Sieben Jahre „Arbeitsgemeinschaft für Dreigliederung des sozialen Organismus“

01.12.1963

Quelle
Zeitschrift „Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland“
17. Jahrgang, Weihnachten 1963, Nr. 66, S. 285–287
Bibliographische Notiz

Die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus wurde dreimal in verschiedener, der jeweiligen Zeitlage angepaßten Form der Menschheit Mitteleuropas von Rudolf Steiner dargelegt. Im Jahre 1917 wandte er sich an den Menschenkreis, durch dessen Einsicht ein Eingreifen aufgrund ihrer autoritativen Stellung damals möglich gewesen wäre, die Staatsmänner und führenden Politiker. Nach dem Weltkrieg wandte er sich in zahlreichen Vorträgen und Aufrufen an die Öffentlichkeit, an alle, die in der jungen Demokratie nach neuen Wegen suchten. Außerdem sprach Rudolf Steiner mit seiner Schrift „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ jeden Einzelnen an, der sich mit den neuen Gedanken auseinander setzten wollte. Doch das Verständnis für diesen Impuls war nicht tief genug, um – trotz der Aufgeschlossenheit und des hingebungsvollen Einsatzes so mancher – eine entscheidende Wendung der sozialen Verhältnisse herbeizuführen. Auch die mit Begeisterung begründeten Einrichtungen der Dreigliederungsbewegung hatten keinen Bestand; mit Ausnahme der Waldorfschulbewegung, die sich in vielen Ländern auf verschiedenen Erdteilen ausgebreitet hat.

[Mitteilungen, Nr. 66, Weihnachten 1963, Seite 285]

Nach 1945, als bei uns auf neuen Wegen begonnen werden konnte, wurde die „Dreigliederung“ von Einzelnen, in Gruppen und Kreisen nach verschiedenen praktischen Gesichtspunkten erarbeitet und nach den besonderen Bedürfnissen der Umgebung gepflegt. Man suchte sich an den grundlegenden Gedanken Rudolf Steiners zu orientieren und ihnen Beachtung zu verschaffen. Aber keine genügend große Zahl Menschen war fähig und bereit, gemeinsam zu beginnen, die Dreigliederung des sozialen Organismus auch in die Neuordnung des äußeren Lebens hineinzutragen. Anfänglich noch durch die Grenzen der Besatzungszonen getrennt, entwickelte sich das Verständnis in stiller Arbeit, die in mannigfaltiger Weise in Angriff genommen wurde. Dann strebten einige Freunde danach, mehr aktiv für die Dreigliederung in die Breite zu wirken. Hans Kühn, der schon 1919 an der Seite Rudolf Steiners für die Dreigliederungsbewegung eingetreten war, fand es jetzt an der Zeit, den Dreigliederungsgedanken in der Gesellschaft und in der Öffentlichkeit wieder allgemein mehr bekannt und lebendig zu machen. Er und einige Gleichgesinnte riefen darum die Interessierten zu einer Besprechung im Anschluß an die Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft 1956 in Nürnberg zusammen. Damals war es nur ein sehr kleiner Kreis, der zusammen kam; doch war dies der Beginn der „Arbeitsgemeinschaft für Dreigliederung des sozialen Organismus“.

Im Mai 1957 fand in Stuttgart eine Zusammenkunft statt, an der Freunde aus allen Gegenden und von allen Richtungen teilnahmen. Man suchte ein gemeinsames Vorgehen und eine gegenseitige Orientierung; man wollte feststellen, wieweit Übereinstimmung in den Grundfragen und Methoden bestand und das vorliegende Material sammeln und zusammenfassen. Es kam zur Einrichtung einer Geschäftsstelle für die „Arbeitsgemeinschaft“, [1] deren Aufgabe vor allem darin bestand, die Verbindung zu den einzelnen Gruppen in Deutschland sowie der Arbeitsgruppe für Sozialwissenschaft am Goetheanum aufrecht zu halten. Als Zeitschrift entstanden die „Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus“, für die Herbert Hillringhaus die von ihm herausgegebene „Soziale Zukunft“ zur Verfügung stellte. Hier wurden die verschiedenen Arbeitsergebnisse und Tagungsprogramme veröffentlicht. So kamen auch entgegengesetzte Ansichten zu Wort. Manche Kontroverse führte durch Veröffentlichung in den „Beiträgen“ zu fruchtbarer Auseinandersetzung und zu neuem Durchdenken der aufgeworfenen Probleme.

