Der Unfug der Arbeitslosigkeit

Skizze zu einem Versuch, einen Weg zur Lösung der Arbeitslosenfrage zu beschreiben

01.05.1949

Als Manuskript vervielfältigt
1949
IN KOMMISSION: ERNST SCHEIFFELE/ BUCHHANDLUNG / STUTTGART 43

Verehrte Leser !

Im Jahre 1919 wurde in Deutschland durch die gesetzliche Einführung des Acht-Stunden-Tages eine lange Periode des Kampfes um die Arbeitsgesetzgebung zum Abschluß gebracht. Vorher gab es keine gesetzliche Bestimmung über die Begrenzung der Arbeitszeit von Erwachsenen. Den Kampf um den Acht.Stunden-Tag charakterisierte seine moralische Note. Seine Verfechter forderten die Begrenzung der Arbeitszeit aus Gründen der Menschlichkeit, nicht aber aus wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen. Weil diese infolge eines' Versagens der deutschen Sozialwissenschaft bis heute ausblieben, gaben sie sich auch mit dem einmal errungenen Erfolg zufrieden. Insbesondere übersahen sie die Notwendigkeit, weitere Kürzungen der Arbeitszeit als einziges der modernen Entwicklung wesensgemäß entsprechendes Heilmittel gegen die in den zwanziger Jahren stetig und unaufhaltsam um sich greifende Geißel der Arbeitslosigkeit anzuwenden. Diesem Versäumnis ist die Anhäufung sozialer äißstände und Schwierigkeiten zuzuschreiben, deren Beseitigung sich schließlich allio- nen deutscher Wahlberechtigter nur noch von einem starken Mann erhofften', dem endlich auch die iviacht zu ihrer Beseitigung in die Hände gegeben wurde. Seine Erfolge bei dieser Aufgabe begründeten die unerhörte Stärkung seiner macht..Er verwandelte das ivïïllionenheer'der Arbeitslosen in ein Heer von Straßen-arbeitern, Bauarbeitern, Rüstungsarbeitern und Soldaten und hinterließ bei senem Abgang seziale,Mißstände, unvergleichlich größer als jene, deran Beseitigung er versprochen hatte. Ursache dieses unheilvollen Geschehens und des zwar allgemein sichtbren, aber im Grunde doch unvorstellbaren Ausmaaßes unserer heutigen Verelendung ist aber letzten Endes das unbestreitbare Versagen der deutschen Sozialwissenschaft und ihrer Vertreter..Einige von ihnen hatten zwar die Notwendigkeit einer Kürzung der Arbeitszeit erkannt, unternahmen aber zu wenig, um ihre Erkenntnis durchzusetzen.

Seit Generationen werden Maschinen erfunden und vervollkommnet, deren wesentlicheEigenschaft die Ersparnis menschlicher Arbeitskraft ist, Alenschen, die unsere Gegenwart als ihre Zukunft sahen, stellten sich vor, daß ihre Nachkommen in dieser Zukunft 11ioif'weniger arbeiten m ü ß t e n. Die Enkel aber wurden der Erkenntnis ihrer Vorfahren in ihrem Handeln nicht

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gerecht und sehen nicht ein, daß gar nicht mehr gearbeitet werden .d a r f als sozialwirtschaftlich erforderlich ist; ja mehr als dies k a n n gar nicht gearbeitet werden ohne Mitmenschen das Recht auf Arbeit zu entziehen und damit soziale Mißstände, wirtschaftlichen, moralischen und kulturellen Niedergang zu bewirken.

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Merkwürdigerweise herrscht die Auffassung, daß ein Mensch beispielsweise ein industrieller Arbeiter, eine bestimmte Anzahl von Stunden täglich arbeiten müsse, um die moralische Berechtigung zum Anspruch auf vollen Lebensunterhalt zu haben.

Es besteht jedoch in der Wirklichkeit überhaupt keine Wirt» sohä,ftliche Relation zwischen der Arbeitszeit eines idietallarbeiters und dem, was ihm durch die Gnade Gottes, deren Helfer ja nur die Bauern sind, aus der Erde an Nahrung zuwächst., Er mag wenig oder viel arbeiten: An dem Ernteertrag, der zur Verteilung an die Allgemeinheit zur Verfügung steht, ändert er nichts.

Sagt man aber, die Relation sei gegeben, weil der Landwirt auch eine bestimmte Arbeitszeit aufwenden müsset so übersieht man, daß einer Kürzung auch der Arbeitszeit der landwirtschaftlichen Arbeiter keineswegs unüberwindliche Hindernisse im Wege stehen.

