Annalena und die wilden Tiere

09.03.2022

Corona-Virus

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Dieser Essay erschien erstmals in „Kernpunkte“, Jahrgang 5, No. 3 vom 20. März 2022.
Die Sonderausgabe zum Ukraine-Krieg mit Beiträgen von Dirk Pohlmann, Christian Kreiss u.a. kann hier als Print- oder Digitalausgabe erworben werden: https://kernpunkte.com

Von 2015 bis 2019 strahlte der ukrainische Sender 1 + 1 die Serie „Diener des Volkes“ aus und machte den Komiker Wolodymyr Selenskyi berühmt.[1] In der Satire spielt Selenskyi den Präsidenten der Ukraine. An Sylvester 2018 gab er überraschend bekannt, auch im wirklichen Leben Präsident werden zu wollen. Die neuzugründende Partei sollte wie die Fernsehserie „Diener des Volkes“ heißen. Aus Spiel wurde ernst – und schließlich Krieg. Ein Essay über die irre Mischung aus Fiktion und Wirklichkeit, die uns gegenwärtig in einen Atomkrieg zu stürzen droht – und ein Plädoyer für eine nüchterne Friedenstechnik, die Millionen Menschenleben retten könnte.

Ein Drehbuch für die Wirklichkeit

Die Ukrainer glaubten zunächst an einen Werbegag des Senders. Doch der Komiker meinte es ernst – mindestens so ernst wie Ihor Kolomojskyj, Produzent der Serie und Eigentümer der Medienanstalt. Der Oligarch wird mit zahlreichen Gewaltverbrechen in Verbindung gebracht[2] und kann als Hauptangeklagter im „größten Betrugsskandal des 21. Jahrhunderts“[3] derzeit nicht in die USA einreisen. Als ehemaliger Inhaber der ukrainischen „PrivatBank“ soll er unter anderem 5,5 Milliarden Dollar veruntreut haben, indem er die Gelder in ein eigenes Firmengeflecht transferierte und die Bank anschließend vom Staat „retten“ ließ.[4] Die von ihm finanzierten Todesschwadronen verfolgen, foltern und töten seit 8 Jahren Russen im Donbas. Kolomojskyj bezahlt „Kopfgelder“ und finanziert u.a. auch das Regiment Asow, das mit Hakenkreuz und SS-Kult rechtsradikale Hobby-Mörder aus ganz Europa in die Ost-Ukraine lockt.[5]

Der Oligarch, laut New York Times die „mächtigste Figur der Ukraine außerhalb der Regierung“,[6] verfügte über das nötige Kleingeld und die mediale Reichweite, um im Mai 2019 die vom Volk geliebte Präsidenten-Soap Wirklichkeit werden zu lassen. Der Coup gelang – die Ukrainer gaben dem Schauspieler Selenskyi die Rolle des echten Präsidenten. Nach der Wahl versuchte der Komiker, Gras über seine Herkunft wachsen zu lassen. Doch dann enthüllten die Pandora-Papers, wie tief der frisch gebackene Präsident über diverse Offshore-Konten bereits in die Geschäfte des Oligarchen verstrickt war.[7]

Außer dem Präsidenten sollen laut Wolodymyr Fessenko, Leiter der PENTA, etwa 30 weitere Regierungsvertreter und Abgeordnete Kolomojskyj „nahe stehen“.[8] Doch Korruption ist im „korruptesten Land Europas“[9] relativ. Der Europäische Rechnungshof berichtete noch im September 2021, dass eine Handvoll Oligarchen Staat und Wirtschaft untereinander aufgeteilt hätten und zusammen die faktische Regierung des Landes bildeten.[10] Ihor Kolomojskyj, der in seinem Büro Haie hält („um zu sehen, wie geschockt seine Gäste auf das Massaker reagierten“),[11] ist dabei keineswegs der dickste Fisch im Becken. Rinat Achmetow etwa dürfte doppelt so reich sein und besitzt die andere Hälfte der ukrainischen Medienwelt. Beobachter vermuten, dass der Präsident deshalb auch für Achmetow ein offenes Ohr hat.[12]

