- Startseite ›
- Dreigliederung ›
- Bücher & Aufsätze ›
- Details
Einige Erinnerungen an die Situation des Jahres 1919
Quelle
Zeitschrift „Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland“
4. Jahrgang, Johanni 1950, Nr. 12, S. 8–12
Bibliographische Notiz
Zurückblickend auf die Ereignisse vom Spätherbst 1918 bis zum Frühjahr 1919 steht vor mir jener Abend in lebendigster Erinnerung, da ich Rudolf Steiner zum erstenmal sehen und sprechen hören durfte.
Es war am 22. April 1919. Da es sich bei diesen Zeilen um einen Situationsbericht handelt, darf an Persönliches angeknüpft werden.
Nachdem ich seit meinem 14. Lebensjahre in den Gedankengängen und Ideen des Sozialismus gelebt und seine verschiedenen Erscheinungsformen von den gemäßigten bis zu den radikalen durchlaufen hatte, ohne mich durch Parteidogmen binden zu lassen, erlebte ich die umwälzenden Ereignisse vom November 1918 an mit größter innerer Intensität, erlebte, wie die in den letzten Kriegsjahren gefesselten Willenspotenzen sich gleich einer Sturmflut über die menschlichen Gemüter ergossen. Die Menschen standen in dem Gefühlserlebnis: jetzt geschieht etwas Großes, Gewaltiges, Weltgeschichtliches, bei dem man dabei war und dabei sein wollte. Was jahrzehntelang in den Parteiversammlungen, den Reichstagsreden, Broschüren, den verschiedensten sozialistischen Zeitungen und Zeitschriften den Menschen in die Gemüter gehämmert worden war: die kapitalistische Wirtschaftsordnung wird sich selbst vernichten und die Macht wird dem Proletariat wie eine reife Frucht in die Hände fallen, schien über Nacht eingetreten zu sein. Die führenden sozialistischen Kreise sahen plötzlich die seit Jahrzehnten ersehnte Macht in ihren Händen. Aber dem nicht ganz besinnungslos den Ereignissen Gegenüberstehenden wurde bald klar: was eigentlich zu geschehen hat, das geschieht nicht. Es geht etwas Einmaliges im Weltgeschehen vorüber. Und es muß doch etwas geschehen! Aber was?
Kaum von dem Druck der Kriegsereignisse befreit, drohte sich ein neuer Alp auf die Seele zu legen. Man sah die langersehnte Macht den Händen entgleiten, ja man hatte den Eindruck, sie war gar nicht ergriffen worden von denen, in deren Hände sie gefallen war. Die führenden Persönlichkeiten, ob gemäßigte, unabhängige oder radikale, saßen auf ihren Minister- und anderen Stühlen. Aber die das aufgebrochene Chaos ordnenden Hände und Köpfe waren nicht da. So ertönte von den radikalen Elementen immer stärker der Ruf nach der „Diktatur des Proletariats“. Doch der Einsichtige mußte sich fragen: „Was hilft eine Diktatur, wenn nicht Köpfe da sind, die zu diktieren fähig sind. Dieser Ruf nach der Diktatur entsprang ja letzten Endes der im Unterbewußtsein auftauchenden Angst, daß ein weltgeschichtlicher Augenblick vorübergeht und das Alte aus der verebbenden Flut wieder auftauchen wird.
In diesen Monaten – vom November 1918 bis Februar 1919 –, die Zeit dünkt mir in der Erinnerung Jahre, war ich bis zum Anarchismus vorgedrungen. Ich kannte viele der führenden Persönlichkeiten, und weil ich sie kannte, fühlte ich auch, daß sie keine diktaturfähigen Persönlichkeiten waren. Unter dem Eindruck der Ereignisse glaubte ich zu erkennen, daß die sozialistischen Theorien nicht in der Lage waren und auch nicht die Kraft in sich trugen, ordnend und gestaltend in die Ereignisse einzugreifen.
[Mitteilungen, Nr. 12, Johanni 1950, S. 8]
Da erschien Anfang März 1919 der Aufruf „An das Deutsche Volk und die Kulturwelt“ in den Zeitungen.
Das war eine neue ungewohnte Sprache, aber es waren auch neue Gedanken. Und wenn ich auch damals nicht alles verstand, so unterschrieb ich diesen Aufruf dennoch.