Es ist in der modernen Wirtschaft nicht mehr sinnvoll, die Frage der Arbeitszeit unter moralischen Gesichtspunkten zu sehen. Vielmehr ist von Zeit zu Zeit zu untersuchen, welche Arbeitszeit sozialwirtschaftlich opportun ist. Dabei ist es durchaus möglich, daß in verschiedenen Territorien oder verschiedenen Wirtschafts• zweigen die Verhältnisse verschiedenartige sind, und sich deshalb eine für alle gleiche Vorschrift nicht in einem Zuge durchführen läßt; dann wird man eine Angleichung der Verhältnisse im Laufe der Zeit herbeizuführen trachten. Den angedeuteten Weg wird man aber auf alle Fälle beschreiten müssen, weil es ein anderes wirtschaftlich vorteilhaftes Heilmittel gegen die Arbeitslosigkeit nicht gibt. Beschreitet mân ihn nicht, so werden Arbeits. losigkeit und Wirtschaftskrisen zunehmen und es wird immer wie» der als der letzte Ausweg aus den Wirtschaftskrisen der Krieg drohen, der jedoch (- nun gar nicht moralisch, sondern-wirtschaftlich gesehen-) auch kein Mittel zur Lösung der Probleme der industriellen Wirtschaft ist, was ja hinlänglich augenfällig geworden sein dürftet.

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Ein immer wieder angewendetes, empfohlenes und "probates" Mittel gegen Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen ist das der "Arbeitsbeschaffung", das in mancherlei Gewand auftritt. Es beruht auf der Überlegung, daß stets gewisse Arbeitsleistungen im öffentlichen Interesse wünschenswert erscheinen, für die aber die Mittel nicht vorhanden sind. Man finanziert dann, um die Wirtschaft "anzukurbeln", diese Arbeiten durch Kreditschöpfung, d.h. man setzt zusätzliche Zahlungsmittel in Umlaufs Dabei gibt man die Absicht kund, sie nach einer meist ziemlich lange be. messenen Frist wieder einzuziehen, sieht sich aber dann in der Regel nicht in der Lage, diese Absicht zu verwirklichen, Ver» schlechterung der Währung ist die unausbleibliche Folge solchen Vorgehens. Dies ist verursacht, weil die auf solche Att finanzierten Vorhaben meist von zu geringer oder sich zu langsam auswirkender Rentabilität sind, Das gilt nicht nur für den Strassen* bau, sondern, so bitter diese Erkenntnis ist, auch für sozialen Wohnungsbau größeren Umfangs aus öffentlichen Mitteln. Ein privater Unternehmer mag zwar eine neue Produktion mit dem Bau einer Fabrikhalle beginnen, aber er wird als gewissenhafter Geschäftsmann sein Wohnhaus erst aus den Erträgnissen der Produktion erbauen. Sozialwirtschaftlich gesehen können eben auch Wohnungs— oder gar Straßenbauten nur aus den Erträgnissen der Volkswirtschaft als deren Reichtumsablagerungen sich ergeben, niemals aber deren Blüte einleiten und erhalten. Wer glaubt, auf dem Wege der Kreditschöpfung durch die Ankurbelung des Baugewerbes als einer sogenannten Schlüsselindustrie dem Wirtschaftsleben mehr als eine kurze Scheinblüte zu verschaffen, der huldigt dem schlimmsten sozialen Aberglauben. Bitter ist diese :Erkenntnis, weil sie zeigt, daß man nicht das, was in Generationen aufgebaut, aber in kürzester Frist vernichtet wurde, nun im Handumdrehen wieder aufbauen kann. Diese. Lehre ist aber heilsam für jene, die etwa leichtfertig die Zerstörungen in einem nächsten Krieg schon heute als mühelos wieder behebbare ansehen möchten, - In einer florierenden Wirtschaft aber wird der Wohnungsbau zu seinem Rechte kommen.

Man empfindet heute gewiß mit Recht den sozialen Wohnungs. bau als vordringlich, Nimmt man bei seiner Durchführung bewußt in Kauf, daß man mit einer solchen Maßnahme gleichzeitig die

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Währung wieder verschlechtert, so mag seine Durchführung gerechtfertigt erscheinen, sobald man eine Verschlechterung der Währung und damit eine erneute Schmälerung, aller Ersparnisse an . Ge lde als. ein geringeres soziales Übel anzusehen geneigt ist als das Fehlen der sozial so notwendigen Wohnungen.