Beziehungsarbeit auf ukrainisch

Die Oligarchen kämpfen in der Ukraine gegeneinander um Macht und Einfluß und im Donbas auch konkret um Anteile u.a. an der Schwerindustrie. Das Hauptgeschäft aber machen sie mit dem Ringen zwischen NATO und Russland um die Vorherrschaft in der Region. Die EU bezahlte viele Milliarden Euro für die Gunst der Ukraine – der Großteil dieses Geldes dürfte auf Offshore-Konten der Oligarchen verschwunden sein. Medienberichten zufolge frisst die Korruption jährlich rund 32 Milliarden Euro auf.[13] Ihor Kolomojskyj genügt das jedoch nicht. Im November 2019 drohte er offen, dass sich die Ukraine wieder an Russland orientieren werde, falls der Westen nicht mehr Kohle rüberwachsen lasse. Im Interview mit der New York Times erklärte der „Unternehmer“ den verblüfften Journalisten: die Amerikaner „zwingen uns zum Krieg und geben uns nicht einmal das Geld dafür.“ Doch er kenne ein gutes Mittel für Beziehungsarbeit: „Wie lassen sich Probleme am schnellsten lösen und die Beziehung wiederherstellen? Nur mit Geld …“ Und dann spricht der heimliche Herrscher der Ukraine Klartext: „Wenn ich mich anschaue wie der ganze Rest der Welt, sehe ich mich selbst als Monster, als Puppenspieler, als Meister von Selenskyi, als jemand, der apokalyptische Pläne schmiedet – ich kann anfangen, das wahr werden zu lassen.“ Die Anti-Korruptionsmaßnahmen, die der IWF an Kreditvergaben knüpfen wolle, würden „tiefverwurzelte Geschäftsbeziehungen“ stören. Da nehme die Ukraine lieber die von den Russen gebotenen 100 Milliarden Dollar und trete einem neuen „Warschauer Pakt“ bei, so Kolomojskyj.[14]

Mit Beginn der russischen Invasion legte das Kanzleigericht Delaware das Verfahren gegen Kolomojskyj wegen Geldwäsche und Betrug auf Eis. Es seien Widersprüche zum ukrainischen Recht zu befürchten. Die Anklage vermutet, der Oligarch habe einen „Deal“ mit dem ukrainischen Präsidenten gemacht, wonach die ukrainische Regierung die mittlerweile verstaatlichte PrivatBank, immerhin die größte Bank des Landes, in den Privatbesitz des Oligarchen überführen werde – um „anhängige oder drohende Rechtsstreitigkeiten gegen Kolomoisky zu umgehen“.[15]

„Vereinnahmung des Staates durch Blöcke mächtiger Eliten aus Politik und Wirtschaft, die pyramidal strukturiert und in öffentlichen Einrichtungen und der Wirtschaft etabliert sind, wurde als Besonderheit der Korruption in der Ukraine festgestellt“, resümiert der Europäische Rechnungshof in seinem erst wenige Wochen alten Sonderbericht zur Lage in der Ukraine.[16] Und die Prüfer machen deutlich, dass das ukrainische Volk keineswegs bloß Opfer des organisierten Verbrechens ist. Vielmehr werde die Korruption „von weiten Teilen der Bevölkerung als quasi unumgänglich hingenommen. Bürgerinnen und Bürger begründen ihre Beteiligung an derartiger Kleinkorruption häufig mit der Feststellung, dass hochrangige Beamte und Oligarchen an Bestechung in weitaus größerem Ausmaß beteiligt sind.“

Spiel mit dem Feuer

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk, der soeben erfolgreich Finanzhilfen und schnelle Waffenlieferungen bei der Bundesregierung einwarb und nun gar das Eingreifen der NATO fordert, legte 2015 Blumen am Grab des NS-Kollaborateurs und Kriegsverbrechers Stepan Bandera nieder. Erst auf Anfrage durch die Linksfraktion nahm die Bundesregierung hierzu Stellung: „Der Bundesregierung ist ein Tweet des ukrainischen Botschafters bekannt, in dem er über seinen Besuch am Grab Banderas berichtet … Dem ukrainischen Botschafter ist unsere Position hierzu hinlänglich bekannt. Die Bundesregierung verurteilt die von der Organisation Ukrainischer Nationalisten, OUN, teilweise unter Leitung Banderas begangenen Verbrechen an polnischen, jüdischen und ukrainischen Zivilisten und Amtsträgern.“[17]

Was die Bundesregierung dagegen verschweigt, kann man bei Wikipedia nachlesen: „Vor allem im Westen der Ukraine wird Bandera heute von breiteren Bevölkerungsschichten als Nationalheld verehrt, dort gibt es auch Hunderte nach ihm benannte Straßen, viele lebensgroße Statuen und Büsten, einige monumentale Denkmäler sowie mehrere Museen zu seinen Ehren … Das Simon-Wiesenthal-Zentrum verurteilte die Ehrung und wies darauf hin, dass Bandera Mitschuld am Tod von Tausenden Juden trage.“[18]