Mitte April 1919 kam eine Einladung zu einem Vortrag Rudolf Steiners für die „Unterzeichner des Aufrufes“ am 22. April im Stadtgartensaal in Stuttgart. Ich hatte für diesen Abend ein Referat in der „Führerschule“ von Albrecht Merz übernommen, in welcher Führer „geschaffen“ werden sollten, welche den Ereignissen besser gewachsen wären als die derzeitig Tonangebenden. Ich sollte über das Thema „Bildung“ sprechen. Bei diesem Thema fühlte ich mich, offen gestanden, nicht ganz wohl. Mir schwebte irgendwie etwas dunkel von Bildungskräften vor, doch wußte ich nicht dafür die rechten Worte zu finden. Trotz der Angst, über etwas zu sprechen, was mir nicht klar war, war es für mich als jungen Menschen doch wichtiger, etwas selber zu sagen, als Dr. Steiner anzuhören. Und so ging ich in die „Führerschule“ zu meinem Referat. Als ich dort ankam, wurde mir gesagt, daß der Abend heute ausfalle und man geschlossen in den Vortrag Dr. Steiners gehen werde, der etwas Neues über die sozialen Probleme zu sagen habe. Mir fiel ein Stein vom Herzen. – In dem vollen Saale setzte ich mich ziemlich hinten an die Seite. Im ganzen Raume war eine erwartungsvolle Stimmung. Nach der Eröffnung des Abends trat die hohe schlanke Gestalt Rudolf Steiners an das Rednerpult. Ruhig drangen seine mit einer ungewohnten Souveränität gesprochenen Worte an mein Ohr.
Gefesselt von seiner Erscheinung rauschten sie zunächst an mir vorüber; aber schon nach wenigen einleitenden Worten fühlte ich sie voll in mein Bewußtsein dringen.
Ich folgte den vorgetragenen Gedanken mit der größten Aufmerksamkeit. Aber währenddem ich mich bemühte, sie zu erfassen, fühlte ich mich – ich kann es nicht anders ausdrücken wie vom Erdboden weggehoben. Zu gleicher Zeit kam ich mir vor wie eine Blume, die ihren Blütenkelch plötzlich voll öffnet, und ich fühlte aus diesen Worten ein Licht zu mir strömen. Mein ganzes Wesen sagte „Ja“ zu dem, was da an mein Ohr heranschlug. Weniger in klaren Gedanken als im Gefühl erlebte ich: hier spricht ein Mensch, keine Partei. Durch Sätze wie: „Das Geistesleben der bürgerlichen Gesellschaftsklasse wurde übernommen als ein leeres Gewebe von Gedanken, empfunden wie Rauch, der aufsteigt aus den wirtschaftlichen Verhältnissen ... Die Seele mußte veröden ... Was bin ich als Mensch eigentlich wert?“ fühlte ich mich auch als Proletarier verstanden.
Die Worte: „Geistesleben, Rechtsleben, Wirtschaftsleben“ klangen an mein Ohr, und dennoch war mir nicht klar, was sich mir mit ihnen entwirrte. Aber ein Gefühl hatte ich, daß mir hier etwas klar zu werden beginnt. Und dann erklangen gegen den Schluß des Vortrages von Rudolf Steiner machtvoll die Worte: „Seit dem 18. Jahrhundert tönt herein in das soziale Leben die dreifache Devise: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wem tönten diese drei Worte nicht so in das menschliche Herz hinein, daß er weiß, mit ihnen ist Großes gesagt. – Aber sie widersprechen sich. Freiheit ist der Grundimpuls des geistigen Lebens, Gleichheit der Grundimpuls des Staats- und Rechtslebens. – Brüderlichkeit ist das, was auf wirtschaftlichem Gebiete herrschen muß im großen Stile.“
Die dramatischste Handlung auf einer Bühne hätte mich nicht mehr ergreifen können als diese wenigen Worte über die Ideen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das war ja das Ei des Kolumbus. Das ist ja etwas, so sagte ich mir, wozu jeder ja sagen kann, ja sagen muß, weil es so ist.
Und als nun Rudolf Steiners letzte Worte erklangen: „Ich bin der Überzeugung, dieser Aufruf wird aus dem Grunde nicht verstanden, weil ihn die Leute nicht einfach genug nehmen“, da stand vor mir das ganze Labyrinth und all der Wust von Gedanken, von Zweifeln und Theorien, wie sie im Sozialismus der vergangenen Jahrzehnte und auch in mir lebten. Aber zugleich stand vor mir die Frage: werden die Menschen das verstehen? Wie war es möglich, den Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durch Jahrzehnte im Proletariat ertönen zu lassen, ohne ihren sich gegenseitig widersprechenden Charakter zu deuten, ohne den Menschen klare Gedanken darüber zu geben? Ich sah hier mein Gefühl bestätigt, daß die damals an die Macht Gekommenen nicht in der Lage sein würden, dem weltgeschichtlichen Moment gerecht zu werden. Wer kann einer Situation wie der damaligen gerecht werden, wenn er nicht einmal in der Lage ist, solche tragenden Ideen wie die der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in ihrem Widerspruch zu erfassen, um dann diesen Widerspruch aufzulösen?
