Die neue Dreigliederungsbewegung

01.12.1970

Seit Kriegsende wurde die soziale Dreigliederung fast ausschließlich in kleineren Zirkeln und Gruppen theoretisch erarbeitet. Arbeit nach außen wurde entweder nicht versucht, nicht gewollt oder scheiterte. Die Form, in der die Dreigliederung vertreten wurde, wirkte auf Außenstehende wie auch auf andere anthroposophische Freunde nur in Einzelfällen überzeugend. Auf Generalversammlungen oder anderen öffentlichen Veranstaltungen der Anthroposophischen Gesellschaft fehlte – von Andeutungen abgesehen – die Darstellung der sozialen Ideen von R.Steiner. Auch von der sozialwissenschaftlichen Sektion des Goetheanums gingen und gehen nur wenig Impulse aus trotz jahrelanger intensiver Bemühungen etlicher Freunde. Zwar wurde in der auflagenstärksten Zeitschrift, die auf anthroposophischer Grundlage erscheint, „Die Kommenden“, regelmäßig von der Dreigliederung her Stellung zu aktuellen öffentlichen Problemen genommen, zwar wurde in Berlin ein „Institut für soziale Gegenwartsfragen“ gegründet, das in wechselnden Abständen wissenschaftliche Veröffentlichungen herausgibt, und nicht zuletzt sind Bücher erschienen, die z.T. auf hohem Niveau einzelne, meist wirtschaftliche Sachgebiete durchleuchten; aber alle diese Bestrebungen sind nicht in das Bewußtsein der Öffentlichkeit eingedrungen, sie werden übersehen, nicht nur von Gegnern, sondern auch von Wohlwollenden, wobei – das sei hinzugefügt – natürlich nicht zu durchschauen ist, wieweit ein einzelner Unternehmer oder auch Politiker oder sonst jemand, der auf einem sozial verantwortlichen Posten steht, Anregungen dadurch empfangen hat, die er zu verwirklichen trachtet. Es gibt einige Beispiele im öffentlichen Bereich, die im Sinne der Dreigliederung durchaus als fortschrittlich gelten können, und deren Ursprung durchaus auf solche Quellen zurückgehen kann.

Was fehlte, ist eine Dreigliederungsbewegung; die gab es seit 1919 nicht mehr – bis vor etwa 4 Jahren.

33 Jahre nach 1933 entstand in der Bundesrepublik wie auch in anderen Ländern eine Jugendbewegung, die sich gegen jede Form autoritärer Bevormundung auflehnte. Diese Bewegung, die von den Studenten ausging und bald auch auf die Oberschüler übergriff, wurde bekannt unter dem Namen „außerparlamentarische Opposition“ (APO), weil sie auch die Herrschaftsstruktur

[Beiträge, Jahrgang 13, Heft 1-2, Seite 24]

des demokratischen Parlamentarismus ablehnte. Die Reaktion der bürgerlichen Presse sowie z.T. brutales Vorgehen der Polizei und Diffamierungen seitens der Regierungen führten sehr bald zu einer Radikalisierung dieser Bewegung, wodurch sie zum Bürgerschreck wurde. Das Tragische war, daß der antiautoritäre Impuls dieser Generation keine gesellschaftlichen Modellvorstellungen vorfand, die ihrem Impuls eine gezielte Richtung hätten geben können. Das war dieser Jugend sehr deutlich bewußt, jedoch fand sie bei ihrer Suche nach „revolutionären“ – d.h. im Selbstverständnis dieser Jugend: gesellschaftsverändernden – Ideen nichts vor außer dem Marxismus. So geriet diese ganze Bewegung in ein marxistisches Fahrwasser. Mit einer Ausnahme: es gab seit kurz nach Kriegsende eine Außenseitergruppe von Dreigliederern, die stets nach außen arbeiten wollte, den Kontakt mit Andersdenkenden suchte und sich um eine Sprache bemühte, die auch der einfache Mann verstehen konnte. Besonders letzteres, aber auch gewisse unkonventionelle Lebensformen brachte dieser Gruppe viel Ablehnung anthroposophischer Freunde ein.

