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Der Weg zur Lösung der oberschlesischen Frage
Quelle
Zeitschrift „Dreigliederung des Sozialen Organismus“
2. Jahrgang, Nr. 31, 5. Woche, 01.02.1921, S. 3–4
Bibliographische Notiz
ln steigendem Maße ist das oberschlesische Problem in einen Brennpunkt des europäischen Interesses gerückt. Die Zustände in dem Lande selbst sind immer unhaltbarer geworden und seine Zukunft liegt schwer in der Wagschale. Wie fasziniert ist alle Welt von der durch den Versailler Friedensvertrag gestellten Alternative: Deutschland oder Polen?, und man weiß, wieviel für die ganzen europäischen Nationalitäten-, Staaten- und Wirtschaftszusammenhänge von der Antwort unmittelbar abhängt, die das oberschlesische Land selbst auf diese Frage geben soll. Darüber hinaus aber ist es, als fühlte die Welt, daß diese Entscheidung noch weit mehr bedeuten kann und bedeuten müßte als nur gerade die Lösung der Frage: was wird aus den oberschlesischen Kohlen, aus den oberschlesischen Nationalitäten usw.?, daß vielmehr hier ein Punkt ist, an dem es sich entscheiden muß, ob überhaupt eine Lösung der so kompliziert und verworren erscheinenden Nationalitäten-, Wirtschafts- und politischen Fragen solcher Grenz- und Mischgebiete möglich ist. Vom Standpunkte der hier vertretenen Ideen der Dreigliederung des sozialen Organismus aus kann es nicht zweifelhaft sein, daß aus den alten überlebten Praktiken und Denkgewohnheiten eine Lösung dieser Frage nicht gefunden werden kann, wie ja auch diese Praktiken und Denkgewohnheiten selbst es waren, die statt zu einem ins Freie führenden Auswege in die Sackgasse der in Wahrheit innerlich unmöglichen und nur zu lauter neuen Konflikten führenden Versailler Alternative: Deutschland oder Polen? geführt haben, weil man eben gar nicht anders konnte als im Sinne des alten geistig-staatlich-wirtschaftlichen Einheitsfanatismus denken. Es ist demgegenüber bereits früher in dieser Zeitung (in Nr. 10 des zweiten Jahrganges) von einem Freunde der Dreigliederungsbewegung, der selbst in Schlesien wohnt [Ernst Umlauff] und daher aus einem unmittelbaren Miterleben der hier in Frage kommenden Verhältnisse über das oberschlesische Problem sprechen kann, mit Recht darauf hingewiesen worden, daß sich dieses Problem gar nicht in die Formel: Deutschland oder Polen? im Sinne der Einheitsstaatsidee zwängen läßt, daß es vielmehr in Wahrheit ein dreigliederiges ist, und daß eine wirkliche Lösung nur durch die Dreigliederung des sozialen Organismus möglich ist.
Aus solchen Einsichten heraus, welche aus der eminent praktischen und aktuellen Bedeutung der Dreigliederungsidee hervorgehen, sind nun seit einigen Wochen die schlesischen Freunde der Dreigliederungsbewegung angesichts der ungeheuren Wichtigkeit der oberschlesischen Frage für eine gesunde Weiterentwickelung der gesamten europäischen Verhältnisse dazu übergegangen, weiteste Kreise der oberschlesischen Bevölkerung zu einer Besinnung auf ihre wirkliche weltpolitische Lage und zu denjenigen Taten aufzurufen, die sich sachgemäß aus einer solchen Besinnung ergeben müßten. Sie sind mit einem „Aufruf zur Rettung Oberschlesiens“ an ihre oberschlesischen Landsleute herangetreten, in dem nach einer Darlegung des europäischen Charakters der oberschlesischen Frage darauf hingewiesen wird, daß diese Frage nur aus dem ganzen großen Zusammenhang einer wahrhaft zeitgemäßen Neugestaltung der europäischen Verhältnisse gelöst werden kann, von der die Welt ja heute noch weit entfernt ist, und daß deshalb bis dahin auch für Oberschlesien nur ein Übergangszustand gesucht werden könne. Diesen gelte es bewußt zu schaffen. Der Aufruf geht sodann auf den dreigliedrigen Charakter der oberschlesischen Frage ein und zeigt, wie gerade in Oberschlesien die Verhältnisse ganz besonders nach der Dreigliederung des sozialen Organismus als der einzig möglichen Lösung schreien. Nur durch eine Befreiung des Geisteslebens können die so brennenden Nationalitätenfragen Oberschlesiens, besonders in Schulwesen und richterlicher Rechtsprechung, gelöst werden, wenn die beiden Kulturen, die deutsche und die