Stepan Bandera wurde von der pro-westlichen Regierung der Ukraine 2010 posthum der Titel „Held der Nation“ verliehen, die höchste Anerkennung des Landes. Das geschah nicht ganz zufällig: Die ukrainischen Faschisten versuchten 1941, sich aus der erstickenden Umarmung Russlands zu befreien, indem sie sich den vorrückenden Nazis nützlich machten. „Der Einheit und Unabhängigkeit der Ukraine sollten alle übrigen politischen Ziele untergeordnet werden. Erreicht werden sollte dieses Ziel mit „Unmoralität“, d. h. durch Bündnisse mit ausnahmslos jedem Gegner Großrusslands.“[19] Die heutige „Demokratiebewegung“ in der Ukraine versucht nun ihrerseits, im Schatten der vorrückenden NATO einen eigenen Nationalstaat aufzubauen. Deshalb sehen sowohl die ukrainischen Nationalisten als auch Putin hier eine Parallele zur Geschichte – nur Annalena Baerbock kann sie nicht erkennen, weil die NATO ja nicht Hitler ist.

Für Stepan Bandera endete der Versuch, mit Hilfe der Feinde Russlands zu einer nationalen Identität zu finden, tödlich. Als sie ihn nicht mehr brauchten, warfen die Nazis ihn ins KZ. Nach der Befreiung durch die Alliierten übernahmen dann die USA die Finanzierung der OUN. Mit Unterstützung des CIA errichtete Bandera in München ein Exil-Zentrum für die ukrainischen Faschisten, bis ihn 1959 der russische Geheimdienst aufspürte und ermordete.[20]

Den wahren Machthabern der Ukraine kann die tragische Geschichte ihres Nationalhelden egal sein. Sie gewinnen immer, ob sie den Deal nun mit den USA oder mit Russland machen. Demokratie, Nationalstolz oder SS-Romantik – sie bedienen stets diejenigen Stimmungen und Gefühle, die ihnen gerade nützlich scheinen. Und ihnen stehen dazu die gesamte Medienlandschaft, sämtliche Wirtschaftszweige und der korrupte Staatsapparat der Ukraine zur Verfügung. Dass Ihor Kolomojskyj aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde ist, mag deshalb zwar ein theoretischer Widerspruch zu seinem Engagement für Nationalisten, Ultra-Rechte und Anti-Semiten sein – jedoch kein praktischer. Dem Oligarchen geht’s ums große Ganze.

Die rote Linie

Die Atommacht Russland äußerte unmissverständlich, dass die USA und Europa dabei seien, eine „rote Linie“ zu überschreiten. In Belarus hätten die USA 2021 mit deutscher Hilfe einen Staatsstreich versucht. Die Kämpfer seien aus der Ukraine gekommen. Außerdem versuche die Ukraine, das vom Energie-Export existenziell abhängige Russland in einen Krieg auf dem Donbas zu verwickeln, um Deutschland zum Abbruch des Pipeline-Baus zu bewegen. Die Ukraine sei in der Hand von korrupten Oligarchen, die rechtsradikale Strömungen finanzierten. Es käme zu Übergriffen auf Russen, die russische Sprache würde verboten. Man sei in größter Sorge wegen des öffentlich geäußerten Plans der ukrainischen Regierung, sich Atomraketen zu besorgen und der NATO beizutreten. Wenn der Westen jetzt nicht Halt mache, werde dies Konsequenzen haben.

Damit keine Missverständnisse darüber aufkommen konnten, welche Konsequenzen er meinte, ließ Putin ein riesiges Heer an der ukrainischen Grenze aufmarschieren. Jetzt lag der Ball beim Westen. Genauer gesagt: bei Deutschland, denn der Standpunkt der USA war klar: Russland solle bitte „ein bisschen“ einmarschieren.[21] Spätestens diese befremdliche Einlassung des US-Präsidenten hätte deutsche Politiker hellhörig machen müssen. Doch Deutschland übte gerade den Machtwechsel – und verlor darüber den Kopf. Grünen-Chef Robert Habeck ließ sich mit Stahlhelm an der Frontlinie im Donbas ablichten,[22] und Annalena Baerbock erzählte überall, dass sie als erste Amtshandlung den Pipeline-Bau stoppen und Putin mal so richtig die Meinung sagen wolle.[23]

