform:
  • Je mehr demokratische Gestaltung, um so tragfähiger das Rechtsleben.

Dieser Zusammenhang gilt jedoch ebenfalls im abbauenden Sinne:

  • Das Rechtsleben wird um so unmenschlicher, je weniger es auf die Gleichheit der Menschen gebaut

Für das Gebiet des Geisteslebens lautet der entsprechende Zusammenhang so:

  • Die Zusammenarbeit einer Gesamtheit von Menschen wird. um so fruchtbarer, je mehr sie aus der Freiheit der beteiligten Menschen entspringt. Oder:
  • Das Geistesleben einer Gesamtheit erbringt um so bessere Ergebnisse, je mehr korporatives Verhalten entwickelt wird. Oder kurz:
  • Je mehr korporative Gestaltung, um so fruchtbarer das Geistesleben.

Aber auch:

  • Das auf Zusammenarbeit beruhende Geistesleben einer Gesamtheit wird um so steriler, je weniger Freiheit in ihm gepflegt wird.

[Beiträge, Heft 32, Februar 1979, Seite 20]

In jedem der drei gesellschaftlichen Lebensbereiche gilt also ein anderes «Hauptgesetz». Um sie zu heilen, zu gestalten und zu verwalten, müssen daher in jedem von ihnen von den beteiligten Menschen andere «Bedingungen» geschaffen werden. Es handelt sich mithin um drei verschiedene Arten von Selbstverwaltung.[2] Was so korporativ als Freiheit, demokratisch als Gleichheit, assoziativ als Brüderlichkeit getrennt voneinander lebendig gepflegt wird: bringt es als gemeinsames gesellschaftliches Ergebnis hervor, was Rudolf Steiner im sozialen Hauptgesetz das «Heil einer Gesamtheit» von Menschen nennt? Mit dieser Fragestellung soll abschließend darauf aufmerksam werden, daß das Wort «Heil» in der Formulierung Rudolf Steiners sicher nur bedingt durch Ausdrücke wie «Wohlergehen» oder «Wohlfahrt» ersetzt werden kann, wie dies einfachheitshalber manchmal in der voranstehenden Darstellung geschehen ist.

Anmerkungen

[1] Vgl. dazu auch: Hartwig Wilken, «Innere Entwicklungslinien im Nationalökonomischen Kurs», in den Heften vom Oktober 1972 und Mai 1973 dieser Beiträge.

[2] Vgl. dazu auch den Aufsatz «Menschennatur und soziale Dreigliederung» im Heft 31 dieser Beiträge.

[Beiträge, Heft 32, Februar 1979, Seite 21]