Es handelt sich um den Denghooger Kreis, der im Rahmen der Witthüs-Teestuben auf Sylt und in Hamburg öffentliche Gespräche veranstaltet und eine Zeitschrift herausgibt, den „Jedermann“, der auf der Straße verkauft wird und in oft polemischer Form zu politischen Geschehnissen Stellung nimmt. Auch dieser Gruppe blieb im Grunde genommen bis 1966/67 ein größerer Erfolg versagt. Das änderte sich jedoch schlagartig mit dem Entstehen der APO. Zwar war diese Gruppe zahlenmäßig viel zu schwach, um die gesellschaftstheoretische Diskussion innerhalb der APO global in eine bestimmte Richtung zu lenken, aber es bildete sich doch eine ganze Reihe von APO-Gruppen, die begannen, die Dreigliederung zur Grundlage ihres Denkens zu machen. Angehörige des Denghooger Kreises, an der Spitze Peter Schilinski und Ursula Weber, waren ständig unterwegs, um besonders an den Brennpunkten der Auseinandersetzung die Dreigliederung zu vertreten. Neben dem Hamburg-Sylter Zentrum entstand durch Wilfried Heidt in Süddeutschland (Lörrach) ein zweites Dreigliederungszentrum.

Die neue Art, Dreigliederung zu vertreten, hat mit der APO-Bewegung zweierlei gemeinsam:

Die Überwindung der Trennung von Theorie und Praxis
und die Überwindung einer „wertfreien“ Wissenschaftlichkeit.

Beides bedingt einander. Nicht, um seine Erkenntnis zu bereichern oder passiv die sozialen Gegebenheiten zu durchschauen, wird Theorie getrieben, sondern theoretische Erkenntnis dient der Umwandlung der Wirklichkeit, oder, um mit Marx zu reden: Philosophie soll die Welt nicht interpretieren,

[Beiträge, Jahrgang 13, Heft 1-2, Seite 25]

sondern sie verändern. Das ist aber nur möglich, wenn Erkenntnis nicht wertfrei ist, sondern Werturteile, moralische Urteile vermittelt. Das ist bekanntlich einer der Punkte, in denen Karl Marx mit Rudolf Steiner Übereinstimmt. Der Unterschied zwischen beiden liegt nur darin, daß Marx zwar die Forderung aufstellt, aber erst Rudolf Steiner den Weg bzw. die Methode zur Erfüllung dieser Forderung zeigt.

Zwei Höhepunkte erlebte diese neue Dreigliederungsbewegung bisher. Der erste bestand in der Begegnung mit tschechoslowakischen Reformern während des „Prager Frühlings“ (wir berichteten darüber im letzten Heft dieser „Beiträge“), bei der eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den Zielen der Dreigliederung und dem Ziel des „freiheitlich-demokratischen Sozialismus“ festgestellt wurde. Beide wollen die Befreiung des Menschen von jeder Bevormundung und die bewußte Selbstgestaltung der sozialen Lebensformen. (Daß dieses Ziel nur erreicht werden kann, wenn der soziale Organismus auf Grund der in ihm liegenden Gesetzmäßigkeiten dreigegliedert wird, ist primär eine Frage der Wahrnehmung, nicht der Theorie.) Die Formulierung dieses Zieles im Rahmen der politischen Bewegung (nicht Partei) der Demokratischen Union (DU) brachte den zweiten Höhepunkt. Dadurch ging im Laufe des letzten und vorletzten Jahres der Begriff „Dreigliederung“ im Zusammenhang mit dem Namen Rudolf Steiner zum ersten Mal wieder seit 50 Jahren durch die Presse und den Rundfunk. Dieser Bewegung haben sich etliche Gruppen und kleinere Parteien angeschlossen.

Es ist um die DU inzwischen stiller geworden. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Impuls eingeschlafen ist. Im Gegenteil! Der Aktion nach außen folgte die nach innen. Es stellte sich nämlich heraus, daß in der Öffentlichkeit ein sehr viel größeres Dreigliederungsbedürfnis vorhanden ist, als zur Zeit befriedigt werden kann. Es fehlt ganz einfach an genügend geschulten „Dreigliederern“, um die inzwischen gebildeten Gruppen zu betreuen und um in der intern – innerhalb der APO – sehr heftig und sehr ernst geführten Diskussion um die rechten sozialen Ideen und Modelle wirksam mitzusprechen. Es sind daher ernsthafte Bemühungen im Gange, zu einem Schulungszentrum zu gelangen, das sich wirtschaftlich zu tragen in der Lage ist. Darüber berichtet eine Beilage zu diesem Heft.