In dem durch Wirtschaftssanktionen schwer geschädigten Russland wuchs die Angst. Eilig legte man den Westmächten einen Vertrag vor, der vorsah, dass „alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Gefahr des Ausbruchs eines Krieges zwischen Atomwaffenstaaten zu vermeiden.“[24] Baerbock erzählte derweil der taz, dass Deutschland mehr atomwaffenfähige Bomber brauche,[25] und wiederholte unentwegt, dass sie Russland gravierenden wirtschaftlichen Schaden zufügen wolle.[26] Da griff Kanzler Scholz ein. In einem Moment geistiger Wachheit hatte er offenbar erkannt, dass Deutschland seinen letzten Trumpf, die Pipeline, jetzt auf keinen Fall verspielen dürfte.[27] Die Rechnung der USA kam prompt: Biden demontierte Scholz vor laufender Kamera. Keine Sorge, die USA werde Deutschland mit teurem Flüssiggas versorgen.[28] Die deutschen Wähler, nach zweijähriger Corona-Verwirrung offenbar völlig entrückt, feierten Scholz dafür und riefen: mehr davon, mehr! Gebt dem ukrainischen Komiker die Atombombe, tretet Putin in den Arsch!

Der Angriff auf die Ukraine mag grausam sein – irrational, wie die westlichen Medien glauben machen wollen, ist er nicht. Spätestens nach der gemeinsamen Pressekonferenz von Biden und Scholz erkannte Putin, dass Deutschland von der Weltbühne abgetreten war, um eine Statisten-Rolle in einem us-amerikanischen B-Movie zu spielen. Ab sofort würde Russland direkt mit dem Chef der Deutschen zu verhandeln haben – und sich hierfür in die bestmögliche Ausgangsposition bringen müssen. Die Hoffnung, die USA in ihre Schranken zu weisen, mit Europa zusammenzufinden und sich so vor China schützen zu können, war endgültig gestorben. Das russische Volk würde unter das Dach des roten Drachen kriechen müssen. Die Grenze zwischen den USA und China wurde nach Osteuropa verschoben, denn die ausgleichende Mittelmacht hatte sich selbst abgeschafft. Das ist die Kriegsursache.

Wollen wir den totalen Krieg?

Ist Putin also bloß ein Getriebener der äußeren Umstände? Ist der Angriff auf die Ukraine gar zu „rechtfertigen“? Wer dies aus obigen Ausführungen schließt, hat den Ernst der Lage nicht begriffen. Ob der russische Präsident ein „Verbrecher“ ist oder ob sein Handeln umgekehrt gar „gerechtfertigt“ werden kann (vor wem eigentlich?), das sind moral-philosophische Fragestellungen. Für das äußere Geschehen sind sie ohne jede Relevanz. Wer solchen Fragen nachgeht, beweist unmittelbar, dass sein Mitgefühl mit den Kriegsopfern Heuchelei ist und er sich in Wahrheit nur für sich selbst interessiert. Thomas Fischer, ehemaliger vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, versucht dies in einem bemerkenswerten Spiegel-Beitrag zu verdeutlichen: „Der Krieg in der Ukraine wird nicht nach Maßgabe des Rechthabens entschieden. Ob der russische Angriff dem Völkerrecht widerspricht und ein Verbrechen ist, spielt nur dann eine Rolle, wenn es eine Macht gibt, die dieses Recht durchsetzen kann, also eine überwältigende, größere Gewalt. Eine solche gibt es in Gestalt des militärischen Potenzials der Nato, besser gesagt: der USA. Das Problem ist, dass das Einsetzen dieser Gewalt die Frage, wer »Recht« hat, final unbedeutend machen würde, weil es zur Vernichtung ganz Europas und erheblicher weiterer Teile der Welt führen würde.

