Kalkulation

05.01.1922

Quelle
Wochenschrift „Dreigliederung des Sozialen Organismus“
Jahrgang 3, Nummer 27, 5. Januar 1922, S.2-3

In der Gegend von Schmalkalden gab es noch kurze Zeit vor dem Kriege ländliche Erzeugungsstätten von Stahlwaren, die mit den primitivsten Einrichtungen versehen waren und vom Großhandel mit der Massenerzeugung von Spezialwerkzeugen beschäftigt wurden. Nun erinnere ich mich einer Kalkulation, die ein Hausvater solcher Heimindustrie aufgestellt hat, als er gefragt wurde, wie er ein Groß Schraubenzieher zu so billigem Preise abgeben könne. Die Antwort lautete ungefähr so, daß er den Lohn für das Schmieden, das durch seinen Gesellen besorgt wurde, zugrunde legte und nur einen geringen Zuschlag für seinen »Verdienst« machte ; den Stahl besitze er nämlich noch, das Härten besorge er selbst, das Schleifen seine Frau, so daß er gut auskommen könne. Niemand wird sich wundern, daß das Gewerbe infolge »gedrückter Preise« zugrunde ging.

Wer heute die Arbeitsweise der deutschen Industrie verfolgt, kann lebhaft an solche Kalkulationsmethoden erinnert werden, nur ist die Sache bei einem so großen Maßstabe nicht ohne weiteres durchsichtig. Was damals die erwähnte Hausindustrie betraf, vollzieht sich jetzt mit der ganzen deutschen Volkswirtschaft. Der Vorgang wird nur durch die unbegrenzte Neuausgabe von Papierscheinen verschleiert. Aber wie lange noch? Offenbar nur so lange, als noch unverpfändete volkswirtschaftliche Substanz vorhanden ist. Wahrscheinlich würde eine genaue Inventur der deutschen Volkswirtschaft heute schon ergeben, daß solche unverpfändete Substanz überhaupt nicht mehr vorhanden ist und nur ein weiterer Schleier, nämlich die unbegrenzte Spekulation, dies nicht klar zutage treten läßt.

[Dreigliederung des sozialen Organismus, Jahrgang 3, Nummer 27, Januar 1922, Seite 2]

Eine industrielle Kalkulation setzt sich im wesentlichen aus vier Teilen zusammen : 1. Material, 2. Löhne, 3. Unkosten (Regiekosten), 4. Gewinn.

Zu 1 gehört zumeist alles, was für das zu kalkulierende Stück als Ware, Zwischenfabrikat usw. übernommen wird.

2 bestimmt sich in der modernen Fabrikation nach der aufzuwendenden Arbeitszeit mit möglichster Unterteilung der einzelnen Bearbeitungsstufen.

4 bestimmt sich, wenn dies möglich ist, nach einem Minimalsatz, der aus dem Umsatz und den in 1 und 2 aufgewendeten Selbstkosten usw. sich ergeben muß. Häufig genug ist der sogenannte Gewinn einfach der Überschuß des erzielbaren Preises über die Selbstkosten und wird auf diese Weise leicht auch zum Verlust.

Der kritische Punkt der Vorkalkulation ist aber Nummer 3. Man hatte für die sogenannten normalen Zustände vor dem Kriege auch hierfür Festsätze, die aus den wirklichen allgemeinen Aufwendungen nach Betriebs- und Handlungsunkosten aus großen Zahlen errechnet und zumeist prozentual auf die Löhne umgelegt wurden. Dabei wurden in gut geführten Betrieben die Prozentsätze nach den einzelnen Arbeitsstufen entsprechend bestimmt.