Erkannt man einmal die Notwendigkeit, das Arbeitslosenproblem als das gegenwärtig vordringlichste der Wirtschaft zu lösen, und erkennt man zum anderen, daß es als einzigen sozial-Wirtschaftlich opportunen Weg zu' seiner Lösung nur den einer Kürzung 'der Arbeitszeit gibt', so muß man diesen Gedanken von verschiedenen Seiten beleuchten«

Man wird dem Arbeiter den Anspruch auf vollen "Lebensunterhà~t zugestehen müssen nicht für eine Arbeitsleistung von täglich acht, sondern von sieben oder sechs Stunden oder für eine vielleicht in Zukunft noch kiirzere Arbeitszeit. Damit ist gesagt, daß er für die kürzere Arbeitszeit denselben Reallohn erhalten muß wie 'für. die heute gesetzlich festgelegte. Das ist notwendig, damit 'der' Gesamtwirtschaft die ungeschmälerte Kaufkraft der Arbeiterschaft zugutekommt.

Mit der so vorgenommenen Kürzung der Arbeitszeit ist also praktisch' verbunden eine Erhöhung des Stundenlohnes. Diese wirkt zunächst verteuernd auf die Produktion und führt zu Preiserhöhungen. Letztere gleichen sich jedoch unter dem Einfluss von Verbilligungsfaktoren, von denen noch die Rede sein wird, innerhalb spätestens einiger Monate weitgehend wieder aus. Die Preise werden sich dann auf ein Niveau einspielen', das vielleicht noch längere Zeit um einige wenige Prozent höher liegt als das vorher zu beobachtender aber jedenfalls das sozial' richtigere ist. Niedere Preise sind nicht unbedingt von dauerndem•Vortuil für die Lohnempfänger, In der heutigen Wirtschaft gilt geradezu als Faustregel: "N±ed .Preise - viele Arbeitslose!"

Es wird nun die Frage auftauchen, wer diese Verteuerung in der ersten Etappe zu tragen hat, die Unternehmer oder die Arbeite. terschaft, Einer von den beiden Partnern muß sie, tragen, denn die Möglichkeit, sie dem Staate oder der Arbeitslosenversicherung aufzubürden, scheidet aus, weil damit eine Regulierung der Preise nach wirtschaftlichen Gesetzen nicht vermieden, sondern nur auf einen späteren Zeitpunkt verschoben würde, in dem die staatliche Hilfe, die ja nie eine dauernde sein könnte, wieder in Wegfall

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käme. Es liefe sich jedoch denken, daß sie am sinnvollsten von den Unturneruneru getragen würde, die, falls die Arbeitszeit nicht gekürzt wurde, doch angesichts der sich verschlechternden Wirtschaftslage mit den urkonstruktiven Lohnerhöhungen der bisherigen Art rechnen müßten.

Ferner wird man es ja wohl für zweckmäßig erachten, die Arbeitszeit nicht mit einem Schlage um ein oder zwei Stunden zu kürzen, sondern jeweils nach einem Monat um eine viertel oder eine halbe Stunde, und zwar so lange, bis alle heute Arbeitslosen wieder in Arbeit stehen. Sollte es sich dann einanal zeigen, daß zu wenig gearbeitet wird, so kann man die Arbeitszeit wieder in gleicher Weise erhöhen, ohne daß dies von einer die Währung verschlechternden Lohnerhöhung begleitet sein dürfte.

Eine weitere Verteuerung mag sich in manchen heute vollbeschäftigten Betrieben ergeben, in denen die Notwendikeit der Einstellung zusätzlicher Arbeiter auf die Schwierigkeit stößt, daß nicht genügend Arbeitsplätze oder Maschinen vorhanden sind. In solchen Fällen können unbedenklich öffentliche oder private Kredite zur Behebung der Übergangsschwierigkeiten zur Verfügung gestellt werden.

Eine weitere Unbequemlichkeit ergibt sich vorübergehend im öffentlichen, besonders im städtischen Verkehrwesen und im Nahverkehr. Es werden Fahrplanänderungen vorgenommen werden müssen? weil sich die Verkehrsbelastung auf andere Tageszeiten verschiebt. Die demit unter Umständen verbundene Verteuerung wird mehr als wettgemacht durch die höhere Anzahl von Fahrgästen mit Arbeiter-und Angestellton-Rückfahrkarten sowie durch eine Zunahme des Güterverkehrs als Begleiterscheinung der wirtschaftlichen Blüte, also durch eine Erhöhung der Verkehrseinnahmen. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe werden natürlich selbst gezwungen sein, mehr Arbeiter als bisher zu beschäftigen, doch können auch hier zur .Behebung von Übergangsschwierigkeiten unbedenklich öffentliche Kredite gewährt werden.