Damit sind wir in einem Bereich gelandet, der für Menschen unangenehm ist, die sich im warmen Nest des Rechthabens geschützt fühlen möchten. In diesem Bereich geht es um Politik, Staatskunst und Verhältnismäßigkeit. […] Mit höchster Wahrscheinlichkeit wird die Ukraine diesen Krieg verlieren. Daran ändern weder das Rechthaben noch das Mitleid etwas … Wollen wir wirklich die Ukrainer darin bestärken, ihre junge Generation in den Heldentod zu schicken? Deutsche Leitmedien, die vom nahenden »Häuserkampf« der Zivilbevölkerung gegen die russische Armee schwadronieren? […] Man kann sagen (manche sagen es), die Ukraine solle das Vietnam Russlands werden. Das ist eine überaus zynische Einladung Dritter zu unvorstellbarem Leid.“[29]

So spricht ein Zeitgenosse, der sich mutig dem Schrecken dieser Stunde entgegenstellt. Wie dagegen der eitle Rückzug in die eigenen Seelen-Untiefen klingt, der weite Teile der deutschen Öffentlichkeit erfasst hat, demonstrierte dieser Tage ausgerechnet Jost Schieren, Vorstand der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen und Dekan der Alanus-Universität: „Was soll ich tun? Was kann ich tun? Meine Antwort lautet: Kill Putin! – ein Aufruf zum Tyrannenmord. […] Wer die Chance dazu hat und Putin nicht tötet, begeht unterlassene Hilfeleistung. Aber wer kann Putin töten? Wo sind die Geheimdienste der Welt, die jetzt handeln können? […] Kill Putin ist ein Aufruf, eine Aktion und eine Botschaft, die jetzt durch die Welt gehen muss, der sich viele Menschen anschließen, die auf Tafeln stehen und die anstelle von Peace-Fahnen aus Fenstern wehen, als Bumpersticker auf Autos kleben und einen Hashtag bilden: #killputin. Es ist keine emotionalisierte Hassbotschaft, es ist nicht Aggression gegen den Aggressor, dieser Aufruf ist vielmehr rationales Kalkül der Menschlichkeit: Bevor noch weitere tausende von Menschen in Not kommen und sterben, soll ein einzelner sterben. Kill Putin!»[30]

Wo der Schulungsweg beginnt

„Ukrainer und Ukrainerinnen sind von Natur aus eine Mischung aus Anarchisten und Demokraten“, behauptet Yaroslava Black-Terletska, gebürtige Ukrainerin und Priesterin der Christengemeinschaft in Köln. „Das ist eine lustige Mischung: Die Menschen der Ukraine lieben es nicht, wenn jemand über sie regiert, über sie als ein Fremder bestimmt. Da nehmen sie lieber mit einem eigenen Präsidenten Vorlieb, und sei er dumm oder korrupt.“[31] Ich finde das überhaupt nicht lustig. Ich glaube aber Frau Black-Terletska, dass die Ukrainer von Natur aus Demokraten sind, genau so, wie ich den deutschen Demonstranten glaube, dass sie blau-gelbe Einstecktücher für ein Friedenssymbol halten. Ich glaube aber auch, dass die meisten Russen mit dem, was aktuell geschieht, genauso viel oder wenig zu tun haben wie der durchschnittliche Ukrainer oder Deutsche.

Wer die wahre Gesinnung der Angehörigen verschiedener Völker untersucht, wird nur Edles zu Tage fördern. Doch mit der äußeren Wirklichkeit haben derlei Gesinnungsfragen erstmal nichts zu tun. Über alle Länder hinweg sind die Menschen vereint im Streben nach einem gemeinsamen, großen Ideal. Dem steht die Wirklichkeit entgegen. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob die Ukrainer „für Demokratie“ oder die Deutschen „für Frieden“ sind, sondern ob es gelingt, von der ideellen Bestimmung der „eigenen Position“ auf das Feld zu wechseln, auf dem die Wirklichkeit spielt. Dieses Feld wird gegenwärtig von den Kolomojskyjs dieser Welt beherrscht. Warum eigentlich? Was machen die Oligarchen anders als die friedensbewegten Menschen in Ost und West?

Sie sehen vom Inhalt der jeweiligen Gesinnung, der „Freiheit“ des Westens, dem russischen Panslawismus oder dem Nationalismus der Ukrainer ganz ab und betrachten derlei Phänomene nur insofern, als sie äußerlich wirksame Kräfte sind. Mit der äußeren Wirklichkeit, nicht mit subjektiven Inhalten arbeiten diejenigen, die wirklich Einfluß nehmen. Wenn die Deutschen beispielsweise mit der russischen Führung über Menschenrechte reden wollen, haben sie „Menschenrechte“ im Kopf. Sie fokussieren sich auf einen Inhalt – und übersehen die äußere Tatsache, dass sie eben mit der russischen Führung darüber reden möchten. Diese Tatsache wirkt, nicht der Inhalt des Kopfes. Und zwar wirkt sie so, dass die russische Führung angewidert ist von der Arroganz der Deutschen und dementsprechend weniger empfänglich wird für die Idee der Menschenrechte. Die politisch wirksame Außenseite der deutschen „Meinung“ ist das genaue Gegenteil ihres Inhalts. Und für diese Tatsachen-Ebene haben die großen „Player“ ein Gespür.