polnische, sich nebeneinander entsprechend ihren Lebenskräften entwickeln können, ohne daß die eine eine Vergewaltigung durch die andere zu befürchten hat, und ohne daß der politische Staat für die eine oder andere Partei ergreift. Und würde auch der Wirtschaftskreislauf in Oberschlesien vom Staatlich-Politischen losgelöst, so ließen sich die oberschlesischen Wirtschaftsfragen in die europäische Gesamtwirtschaft in sachgemäßer Weise eingliedern und durch Abkommen zwischen den Wirtschaftsfachleuten der beteiligten Länder lösen. Die Angliederung an einen der bestehenden Einheitsstaaten würde es nun aber den Oberschlesiern unmöglich machen, ihre Angelegenheiten in gesunder Weise, d. h. im Sinne der Dreigliederung zu regeln, und so gelangt der Aufruf zu der Forderung einer vorläufigen Ablehnung der Angliederung an einen angrenzenden Staat, bis dort selbst ein Verständnis für die Dreigliederung erweckt ist. Das Land soll sich solange in der Weise konstituieren, daß seine Wirtschaftsfaktoren wie auch seine geistigen Faktoren sich selbst verwalten, während ein Zusammenstimmen der beiden durch einen provisorischen rechtlich-polizeilichen Organismus bewirkt werden soll. Nach einem Hinweis darauf, daß ein solcher Zustand trotz seines vorläufigen Charakters als ein Musterbeispiel für die Maßnahmen, die ganz Europa zur Gesundung seiner Verhältnisse treffen muß, dienen kann, schließt der Aufruf mit einem Appell an die Einwohner Oberschlesiens, in dieser Weise die Dreigliederung durchzuführen.
In einer großen Reihe oberschlesischer Städte sind von den schlesischen Dreigliederern große öffentliche Versammlungen abgehalten worden, um diesen Ideen in der deutschen und polnischen Bevölkerung Eingang zu verschaffen. Sie haben allerorts lebhaftes Interesse dafür zu erwecken vermocht; namentlich in den gemischt-sprachigen und den besonders unter den sozialen Nöten der Zeit leidenden Gegenden hat die Dreigliederungsidee eine warme, verständnisvolle Aufnahme in weitesten Kreisen gefunden. Selbstverständlich haben sich die unvermeidlichen Ewig-Gestrigen, die Verfechter des rabiaten Nationalismus auf beiden Seiten, als Gegner der Idee hier wie überall erhoben, da sie wohl mit Recht fühlen, daß hier etwas im Anzug ist, das aus umfassendem europäischem Denken geboren über sie und ihre entwickelungsfeindliche Enge hinausschreiten will. Sie wollen eben nicht einsehen, daß, insoweit z. B. Deutschland in Frage kommt, gerade die vorgeschlagene Dreigliederungslösung des oberschlesischen Problems mehr als irgendeine andere eminent geeignet ist, die wahren Interessen Deutschlands sowohl in wirtschaftlicher Beziehung wie in nationaler und auch in staatlich-politischer Beziehung erst wirklich sicherzustellen. Erfreulicherweise war denn auch trotz solcher Gegnerschaft das Interesse in breiten Schichten der oberschlesischen Bevölkerung so groß, daß in fast allen Orten im Anschluß an die Versammlungen Arbeitsgruppen sich bildeten, die sich mit den gegebenen Anregungen weiter befassen und die Bewegung in immer weitere Kreise tragen wollen.
[Dreigliederung des Sozialen Organismus, 2. Jahrgang, Nr. 31, 01.02.1921, Seite 3]
So wird jetzt auf diesem heiß umstrittenen Felde, auf das die Augen der Welt gerichtet sind, gleichsam als an einem weltgeschichtlichen Musterbeispiel die Fruchtbarkeit des Dreigliederungsgedankens demonstriert; in der Phrasenflut unserer Tage, die insbesondere die Oberschlesier bis zum Überdruß satt haben, leuchtet hier eine Idee auf, die nur von den Menschen erfaßt und in das Wollen aufgenommen zu werden brauchte, um ihre gesundende Kraft in dem sozialen Chaos der Zeit zu bewähren. Möge daher der in Oberschlesien im Gang befindlichen Aktion ein voller Erfolg beschieden sein zum Heile der jetzt anscheinend so hoffnungslos zerrütteten Lage des Landes, zum Heile des deutschen und des polnischen Volkes und der gesamten Menschheit überhaupt! Dieser Erfolg kann dann nicht ausbleiben, wenn alle, die es angeht, sich ihrer Verantwortung gegenüber der ernsten weltgeschichtlichen Lage bewußt sind.
[Dreigliederung des Sozialen Organismus, 2. Jahrgang, Nr. 31, 01.02.1921, Seite 4]