Außerdem wird man zu Prüfen haben, ob die Personentarife der öffentlichen Verkehrsbetriebe nicht besser um ein Weniges erhöht werden. Zu niedrige.Personenbeförderungstarife, welche die hentabbilität der. Verkehrsbetriebe übermäßig vermindern, sind gesamtwirtschaftlich gesehen nicht unbedingt ein Vorteil, also gar nicht unter allen Umstaanden "sozial".Ee ist ja immer

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hin zu beachten, daß die Tarife,. der - Schweizerischen Bundesbahnen recht hohe sind und 'dennoch 'der Lebensstandart des Schweizer Volkes über dem suiner,Nachbarn liegt.

Infolge der gleichbleibenden Kaufkraft der breiten Masse durch dauernde Vollbeschäftigung kann der gesamte Handel wirtschaftlicher disponieren. Die bestehende Handelsvermittlung wird durch den gegenüber heute erhöhten Umsatz verbilligst was die während der Umstellung zunächst ansteigenden Verbraucherpreise mit Sicherheit wieder sinken läßt.

Eine Nebenerscheinung der Arbeitszeitkürzung wird sein, daß .die gegenwärtige Übersetzung des Handels, vor allem des Klein--handelst auf ein wirtsehaftliçh vernünftiges Maß zurückgeht: Sobald Arbeitsleistungen befriedigend bezahlt werden, wird ein sicheres Arbeitseinkommen von sehr vielen einem unsicheren Kleinhandelseinkommen vorgezogen werden.

Ähnlich wird die Auswirkung auf landwirtschaftliche Kleinstbetriebe sein. Kleinstbauern werden es vorziehen, ihre paar Äcker zu verpachten und in Arbeit zu gehen. Das ist volkswirtschaftlich kein Nachteil und für die Betroffenen persönlich insoferne ein Vorteil, als die Kleinstbauern sich heute mehr als alle anderen von früh bis spät abschinden müssen, um ihr Auskommen zu finden.

Gutbezahlte, aber weniger als bisher zeitraubende Handarbeit wird ihre Anziehungskraft ausüben auf jene Angehörigen von .Kulturberufen, die in ihrem Berufe kein Auskommen finden. Ein Kunstmaler kann nicht nach 8-9stündiger .Beanspruchung durch körperliche Arbeit abends zuhause noch Bilder malen; er kann es aber, wenn er sich durch fünfstündige Handarbeit den Anspruch auf .Lebensunterhalt schon erworben hat. Verdient er freilich genügend durch den Verkauf seiner Bilder, so zwingt ihn ja niemand, noch zusätzlich andere Arbeit zu leisten. Umgekehrt wird man :beobachten, daß die Handarbeiter die längere Freizeit zum Erwerb von Bildung jeder Art i4enützeli.W)rdef^ Handarbeiter und @eistesarbeiter werden so einander immer näher kommen.,Das allgemeine Bildungsniveau wird sich heben und•die gesellschaftliche Sch:ichtung nach Gebildeten und Ungebildeten wird eines Tages der Vergangenheit angehören, womit ein weiterer sozialer Mißstand beseitigt wird.

Wird Vollbeschäftigung durch ständige Anpassung der gesetzlich vorgeschriebenen Arbeitszeit an die sozialwirtschaftlichen Bedürfnisse

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garantiert, so tritt schon innerhalb weniger Monate die Möglichkeit auf, die Sozialbeittäge für die Arbeitslosenversicherung nach und nach' auf ein verschwindend kleines Maß abzu bauen. Dies führt ebenso zu einer.Erhöhung des heute zu niederen lohneinkommens wie zu einer Senkung der heute zu hohen Produktionspreise, ist also ein bedeutender Verbilligungsfaktor. Die beiden bedeutendsten sind jedoch die folgenden:

1) Die in hunderterlei Formen kostspielige Wirtschaftskrise der Arbeitslosigkeit wird behoben und ihr Wiederauftreten unmöglich gemacht. Zusammenbrüche einzelner Unternehmungen werden nur noch dann auftreten, wenn ihre wirtschaftliche Planung entweder sehr dumrri oder sehr gewissenlos gehandhabt wird. Die Kosten einer Wirtschaftskrise können rechnerisch nur sehr ungenau er- faßt werden, doch wird niemand leugnen, daß sie ungeheuer hohe sind, Vormeidùng dieser Kosten wirkt auf lange Sicht außerordentlich verbilligend.