[Mitteilungen, Nr. 12, Johanni 1950, S. 9]
Aber die Flamme der Einsicht verdunkelte sich mir. Ich fühlte mich wie von einer finsteren Wolke umgeben und sagte mir: die Menschen werden das nicht verstehen, was mir selbst während des Vortrages so klar geworden ist. Aber es muß etwas geschehen, damit geschieht, was sie nicht verstehen werden. In dieser zwiespältigen Stimmung von Begeisterung und Verdüsterung meldete ich mich zum Wort.
Da Rudolf Steiner vorher noch eine Frage beantwortete, mußte ich lange warten. Dann sagte ich u. a. folgendes: Wenn an Stelle der hier im Saal anwesenden Bourgeois Proletarier säßen, dann würden diese den Ausführungen Rudolf Steiners mit vollem Herzen begeistert zustimmen. Sie würden sich verstanden fühlen bei den Worten: „Wir brauchen heute nicht nur eine Änderung der Einrichtungen. So paradox es klingt, wir brauchen andere Köpfe auf unseren Schultern, Köpfe, in denen neue Ideen sind!“ Sie würden diese Gedanken als den wahren Sozialismus erkennen. Aber statt dessen, so führte ich weiter aus, sitzen die Menschen hier, wie wenn nichts geschehen wäre. Meine Ausdrucksweise war aufreizender, als ich es hier berichte, was zur Folge hatte, daß ein in der vordersten Reihe sitzender, älterer Herr aufsprang und in seiner Empörung Anstalten machte, mich vom Podium herunterzuziehen. Bei dieser Attacke spürte ich in mir eine eiserne Ruhe und sagte zu dem Herrn nur: „Melden Sie sich doch auch zum Wort.“ – Ich hatte nicht bemerkt, daß plötzlich Rudolf Steiner, ohne ein Wort zu sprechen, wie schützend hinter mir stand, die Hände leicht erhoben. – Ich sprach dann ruhig weiter und wandte mich, nachdem Rudolf Steiner seinen Platz wieder eingenommen hatte, zu ihm hin: „Glauben Sie, Herr Dr. Steiner, daß, wenn viereinhalb Jahre Krieg nicht in der Lage waren, den Menschen andere Köpfe aufzusetzen, dies dann die, wenn auch noch so schönen und richtigen Gedanken der Dreigliederung fertigbringen würden?“ Und deshalb müsse, so sagte ich weiter, weil die Menschen für diese Gedanken nicht reif seien, erst durch eine Diktatur des Proletariats die Vorbereitung zur Verwirklichung dieser Gedanken geschaffen werden.
Ich muß gestehen, als ich dies gesagt hatte, kam ich mir wie in einem größten Widerspruch stehend vor. Denn war es mir nicht in den Revolutionsmonaten klar geworden, daß keine diktaturfähigen Menschen da waren? Ich ging auf meinen Stuhl zurück mit der Empfindung: hättest du geschwiegen. – Ich darf hier vielleicht darauf hinweisen, daß Rudolf Steiner in einem Mitgliedervortrage in Stuttgart diesen Gedanken, die Dreigliederung durch eine Diktatur des Proletariats vorzubereiten, als eine ahrimanische Inspiration bezeichnet hat. –
Und nun erlebte ich die so gütige, aber tiefernste Antwort Rudolf Steiners, die mir bis an die Nieren ging. Er sagte, daß er den Pessimismus des Vorredners nicht teile. Dem Umweg, durch den Kommunismus zur Dreigliederung zu kommen, würde er zustimmen, wenn dadurch etwas erreicht werden könne. Aber in Wahrheit setze der Kommunismus nur an die Stelle von Thron und Altar – Fabrik und Kontor. Ich fühlte mich wie zerschmettert. Jedoch statt der Einsicht kam in mir die Opposition hoch. Und als am Schluß des Vortrages zwei Heidenheimer Arbeiter mich ansprachen (unser Freund Meebold hatte sie beauftragt, sich meiner anzunehmen, und ihnen gesagt: „Den brauchen wir“), da sagte ich der Einladung zu einer Besprechung mit ihnen zu, war aber innerlich entschlossen, mich von ihnen nicht einfangen zu lassen. Mein Herz sagte „ja“, die alten Vorstellungen in mir spukten und sagten „nein“!