Die Mächtigen unterscheiden sich von den Ohnmächtigen darin, dass sie subjektive Innen- und objektive Außenwelt nicht miteinander verwechseln. Dem Wahlvolk wird eingebläut: auf die Inhalte kommt's an. In Wahrheit sind subjektiv empfundene Inhalte bedeutungslos. Vermeintliche Friedensaktivisten in der ganzen Welt sind derzeit damit beschäftigt, den Angriff Putins „zu verurteilen“, ihre „Solidarität mit der Ukraine“ zu bekunden und irgendwie „für Frieden“ zu sein. Sie geben dabei ungeniert zu, den Angriff auf die Ukraine „nicht verstehen“ zu können; ja gebrauchen „Putin-Versteher“ und neuerdings auch „Russland-Versteher“ gar als Schimpfwort. Der Grad der Naivität fungiert dabei als Masstab für den moralischen Status der eigenen Person: wer Putin versteht, dem muss es an Mitgefühl für die Kriegsopfer mangeln. Hieran zeigt sich, was diesen Friedenstaumel in Wahrheit antreibt: der Krieg ist eine Gelegenheit, sich mit Mitgefühl für die Opfer und Hass gegen die Täter zu durchglühen – und sich darin selbst zu erleben.

Wer Putin dagegen zu verstehen sucht, fühlt deshalb nicht weniger mit den Opfern. Er glaubt nur nicht, dass das eigene Mitgefühl bereits die weltbewegende Tatsache ist, auf die es allein ankommt. Er bildet sich einfach weniger auf sich selbst und den eigenen moralischen Standpunkt ein. Statt „für den Frieden“ zu sein, möchte er Frieden verwirklichen. Er möchte, dass das Töten real aufhört. Auf „welcher Seite“ er deshalb in der virtuellen Kartographie der richtigen Meinungen verortet wird, ist ihm gleich. Er weiß nämlich, dass die Außenseite dieser Friedensbewegung der Krieg ist.

Der große Verlierer heißt Europa

Viele Europäer waren vom Angriff auf die Ukraine offenbar tatsächlich überrascht. Sie können sich bis heute nicht erklären, wie es dazu kommen konnte. Mit dem Überfall habe ein unzurechnungsfähiger Diktator sein eigenes Land in eine ausweglose Lage gebracht, glauben sie. Russland könne die weltweite Isolation wirtschaftlich nicht überleben; die Not der Bevölkerung werde letztendlich zur Entmachtung Putins führen. Der Krieg sei also auch im Hinblick auf die Interessen der russischen Führung ein fürchterlicher Fehler – „Cäsar“ müsse geisteskrank sein.

Diese Karikatur ist in zweifacher Hinsicht irreführend: Auf der einen Seite verschleiert sie die Gründe für den russischen Angriff und damit diejenigen Kriegsursachen, an denen der Westen unmittelbar beteiligt war und ist. Auf der anderen Seite aber ist Putin weder verrückt noch alleine – und deshalb in Wahrheit viel gefährlicher, als die westlichen Medien glauben machen wollen.

Vielleicht sollten die Europäer mal einen Atlas zur Hand nehmen. Das unendliche Land, an welches Europa gewissermaßen dran gehängt ist, das ist Russland. Fruchtbares Land, mit einer einzigartigen Besonderheit: es versorgt seine Bewohner. Die Wirtschaft Russlands ist, anders als die europäischer Länder, noch weitgehend eine Selbstversorgerwirtschaft und entsprechend unabhängiger von der Weltkonjunktur. Bereits 2014 antwortete der „Irre aus Moskau“ auf die westlichen Sanktionen mit einem Verbot von Agrarimporten – zum „Schutz nationaler Interessen“.[32] Zu diesem Zeitpunkt bezog Russland immerhin noch 30% seiner Lebensmittel aus dem Ausland. Dank der Sanktions-Spirale ist es heute autark – und größter Getreidexporteur der Welt.[33]