Zu den Voraussetzungen solcher Vorkalkulation gehörten vor allen Dingen konstante Verhältnisse. Schon geringe Schwankungen führten unter Umständen zu Krisen. Es ist über die Ursache von solchen Krisen viel geforscht worden. Heute sind aber alle solche Forschungsergebnisse hinfällig. Inwiefern dies der Fall ist, zeigt sofort eine Kalkulation, welche auf die heute in Deutschland tatsächlich bestehenden Verhältnisse aufgebaut werden sollte. Die theoretische Voraussetzung der erwähnten Kalkulationsart besteht nämlich darin, daß jedes Erzeugnis, das als Ware einen Betrieb verläßt, einen solchen Preis erzielen müßte, daß die Selbstkostenbestandteile dieses Preises am Tage der Fertigstellung zu den gleichen Preisen ersetzt werden könnten. Ist dies nicht der Fall, so wird der Betrieb durch das Abgeben der betreffenden Ware an Substanz ärmer. Aus der Gewohnheit der ungefähr konstanten Verhältnisse kalkuliert man aber zumeist den Preis der fertigen Ware, indem man die wirklich aufgewendeten Selbstkosten mit dem erzielten Preise vergleicht. In Zeiten, wo die Preise in fortlaufendem Steigen begriffen sind, ist aber eine solche Nachkalkulation ein außerordentlich verhängnisvoller Fehler.

Setzen wir einmal voraus, wir hätten den Material- und Lohnanteil in den Preis der Ware im Momente der Fertigstellung, so wie er als Tagespreis richtig ist, eingesetzt, und wir versuchen nun, den Unkostenanteil ebenso auf den Moment der Fertigstellung zu bestimmen. Es müßten dann in dem Unkostenanteil ebenfalls die Tagespreise für Betriebsmaterial, Regielöhne, Gehälter, Kraft, Licht usw. enthalten sein. Das mag angehen, aber nun kommt die Bestimmung des Anteils für Verzinsung und Abschreibung der Anlage. Dazu müßte der Gebrauchswert der Anlage, wie er auf den betreffenden Tag wirklich beschafft werden könnte, zugrunde gelegt werden.

Der Preis, der sich so ergeben würde, müßte so hoch ausfallen, daß man wohl zumeist erklären würde, daß ein solcher Preis auf dem Markte nicht zu erzielen ist. Aber in dem Augenblick, wo man einen solchen Preis wirklich erzielen würde, wäre er schon wieder falsch, denn nun müßte die Kalkulation weitergehen und man müßte damit rechnen, daß alle anderen Waren nach demselben Gesichtspunkte kalkuliert werden müßten. Damit würden aber die vorher eingesetzten Preise für Rohmaterial viel zu niedrig erscheinen, natürlich entsprechend auch die Werte der Löhne usw.

Dieses Verfahren konsequent durchgeführt, läßt jede Grundlage zur Kalkulation völlig zerplatzen.

Jeder einzelne Betrieb in Deutschland lebt heute aus seiner Substanz, die deutsche Volkswirtschaft aus der Summe der Substanzen der Einzelwirtschaften; denn sobald eine Ware die Grenze überschreitet, müßte für sie volkswirtschaftlich die gleiche Kalkulation angestellt werden. Daraus ergibt sich aber, daß man heute mit den üblichen Kalkulationen völlig an den Tatsachen vorbei rechnet, denn die Verhältnisse sind so, daß man überhaupt nicht mehr aus den Grundlagen der Einzelwirtschaften zu denen einer Volkswirtschaft und von da aus zur Weltwirtschaft gelangen kann.

In jedem volkswirtschaftlichen Handbuch findet sich eine Art Dreiteilung nach Einzelwirtschaft, Volkswirtschaft und Weltwirtschaft. Ihre geschichtliche Entwicklung wird auseinandergesetzt und ihr Aufbau geschildert. Die vorstehenden Andeutungen über Kalkulation zeigen, daß eine solche Wissenschaft ohne jeden Einfluß auf die Gestaltung der Verhältnisse war. Um so weniger kann aus ihr etwas zur Neugestaltung der Verhältnisse gewonnen werden. Die Führung einer Volkswirtschaft und aller Einzelwirtschaften wird ganz und gar unmöglich, wenn nicht die Grundlagen bei einer Weltwirtschaftskalkulation gesucht werden.

Es sei hiermit ein wichtiges Fragegebiet angeschnitten und zur Diskussion gestellt. Der praktische Wirtschafter wird nicht länger mehr vor solchen Fragen die Augen verschließen dürfen.

Dr.-Ing. Carl Unger

[Dreigliederung des sozialen Organismus, Jahrgang 3, Nummer 27, Januar 1922, Seite 3]