Während der sieben Jahre ihres Bestehens gab es viel Bewegung innerhalb der Mitwirkung bei der „Arbeitsgemeinschaft“. Aktive Dreigliederungsfreunde, die anfangs großes Interesse an einer Gesamtinitiative gezeigt hatten, zogen sich wieder auf ihren individuellen Weg zurück, andere kamen hinzu. Manches Mal sah sich Hans Kühn in seinen Bestrebungen fast allein, jedoch treu unterstützt durch Hartwig Wilken, der die Geschäftsführung mit Sitz in Freiburg übernommen hatte und durch alle Jahre in unermüdlicher und selbstloser Weise versah. Gegenüber manch andersgerichteter Meinung war die „Arbeitsgemeinschaft“ aufrecht zu halten.

Es scheint, daß in Fragen der „Dreigliederung“ ein gemeinsames Vorgehen auf ganz besondere Schwierigkeiten stößt, da dieses auf einer nach heutiger Gewöhnung „gesicherten“ Grundlage nicht geschehen kann. Die beiden Wege, die am meisten auseinandergehen, sind einmal, alles bis in die praktischen Einzelheiten vorher festzulegen, sich möglichst nach Regeln richten und sogar die Dreigliederung vom Staate eingerichtet sehen zu wollen. Auf dem anderen Wege hat man sehr weitreichende und umfassende Vorstellungen vom dreigliedrigen sozialen Organismus, hält an einer idealen Verwirklichung fest und glaubt, daß die Menschen sich erst ändern müssen, um anfangen zu können, in dieser Richtung zu wirken. Und wirklich sind wir in der Lage, in gewisser Weise beide Wege zugleich gehen zu müssen; das heißt jeweils das eine durch das andere sich anregen zu lassen, so daß es sich gegenseitig trägt und stützt. Indem wir heute versuchen, Dreigliederung praktisch ins Leben zu tragen – und dazu gibt es immer Ansatzpunkte – werden die Menschen erst zu neuen Einsichten kommen und sich ändern können. Und indem wir klare, weite Vorstellungen haben, bilden wir die Voraussetzung zu fruchtbarem Handeln, das sich erst aus den jeweiligen Verhältnissen ergeben kann. Die Sicherheit liegt jetzt auf einer neuen Ebene. – So wie in dem Entwicklungsgang des Menschen das höhere Bewußtsein das freie harmonische Zusammenwirken von Denken, Fühlen und Wollen herstellen kann, so können die Menschen im dreigliedrigen sozialen Organismus gemeinsam ein neues Bewußtsein auf einer anderen Ebene erlangen und die Harmonie der Glieder bewirken. „Was im Menschen zusammenwirkt im Denken, Fühlen und Wollen, das nimmt in der Zukunft einen getrennten Charakter an, macht sich auf verschiedenen

[Mitteilungen, Nr. 66, Weihnachten 1963, Seite 286]

Feldern geltend ... Das aber legt uns ... die Verpflichtung auf, das äußere Leben so zu gestalten, daß der Mensch diesen Umschwung seines Innern auch im äußeren Leben durchmachen kann ... Was bisher chaotisch im öffentlichen Leben durcheinanderwirkte, müssen wir jetzt in drei Gebiete gliedern. Diese drei Gebiete sind: das Wirtschaftsleben, das staatliche oder Rechtsleben und das Kulturleben oder geistige Leben. Diese Forderung der Dreigliederung hängt mit dem Geheimnis der Menschheitswerdung in diesem Zeitalter zusammen.“ (Rudolf Steiner „Die Rätsel unserer Zeit“. Berlin 1919.)

Wir haben um uns heute Beispiele genug, wie das chaotische Zusammenwirken von Staat, Wirtschaft und Kultur Hemmnisse bereitet und zu Konflikten führt. Darum sind wir den unentwegten, ständigen Mitarbeitern der „Arbeitsgemeinschaft“ dankbar, daß sie ihrem Ziel treu blieben, die Idee der Dreigliederung wach und wacher erlebbar zu machen, jede Initiative auf diesem Gebiet begrüßend, Gegensätze ausgleichend und immer wieder zu Zusammenkünften und Aussprachen auffordernd. Möge die „Arbeitsgemeinschaft für Dreigliederung des sozialen Organismus“ in den kommenden sieben Jahren das Erstrebte in fruchtbarer Weise weiterführen und mit den Freunden dem gemeinsamen Ziel verbunden bleiben!

Anmerkungen

[1] Adresse: Freiburg/Br., Prinz-Eugen-Straße 11.

[Mitteilungen, Nr. 66, Weihnachten 1963, Seite 287]