2) Es werden die noch kostspieligeren politischen Weiterungen vermieden, die sich aus dem Vorhandensein grosser Massen von Arbeitslosen ergeben. Die Kosten diesernpolitischen Weiterungen' können sehr hohe sein. Das' zeigt der' nach ungezählten ,Milliarden Goldmark zählende Betrag, den allein das deutsche Volk aufbringen musste, weil 1932 das Arbeitslosenproblem ungelöst war. Das vermeiden dieser politischen Weiterungen wirkt ungeheuer verbilligend auf den ganzen sozialwirtschaftlichen prozeße

Ein Einwand, der gegen die Kürzung der Arbeitszeit sicher erhoben werden wird, ist der folgende: Man wird sagen, der Arbeiter werde, um sich ein höheres Einkommen zu verschaffen, ."schwarz" länger als die gesetzlich vorgeschriebene Zeit arbeiten. Es wird Aufgabe der öffentlichen sozialwissenschaftlichen Aufklärung sein, (- der sich etwa.die•Gewerkschaften annehmen könnten-), zu zeigen, daß jeder Arbeiter, der dies tut, sich selbst auf die Dauer schadet. Solange es wenige Arbeiter machen, schadet es wenig. Tun .es aber Millionen, so erhöhen sie damit

das tatsächliche Lohnniveau, dem unfehlbar ein Steigen des Preisniveaus und 'ein Sinken der Währung folgen muß, sodaß die Arbeiter im Endergebnis für das Entgelt ihrer längeren Arbeitszeit sich nicht mehr kaufen können als vorher für das Entgelt der kürzeren. Die ehrlichen Kurzarbeiter aber finden überhaupt kein

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.Auskommen mehr und werden dann ihrerseits Wiedererhöhung der Arbeitszeit und Löhne beantragen. Wird jedoch immer sorgfältig kontrolliert, welche Arbeitszeit in einem bestimmten Zeitpunkt die sozialwirtschaftlich richtige ist, so wird gar kein Raum für solche Schwarzarbeit bleiben, ihr Auftreten aber gegebenenfalls das Signal.zu einer sofortigen Erhöhung der allgemeinen Arbeitszeit sein müssen.

Ein weiterer zu erwartender Einwand wird jener sein, daß eine Volkswirtschaft nicht konkurrenzfähig gegenüber anderen Volkswirtschaften bleiben könne, wenn die. in. ihr Tätigen "faul" seien und nichtlange genug'arbeiteten. Dem istentgegenzuhalten:

1) Für die Ausfuhr gilt: Die Absatzmöglichkeit für Waren auf dem Weltmarkt hängt ab von deren Qualität, Eigenart und Peeis. Qualität und Eigenart werden aber nicht durch die auf die 4erstellung der Waren verwendete Arbeitszeit, sondern durch die .Erfindungskraft und Geschicklichkeit der Erzeugenden, also durch geistige Wertungen bestimmt. -.Bei der Preisbildung machen sich die in einer Volkswirtschaft niederer Arbeitszeit wirksamen (- und die anfänglich bei' der Umstellung auftretenden Verteuerungen wieder ausschaltenden -)'Verbilligungsfaktoren auf lange Sichtfühl-

barer bemerkbar' als dies rechnerisch vorauskalkuliert werden kann0 Damit ergibt sieh, daß gerade von einer Volkswirtschaft niederer Arbeitszeit die Preise für die von :ihr auf dem Weltmarkt angebotenen Waren konkurrenzfähig gehalten werden können.

2) Für die Einfuhr gilt: indem man in einer Volkswirtschaft wirtschaftliche Konjunkturschwankungen nicht mehr durch Veränderungen des Lohn- und Preisniveaus oder .der 3eschäftigungszahl ausgleicht, sondern durch Veränderungen der Arbeitszeit, erzielt man ein stets gleichbleibendes ,Kaufkraftniveau der breiten:fiasse, gleichbleibendes Preisniveau und stabile Währung mit hoher Kaufkraft auf dem Weltmarkt.

3) Wird innerhalb eines staatlichen oder wirtschaftlichen Territoriums die Arbeitszeit gesenkt und damit die Arbeitslosigkeit beseitigt, so wird es nicht lange dauern, bis dieses Beispiel in anderen. Territorien Nachahmung findety deren Bewohner heute auch unter der Arbeitslosigkeit leiden. Schon auf diesem Wege werden die wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse innerhalb verschiedener Territorien einander angepaßt und eventuelle Konkurrenznachteile, die sich manche trotz des oben Gesagten aus

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der verschiedenen Länge der Arbeitszeit erwarten sollten, dann ganz bestimmt beseitigt, Überdies ist die gesetzliche Arbeitszeit in..den USA, in Frankreich und Italien bereits von 48 auf 40 Wochenstunden gekürzt worden, in den USA die 30-Stunden-Woche eine gewerkschaftliche Forderung.