Neben dem Hamburg-Sylter Dreigliederungszentrum entwickelte sich in Haagen bei Lörrach ein zweites Zentrum, das sich den Namen „Freie Hochschule für aktive Philosophie, Sozialwissenschaften, Formgestaltung und Bildende Künste“ gab. Es finden dort regelmäßige Abendkurse und von Zeit zu Zeit öffentliche Tagungen statt. (Siehe Berichte in diesem Heft.) Ebenso wird in Aktionen Stellung zu aktuellen Ereignissen genommen.

[Beiträge, Jahrgang 13, Heft 1-2, Seite 26]

Diesen in die Offentlichkeit wirkenden Dreigliederungsinitiativen ist parallel gegangen die Bildung eines Dreigliederungskreises, der sich als Verbindungsstelle zwischen Peripherie und Zentrum der anthroposophischen Bewegung versteht. In diesem Kreis treffen sich in der „Rüspe“ regelmäßig die nach außen arbeitenden Freunde mit einer Reihe von denen, die den Dreigliederungsimpuls innerhalb der anthroposophischen Gesellschaft, speziell in Deutschland, lebendig machen wollen. Diese Zusammenarbeit hat sich als äußerst fruchtbar für beide Seiten erwiesen. Die in der Auseinandersetzung mit der Welt tätigen Freunde wissen sich getragen von denen nach innen arbeitenden, die wiederum viele Anregungen von den ersteren empfangen. Dadurch wurde die Dreigliederungsarbeit innerhalb dieses Kreises keine theoretische, sondern eine qualitativ-bewußtseinserweiternde; d.h. aber nichts Geringeres als eine Arbeit aus den Impulsen des 5. nachatlantischen Zeitalters heraus. Natürlich mußte auch dieser Kreis erst einen Lernprozeß durchmachen, ehe die Zusammenarbeit so fruchtbar werden konnte. Woran schon viele Initiativkreise gescheitert sind, daß nämlich alle Einzelinitiativen zuerst in dem Kreis beurteilt und einstimmig für gut befunden werden müssen, also das Sich-Verantwortlich-Fühlen für die Handlungen der anderen, wurde hier durch eine völlig freilassende Haltung überwunden. Vielleicht konnte das Verständnis für die ganz andere Art des Handelns eines jeden Menschen nur aus der teilweise wohl recht schmerzvollen Erkenntnis entspringen, daß das eigene Handeln oft erfolglos oder wirkungslos war.

An die Stelle des Urteilens über den anderen ist weitgehend das Vertrauen in den anderen Getreten, daß nämlich jeder sich bemüht, aus Einsicht, aus moralischer oder sozialer Phantasie mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden moralischen oder sozialen Technik zu handeln.

Dieser Rüspe-Kreis hat sich freilich noch andere Aufgaben gesetzt, nämlich gemeinsame Initiativen zu entfalten, z.B. durch gemeinsame Tagungen, und neue aktive Dreigliederungsfreunde, speziell aus der anthroposophischen Bewegung, zu gewinnen. Ersteres geschah mit uneingeschränktem Erfolg zum erstenmal an Ostern in Lörrach (siehe bes. Bericht) und – mit geteiltem Erfolg – an Pfingsten in Stuttgart. Diese mit einigen Problemen belastete Tagung muß noch ausgewertet werden. Ein Bericht soll folgen. Das Letztere, die Gewinnung neuer aktiver Dreigliederer, ist eine entscheidend wichtige Aufgabe – weshalb wir alle Freunde, die an aktiver Mitarbeit interessiert sind, um eine Mitteilung bitten.

[Beiträge, Jahrgang 13, Heft 1-2, Seite 27]

Quelle

Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus, Jahrgang 13, Heft 1-2, Dezember 1970, S. 24-27