Auch in anderen Bereichen begann die russische Führung unmittelbar nach der Krim-Krise damit, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, auf weitere „Provokationen“ des Westens mit einem Militärschlag reagieren und dies wirtschaftlich überleben zu können.[34] Natürlich geht die russische Bevölkerung jetzt schweren Zeiten entgegen. Die Chips chinesischer Hersteller arbeiten langsamer, ein Fake-iPhone trifft auch nicht jedermanns Geschmack und deutsche Luxus-Limousinen sind in Russland mittlerweile unerschwinglich. Aber das russische Volk kann Entbehrungen aushalten. Wenn es sein muss, auch für Jahrzehnte. In Deutschland dagegen könnten schon minimale Preisschwankungen das labile Gleichgewicht der „sozialen Marktwirtschaft“ in eine gefährliche Schieflage bringen. Mit weniger Auto fahren, wie manche glauben, lässt sich der innere Frieden auch nicht lange aufrechterhalten. Die Energiepreise treiben alle anderen Preise. Die Getreide-Knappheit tut ihr Übriges, auch indirekt durch Unruhen bei Bündnispartnern, zunehmenden Flüchtlingsströmen usw. Das heißt aber: Rechts gewinnt, Europa bricht auseinander.

Auch die USA sind heute in den wichtigsten Bereichen wie z.B. Energie und Grundnahrungsmittel autark. Europa dagegen bleibt abhängig. Dass die USA ihren „europäischen Freunden“ deshalb etwas schenken werden, ist eher unwahrscheinlich. Der Finanzmarkt steht vor einem Kollaps. Wahrscheinlicher ist also, dass die USA in Europa ihre faulen Kredite begraben werden.

Putin war nie klarer im Kopf als jetzt. Jahrzehnte hatte er vergeblich darauf gehofft, von den Europäern als Europäer gesehen zu werden – auch aus Furcht vor der chinesischen Dominanz. Sein Russland sollte in Europa, nicht in Asien liegen. Am 24. Februar 2022 gab er auf. Der Angriff auf die Ukraine war zugleich die radikale Grundsatzentscheidung des „russischen Zaren“, dem Sanktions-Druck des Westens nachzugeben und sich nach Asien zu wenden. Mit diesem grausamen, aber strategisch genialen Schachzug manövrierte er Russland aus der Defensive. Anstatt zu warten, bis der nächste Günstling Washingtons vom Gift-Becher trinkt[35] und Russland neue Sanktionen beschert, konfrontierte Putin die Europäer mit ihrer eigenen Zerbrechlichkeit. Jetzt muss Europa zuhören – oder einen Weltkrieg beginnen.

Nur Habeck glaubt immer noch, Putin nicht verstehen zu müssen: Der grüne Wirtschaftsminister will lieber ganz schnell, nämlich "in Tesla-Geschwindigkeit", die Energiewende vorantreiben.[36] Könnte er im Tesla (und mit Stahlhelm?) vielleicht tatsächlich schneller nach Washington kommen als die AfD an die Macht? Der Klimaschützer muss sich jedenfalls sehr beeilen. Denn sein Flitzer braucht – wie Windräder, Smartphones und Kampfjets – seltene Erden. Das weltweit größte Vorkommen liegt in China. Das zweitgrößte in Russland.[37]