Durch den Verlust an landwirtschaftlicher Nutzfläche, an Bodenschätzen, an industrieller Produktionskraft und an unbeweglichen (immdbilen) Sachwerten ist das auf engen Raum zusammengedrängte deutsche Volk ärmer geworden. Dieser Verlust kann weder durch eine Kürzung noch eine Verlängerung der Arbeitszeit noch durch sonstige innerdeutsche Wirtschlftsrrgelungen über Nacht weggezaubert werden. Ihre Produktionskraft und die immobilen Sachwerte kann die deutsche Bevölkerung langsam wiederherstellen, Rohstoffe und landwirtschaftliche Erzeugnisse aber mit gesunder Währung von anderen erwerben, die froh sind, dafür Abnehmer zu finden.

Es ist fraglich, ob es nicht, rein wirtschaftlioh betrachtet, billiger ist, Rohstoffe von anderen zu erwerben als selbst um deren Ausfuhr besorgt sein zu müssen. Der deutsche Kohlenexport, auch die Zuckerausfuhr bedurften häufig staatlicher Subventionierung, deren Kosten der inländische Verbraucher zu tragen hatte, während der ausländische Verbraucher von Kohlen oder Zucker deutscher Herkunft sie tatsächlich billiger bekam. Mögen doch heute jene, die sich in den Besitz deutscher Kohlen» gruben und landwirtschaftlicher Nutzflächen gesetzt haben, nun ihrerseits, solange sie diese in Besitz haben, um die Subventionierung der Ausfuhr ihrer Güter besorgt sein.

Den Vorteil wird in Zukunft jener haben, der über die größte industrielle Produktionselastizität verfugt; das wird aber nie in Territorien der Fall sein, in denen der wirtschaftliche Schwerpunkt bei der Landwirtschaft liegt. Vom Gesichtspunkt der alten Nationalwirtschaft gesehen, haben wir den Krieg verloren, nicht aber vom Gesichtspunkt einer modern» en Sozialwirtschaft. Allerdings stecken wir noch so lange in der Nationalwirtschaft drinnen als die Gedankengänge einer modernen Sozialwirtschaftswissenschaft sich nicht durchsetzen können.

Ein armer Mann, der gesund ist, ist reicher als ein Reicher, der krank ist, Durch solche Maßnaben wie die einer Senkung der Arbeitszeit nach J!aßgabe der jeweiligen szialwirtschaftlichen Bedürfnisse wird der deutsche Wirtschaftsorganismus den Weg zur inneren Gesundung geführt., Ein Deutschland ohne Arbeitslose ist

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gesünder als eine Weltmacht mit Millionen Arbeitslosen.

Im Jahre 1929 hätte den Menschen in Deutschland die Kürzung der Arbeitszeit als soziales Heilmittel viel eher eingeleuchtet als hcute5 wo man geneigt ist, die Arbeitslosigkeit nur in .Abhängigkeit einer Wirtschaftskriäe zu sehen, als deren Ursache von. vielen die zu geringe Produktion angesprochen wird. Immerhin ist die Produktion auf vielen Sektoren hoch genug, um bei der schwachen Kaufkraft nicht mehr abgestzt werden zu können, Wenn jedoch ein Mangel an Rohstoffen zu niederer Produktion zwingt, die mit einer geringeren Gesamtarbeitsleistung bewältigt werden kann so ist nichteinzusehen, varum diese nicht gleichmäßig auf alle Arbeitenden verteilt werden sollte, um die durch gleichmäßige Arbeitsverteilung immer zu erringenden sozialwirtschaftlichen Vorteile zu erzielen. Wird der heute• auf manchen Sektoren noch vorhandene Rdsfmangel beseitigt, so steigt nämlich die Produktion stärker an als die .Kaufkraft, es kommen , keineswegs alle in Arbeit und die Absatzkrise hält an.

All jene welche glauben, die Arbeitslosigkeit in Deutsch land- seiheute mit grundsätzlich anderen Mittel als mit einer Senkung der Arbeitszeit zu bekämpfen, leben noch in kriegswirtschaftlichen Vorstellungen oder in Gedankengängen 'des 19. Jahrhunderts, ,Bei. zunehmender Industrialisierung werden anfangs viele. Menschen in Arbeit gebracht, aber später wieder freig&setzt, Wird die Westdeutsche Produktion durch Lockerung der Rohstoffschwierigkeiten auf höhere Touren gebracht, so werden nur ganz vorübergehend mehr Arbeiter beschäftigt wer--den; können, Spätestens nach. einigen ,Monaten wird dann die rück]äufi,ge Tendenz. wieder einsetzen.