In dieser Zwiespältigkeit besuchte ich in den folgenden Monaten fast alle öffentlichen Vorträge Rudolf Steiners. Ich erlebte ihn in den Diskussionen mit den Gewerkschafts- und Parteivertretern der verschiedensten Größen, erlebte die Souveränität seiner Gedankenführung und die Armseligkeit der Erwiderungen aus den sozialistischen Dogmen heraus. Ich sah, daß Rudolf Steiners Gedanken, die man als bürgerliche Ideologien erklärte, nichts Entscheidendes entgegengesetzt werden konnte. Wenn Rudolf Steiner vor größeren Kreisen von Arbeitern sprach, so konnte ich beobachten, wie sie Ähnliches erlebten, wie ich im ersten Vortrage erlebt hatte. Wenn aber dann die Autoritäten der verschiedenen sozialistischen Größen mit ihren Argumenten auftraten, so sah ich das in den Arbeitern aufglimmende Licht des Verständnisses und den guten Willen zum Verstehen dieses Neuen sich verdunkeln. Die nicht zu einem selbständigen Denken und eigener Urteilsbildung erzogenen Menschen erlagen so immer wieder der autoritären Dogmatik.
So vergingen das Frühjahr und der Sommer 1919. Die alten, retardierenden Mächte gewannen nach und nach immer mehr an Boden und Macht. Nach dem Vortrage vom 22. April 1919 wurde ich von den verschiedensten Menschen immer wieder angesprochen und erfuhr so von der Anthroposophie.
[Mitteilungen, Nr. 12, Johanni 1950, S. 10]
Die Merzsche „Führerschule“, die ich immer noch besuchte, empfand ich mehr und mehr als ein zwerghaftes und sinnloses Beginnen. Auch von den Parteien nahm ich immer mehr Abstand und fühlte mich wie von allen verlassen. An Rudolf Steiners Wirksamkeit erlebte ich, wie er jeden Fußbreit Boden an Verständnis zu erringen suchte, wie aber auch alles, was er durch sein persönliches Wirken an Vertrauen gewann, ihm wieder abgegraben wurde durch eine unsachliche Gegnerschaft.
Da bekam ich im August 1919 das Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ in die Hände. Ich las es mit größter Aufmerksamkeit, und nachdem ich etwa zwei Drittel gelesen, wußte ich: ich muß mit Dr. Steiner sprechen.
Nach dreimaligem vergeblichem Bemühen empfing mich Rudolf Steiner in der Landhausstraße. Über den Empfang war ich insofern erstaunt, als er mich wie einen alten Bekannten begrüßte. Ich war doch, wenn auch nur einmal, eigentlich gegen ihn aufgetreten. Im Bibliothekszimmer setzte er sich mir gegenüber; das Licht im Rücken, den Kopf in die Hand gestützt, sah er mich mit seinen ernst-gütigen Augen fragend an. Ich sagte ihm, daß ich das Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse?“ gelesen und glaubte, manches gefunden zu haben, wozu ich ja sagen könne. Er sah mich daraufhin durchdringend an und sagte nur: „So, glauben Sie?“ Es ergab sich, daß ich von meinem Entwicklungsgange sprechen konnte und wie ich, nach dem ich das Versagen der führenden Sozialistenkreise erlebt hatte, ich jetzt bei der Weltanschauung des Anarchismus angelangt und bei der Lektüre von Mackays „Anarchisten“ zu der Einsicht gekommen sei, durch die ich mich ganz auf mich selbst gestellt fühle, im Gegensatz zu der sozialistischen Auffassung von der Führung und Beeinflussung der Massen. Nun sprach Rudolf Steiner zu mir mit einer unendlichen Wärme von John Henry Mackay, dem Verfasser des Buches „Die Anarchisten“. Er sprach davon, wie er ihn persönlich gekannt, des öfteren mit ihm in Berlin zu Mittag gegessen habe, wie er Mackays Entwicklungsgang mit großem Interesse verfolgt habe und wie Mackay mit ihm über sein Buch „Die Philosophie der Freiheit“ gesprochen habe. Und dann wurde er sehr, sehr ernst, schaute mich wiederum durchdringend an und sagte: „Ja, mein lieber Herr Neumeister, die Zeit ist jetzt vorbei, wo man am Schreibtisch sitzend über die soziale Frage Bücher schreiben kann. Heute muß etwas geschehen, wodurch grundlegend umgestaltend in das gegenwärtige Chaos eingegriffen werden kann.“ Ich kann es nicht anders ausdrücken als: ich fühlte mich bis in die Knochen hinein angesprochen.