Johannes Mosmann, 09. März 2022

Anmerkungen

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Diener_des_Volkes_(Fernsehserie)
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Ihor_Kolomojskyj. Siehe auch: https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/299569/kommentar-der-gewachsene-einfluss-von-ihor-kolomojskyj/
[3] https://www.manager-magazin.de/finanzen/privatbank-wie-das-groesste-geldhaus-der-ukraine-dem-krieg-trotzt-a-9f97fb52-1656-44d2-abc7-20a4db76d159
[4] https://www.spiegel.de/ausland/usa-verhaengen-sanktionen-gegen-ukrainischen-oligarchen-igor-kolomoiski-a-58dfdfe5-96ae-4d9d-ab38-75265f0e338c
[5] https://www.sueddeutsche.de/politik/kolomoisky-praesidentschaftswahl-in-der-ukraine-selensky-1.4418172?reduced=true.
iehe auch: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/ukraine-konflikt-im-zdf-hakenkreuz-und-ss-rune-protest-von-zuschauern/10685462.html
Und: https://www.spiegel.de/ausland/asow-regiment-wagner-soeldner-radikale-die-neonazis-die-um-die-ukraine-kaempfen-a-662b9c42-d874-4a49-844d-b80c4f96e474
[6] https://www.nytimes.com/2019/11/13/world/europe/ukraine-ihor-kolomoisky-russia.html
[7] https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/256/offshore-geschaefte-selenskyj-und-kolomojskyj-in-den-pandora-papers/
[8] https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/ostblogger/ukraine-oligarch-kolomojskyj-100.html
[9] https://www.spiegel.de/panorama/korruption-in-der-ukraine-die-kampfansage-a-1096878.html
[10] https://www.eca.europa.eu/de/Pages/DocItem.aspx?did=59383
[11] https://www.addendum.org/ibiza/straches-schillernder-oligarch/
[12] https://ukraineverstehen.de/zajaczkowski-awakow-machterhalt-mit-allen-mitteln-teil-2/
[13] https://orf.at/stories/3229706/
[14] https://www.nytimes.com/2019/11/13/world/europe/ukraine-ihor-kolomoisky-russia.html
[15] https://www.law360.com/articles/1470420/ukraine-s-privatbank-gets-chancery-filing-delay-due-to-war
[16] https://www.eca.europa.eu/de/Pages/DocItem.aspx?did=59383
[17] https://dserver.bundestag.de/btp/18/18102.pdf#P.9775
[18] https://de.wikipedia.org/wiki/Stepan_Bandera
[19] https://de.wikipedia.org/wiki/Organisation_Ukrainischer_Nationalisten
[20] https://de.wikipedia.org/wiki/Stepan_Bandera
[21] https://www.tagesanzeiger.ch/ein-bisschen-darf-putin-in-die-ukraine-einmarschieren-425420779503
[22] https://www.focus.de/politik/ausland/habeck-eckt-mit-vorstoss-fuer-waffenlieferungen-in-die-ukraine-an_id_13330764.html
[23] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article234587878/Nord-Stream-2-Baerbock-hat-einen-klaren-Blick-auf-Putins-Ambitionen.html
[24] https://develop.ostinstitut.de/files/de/2021/Ostinstitut_Vertrag_zwischen_der_RF_und_den_USA_über_Sicherheitsgarantien_OL_2_2021.pdf
[25] https://taz.de/Annalena-Baerbock-ueber-Aussenpolitik/!5819421/
[26] https://www.merkur.de/politik/gruenen-kanzlerkandidatin-annalena-baerbock-russland-aussenminister-heiko-maas-china-seidenstrasse-nawalny-90475975.html
[27] https://www.merkur.de/politik/ukraine-scholz-baerbock-putin-gruene-habeck-russland-usa-nord-stream-2-zr-91213260.html
[28] https://www.ardmediathek.de/video/phoenix-vor-ort/antrittsbesuch-scholz-bei-biden/phoenix/Y3JpZDovL3Bob2VuaXguZGUvMjUwMjA0Mw
[29] https://www.spiegel.de/panorama/ukraine-krieg-gas-und-oel-aus-russland-olaf-scholz-hat-recht-kolumne-a-bf8a5981-a91d-4dda-a537-af65146ee8a8
[30] Der Beitrag war ursprünglich hier zu finden und wurde nach Protesten mittlerweile zurückgezogen: https://info3-verlag.de/blog/killputin/
[31] https://dasgoetheanum.com/es-geht-um-die-mitte/
[32] https://www.n-tv.de/politik/Putin-verbietet-Agrarimporte-article13379716.html
[33] https://laender-analysen.de/russland-analysen/375/der-aufstieg-russlands-zum-weltweit-groessten-weizenexporteur-bedeutung-fuer-den-globalen-getreidehandel/
[34] https://www.zeit.de/wirtschaft/2014-07/sanktionen-russland
[35] Putin behauptet bis heute, Nawalny habe sich selbst vergiftet. Da die westlichen Behörden ihre Berichte schwärzten und wichtige Untersuchungsergebnisse nach wie vor unter Verschluss halten, wird der Fall wohl nie aufgeklärt werden. Ich persönlich kann daher keine These ausschließen: denkbar ist ein Anschlag Putins, des Westens, Krimineller oder eigener Leute. Darüber diskutiert werden kann kaum, da bereits Zweifel an der Schuld Putins auf Betreiben der EU-Kommission von den Digitalkonzernen als Fake-News identifiziert und zensiert werden müssen, siehe hier: https://www.dreigliederung.de/files/download/essays/2020-10-johannes-mosmann-corona-virus-mit-kuenstlicher-intelligenz-gegen-den-freien-geist.pdf
[36] https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/habeck-energie-importstopp-ukraine-krieg-russland-100.html
[37] https://institut-seltene-erden.de/russland-will-den-abbau-seltener-erden-foerdern/