,reilich ist die Senkung der Arbeitszeit nicht ein Zaubermittel mit dem' nun alle im Wirtschaftsleben auftretenden Schwierigkeiten endgültig und für alle Zeiten geheilt werden können,, Aber es geschieht Wichtigstes, wenn zunächst das aller- vordr .rngli_chste Problem der zunehmenden, sozial gefährlichen .Arbeitslosig'_eult gelöst wird, Ob dann auch weitere richtige Naß-nahmen getroffen werden; das wird abhängen von der Entwicklung der deutschen Sozialwissenschaft, die ja die Impulse zur Lösung weiterer Aufgaben geben muß, Die Sozialwissenschaft ist aber heute in ihrer freien Entwicklung gehemmt, weil dom Geistesleben die Grundlagen zu seiner freien Entfaltung fehlen,

Wenn heute ein junger Mann eine deutsche Hochschule besucht,

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um Sozialwissenschaft oder ein sozialwissenschaftliches Spezialgebiet wie Wirtschaftswissenschaft zu studieren, so wird es sich für ihnf wenn er nicht sehr viel Geld und sehr viel -Idealismus hat, ja nicht darum handeln können, sich nun frei der Sozial-s forschung zu widmen. Er wird vielmehr danach trachten müssen, sich die Lieblingsgedanken seiner 2rofessoren anzueignen, um gut durchs Examen zu kommen und auf Grund des guten Examens eine Anstellung als Diplom-Volkswirt oder einen ähnlichen Posten zu erhalten. Er kann also nicht sagen, daß er in seiner Ausbildung "frei" sei. Die Professoren, von denen er seine Weisheiten bezieht, sind aber dieselben oder die Schüler derer, die, wie unsere Trümmer Zeigen, eben nicht rechtzeitig sozial heilsame und fruchtbringende Gedanken vermittelten.

In der vorliegenden Schrift konnten nur die wichtigsten Gesichtspunkte, die sich im Zusammenhang mit einer allgemeinen Senkung der Arbeitszeit ergeben und für sie sprechen, in kürzester Form dargestellt werde. Eine ausführliche Darstellung verursachte Kosten, die weder der Verfasser noch sein Verleger aufwenden können, weil sozialwissenschaftliche Schriften größeren Umfangs nicht gekauft werden.

Anhang

Zur praktischen Durchführung einer laufenden Kontrolle und Festsetzung der sozialwirtschaftlich richtigen Arbeitszeit Sowie der Modalitäten ihrer Änderungen wird folgender Vorschlag als Diskussionsanregung unterbreitet:

1) Es wird ein Arbeitsrat der Wirtschaft gebildet. Dieser ist kein Organ der Wirtschaft mit der Befugnis, die Arbeitszeit generell oder unter Berücksichtigung verschiedener Erfordernisse für einzelne Wirtschaftszweige oder einzelne Territorialgebiete durch Sonderbestimmung festzulegen. Seine Entscheidung hat Ge-- setzeskraft innerhalb des ganzen Staatsgebietes. Gleichzeitig gibt er die wünschenswerte Höhe eines Durchschnitts-Schlüssellohnes als Empfehlung sowie weitere Empfehlungen nach freiem Ermessen an die Wirtschaft bekannt.

2) Der gesetzlich bindende Beschluß hinsichtlich Festsetzung der Arbeitszeit muß vom Arbeitsrat in einer offiziellen Verlautbarung mitgeteilt und begründet werden. Wird der Beschluß nicht einstimmig gefasst, so' haben jene Mitglieder des Arbeitsrates, die den Beschluß ablehnten, ihre Ablehnung in einem Anhang zu dieser Verlautbarung zu begrnden.