Es folgte in dem Gespräch noch manches Persönliche, und zum Schluß bat ich Dr. Steiner, in die Anthroposophische Gesellschaft aufgenommen zu werden. Er schaute mich wiederum recht ernst an und sagte unendlich gütig: „Nun, das sollten Sie sich doch noch einmal überlegen...“ Ich sagte darauf: „Ich will mir’s nicht überlegen, ich will Mitglied werden.“ Er sagte daraufhin: „Lassen Sie sich doch Zeit dazu.“ Doch ich meinte dennoch, Mitglied werden zu wollen.
Es war mir dabei unbegreiflich, daß er gar kein Interesse daran zu haben schien, für seine Gesellschaft ein neues Mitglied zu bekommen.
Wenn ich in ein Wort zusammenfassen soll, was ich damals, in die Gesellschaft kommend, empfand, so ist es dies: ich fühlte mich nach Hause gekommen. Es folgte nun eine Zeit intensivsten Aufnehmens der Anthroposophie für mich.
Inzwischen war der „Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus“ gegründet. Zugleich erschien die Wochenschrift. Die Dreigliederung wurde überall diskutiert. In den Kreisen der sozialistischen Jugend, wo ich damals tätig war, versuchte ich diese Gedanken zu vertreten. Doch überall stieß ich auf die Parteidoktrin. Auch da erlebte ich, daß selbst dann, wenn die Menschen in ihrem Herzen von diesen Gedanken sich angesprochen fühlten, sie nicht die Grundlagen hatten, um darüber zu einem eigenen Urteil zu kommen.
So verebbte die Welle der Begeisterung. Rudolf Steiner sprach sich die Kehle wund, im wirklichsten Sinne genommen; er leistete Übermenschliches. Trotzdem kam eine Anzahl von Menschen aus den Arbeiterkreisen auch an die Anthroposophie heran. Doch nur wenige konnten die aus ihrer Lebensschicht stammenden Vorurteile überwinden und sich, wenn ich so sagen darf, innerhalb- der Anthroposophischen Gesellschaft halten. Bildlich gesprochen kann man vielleicht sagen, sie konnten von den Anthroposophen nicht richtig verdaut werden, und so blieben Wenige aus diesen Kreisen für Anthroposophie Interessierte übrig.
Noch im Jahre 1920 hat ein großer Teil besonders der öffentlichen Vorträge Rudolf Steiners Themen sozialen Charakters. Immer mehr nahmen dann die Themen, die zum Anthroposophischen überleiteten, zu.
[Mitteilungen, Nr. 12, Johanni 1950, S. 11]
Mit dem Beginn des vierten Jahrgangs der Dreigliederungszeitung im Juli 1922 nimmt diese den Titel „Anthroposophie, Wochenschrift für freies Geistesleben“ an.
Zurückblickend auf diese Jahre darf man sagen: die Menschen der Mitte waren vor die Prüfungsfrage gestellt, ob sie aus Einsicht in die Entwicklungsnotwendigkeiten der Zeit den Impuls der Dreigliederung aufnehmen wollten. Sie wurde nicht aufgenommen. Die retardierenden Kräfte traten machtvoll wieder auf den Plan. Sie beherrschten die folgenden Jahrzehnte, um die nicht aufnahmewillige Menschheit in ein noch größeres Chaos hineinzuführen. Wir stehen heute mitten in diesem Chaos. 1919 ging eine Willenswoge durch einen großen Teil der Menschheit. Es war eine Aktivität ohne die notwendigen neuen Gedanken.
Heute hat es nun den Anschein, als ob die Willenssubstanz in den vergangenen Jahrzehnten verbraucht worden ist. Die Menschheit des Jahres 1950 steht vor der Aufgabe, aus dem Nichts heraus schöpferisch zu werden. Wo sind die Herzen, welche die neuen Gedanken aufnehmen, um damit den schlafenden Willen anzufeuern, um die Ideen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu realisieren?
[Mitteilungen, Nr. 12, Johanni 1950, S. 12]