3) Die Zusammensetzung des Arbeitsrates wird sich nach den wirtschaftlichen Gegebenheiten des Terriotoriums, für das er seine Vorschriften und Empfehlungen ausarbeitet, richten müssen. Die Zusammensetzung eines Wirtschaftsrates mit gesetzlicher Befugnis hinsichtlich der Arbeitszeitbestimmung könnte etwa die folgende sein:

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1 freier Unternehmer als Vertreter der industriellen Wirtschaft;

1 Vertreter der in der Privatwirtschaft beschäftigten Arbeiterschaft;

1 Vertreter der staatlichen Wirtschaftsbetriebe;

1 Vertreter der in staatlichen Wirtschaftsbetrieben beschäftigten Arbeiterschaft;

1 Vertreter der privaten und staatlichen Angestellten;

1 Vertreter des freien Randwerks;

1 Vertreter der freien Berufe (Musiker,Künstler,Schriftsteller,Privatlehrer usw.,)

1 Vertreter der Beamtenschaft;

1 Vertreter der selbständigen'Bauernschaft;

1 Vertreter der landwirtschaftlichen Arbeiterschaft;

1 von freien Unternehmern nominierter sozialwissenschaftlicher Berater;

1 von den Gewerkschaften nominierter sozialwissenschaftlicher Berater;

1 von der Bauernschaft nominierter sozialwissenschaftlicher Berater;

1 Vertreter des Großhandels;

1 Vertreter des Kleinhandels;

1 Vertreter des Arbeitsamtes als Vertreter des Staates;

1 Vertreter des Sozialversicherungswesens;

1 Vertreter aus jedem Regierungsbezirk.

Wie die einzelnen vertretenen Gruppen ihre Vertreter bestimmen, ist ihre Sache.

4) Der Arbeitsrat ist nicht befugt, die gesetzlich festgelegte Arbeitszeit innerhalb eines Monats um mehr als 30 Minuten zu kürzen oder zu verlängern; jedoch kann er für einzelne Industriezweige oder bestimmte Territorialgebiete dari.ber hinausgehende Veränderungen verfügen, insoferne dadurch die durchschnittliche Arbeitszeit im gesamten von ihm betreuten Territorium um nicht mehr als 30 Minuten verändert wird.

5) In den Regierungsbezirken werden territoriale Arbeitsräte der Wirtschaft gebildete Ihre Beschlüsse haben keine Gesetzeskraft, sondern werden als Empfehlungen an den für das garnze Staatsgebiet zuständigen Arbeitsrat weitergeleitet, in den sie Vertreter entsenden„

6) Die territorialen Arbeitsräte treten in der Mitte jedes Monats zusammen, der für das ganze Staatsgebiet zuständige jeweils zu Monatsbeginn. Damit ergibt sich ein wechselseitiges Zusammenwirken zu einem Gespräch über Wirtschaftsfragen.

7) Die Arbeitsräte in den Gliedstaaten des deutschen Bundes entsenden Vertreter zu einem Arbeitsrat der deutschen Wirtschaft, der mindestens einmal in drei A1onaten zusammentritt. Seine Beschlüsse haben keine gesetzliche Kraft, sondern sind.Empfehlungen an die Arbeitsräte in dun einzelnen Gliedstaaten.

8) Man wird, da die Struktur der Wirtschaft Veränderungen unterworfen ist, von Zeit zu Zeit zu überprüfen haben, ob die Zusammensetzung der Arbeitsräte eine paritätische Vertretung aller wesentlichen wirtschaftlichen Gruppen darstellt. Ferner

ist es denkbar, daß man auf Grund der sich ergebenden Erfahrungen die Arbeitsräte nach anderen als den hier angedeuteten Gesichtspunkten zusammensetzt und ihre gesetzlichen Befugnissee erweitert oder begrenzt.

9) Es sind Beschlüsse der Länderparlamente herbeizuführen, durch welche die gesezli.che Befugnis zur Arbeitszeitveränderung

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an Arbeitsräte der Wirtschaft übertragen wird.

10) Die Arbeitsräte der Wirtschaft sind sich selbst verwaltende .Körperschaften des öffentlichen Rechts. Elle werden anfänglich vom Staate, später aus freiwerdenden .Beträgen der Arbeitslosenversicherung finanziert.

Jenen Lesern, welche die in dieder Schrift skizzierten Gedanken zur Lösung der Arbeitslosenfrage für heilsam halten, ist es anheimgestellt, nach ihren Kräften und Möglichkeiten auch etwas zu ihrer Verwirklichung beizutragen. Wer aber die dargelegten Gedanken für Irrtümer hält, der möge dem Verfasser doch wenigstens seinen guten Willen glauben und ihm die Begründung seiner gegenteiligen Ansichten/côlenthalten, damit auch der Verfasser nicht auf seinen Irrtümern beharren muß, sondern sie richtigstellen kann. Wenn ein Einzelner über soziale Fragen urteilt, so muß er sich ja immer des Ausspruchs des größten Sozialwissenschafters der neueren Zeit bewußt bleiben:

"Es ist ein soziales Mysterium, daß jedes soziale Einzelurteil falsch ist."

Ammerland am Starnberger See, Anfang Mai 1949
Wolfgang Naager

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