Die politische Position der Anthroposophischen Gesellschaft

02.03.2018

Liebe Leser,

Im Zusammenhang mit dem Kongress „Soziale Zukunft“ in Bochum im Juni 2017 wurde eine „Bochumer Erklärung“ erarbeitet und veröffentlicht, die mehrere anthroposophische Verbände und die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland unterzeichneten. In der Erklärung wurden mehrere konkrete politische Forderungen formuliert, u.a. die Einführung eines Grundeinkommens. Sie war im „Fahrtwind“ des Kongresses aus dem Anliegen heraus entstanden, sich angesichts der schwierigen Verhältnisse unserer Zeit deutlicher als bisher in die Gestaltung des (politischen) Lebens einzubringen.

Die Unterzeichnung der „Bochumer Erklärung“ durch die Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland als solche, stieß bei vielen Mitgliedern auf Unverständnis bzw. Ablehnung. Sie fühlten sich mit ihrer individuellen politischen Ansicht vereinnahmt.

Wir haben vom Arbeitskollegium der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland Verständnis für den geäußerten Unmut über die Erklärung und bitten um Entschuldigung für die „Vereinnahmung“. Im Folgenden drucken wir einen Artikel von Johannes Mosmann, Mitarbeiter im Institut für Dreigliederung in Berlin, der sehr deutlich, konstruktiv und klar zur Sprache bringt, wie eine politische Position der AG sich gestalten kann und wie nicht.

Benjamin Kolass

 

Die politische Position der Anthroposophischen Gesellschaft

Angesichts der dramatischen Zuspitzung der Weltlage wächst innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft das Bedürfnis, einen Beitrag zur Lösung der sozialen Frage zu leisten – umso mehr, da man mit der Idee der sozialen Dreigliederung bereits eine Antwort zu besitzen glaubt. Noch handelt es sich um vereinzelte Äußerungen und Versuche, aber es besteht Grund zur Hoffnung, dass die AG sich zu einem Träger eines weit in die Welt hinausstrahlenden sozialen Impulses entwickeln könnte. Allerdings wird dieser Impuls nur dann die gewünschte Wirkung entfalten können, wenn zuvor das Verhältnis zwischen AG und äußerem sozialem Leben vollkommen durchschaut wird. Unterbleibt diese Klärung, wirkt derselbe Impuls tatsächlich zerstörerisch auf das soziale Leben und gefährdet zugleich die Existenz der Anthroposophischen Gesellschaft.

Wie real diese Gefahr ist, zeigt die Tatsache, dass die Anthroposophische Gesellschaft soeben eine Kampagne mit dem Namen „Zukunft Jetzt!“ gestartet hat [1], in welcher eine ganze Reihe politischer Forderungen (Einführung des Grundeinkommens, Senkung der Lohnsteuer, Abgaben auf CO2-Austoß usw.) an die Bundesregierung gerichtet werden. Auch wenn ich mich mit dem Berliner Institut selbst für eine soziale Dreigliederung einsetze, so bin ich dennoch bestürzt über diesen Vorstoß. Dass m.E. inhaltlich gesehen nahezu jede der gestellten Forderungen in einem Widerspruch zum anthroposophischen Sozialimpuls steht [2], spielt dabei keine Rolle, denn ich hielte eine politische Positionierung der AG auch dann für einen Fehler, wenn sie inhaltlich im Einklang mit der sozialen Dreigliederung stünde.

Entscheidend für die Wirksamkeit einer sozialen Idee ist nicht allein ihr Inhalt, sondern auch das Verhältnis zum sozialen Leben, in welches man sich durch den Einsatz für die Idee selbst begibt. Nun ist aber das Verhältnis, welches der moderne Mensch zunächst zum sozialen Leben einnehmen kann, bestimmt durch die ihm eigentümliche Seelenverfassung. Ein wesentlicher Aspekt dieser Seelenverfassung ist, dass sich für sie jede Idee als Scheingebilde ausnimmt. Der moderne Mensch erlebt eine Idee grundsätzlich als „Innenleben“, und Natur und Gesellschaft demgegenüber als „Außenwelt“. Will er also einen Zusammenhang zwischen Innenleben und Außenwelt herstellen, so wird er die Idee als „Name“ für äußere Vorgänge verstehen, oder die Außenwelt entsprechend einrichten wollen, das heisst, die Idee „anwenden“, „einführen“ usw. Das soziale Leben wird somit als „System“ vorgestellt, welches die menschlichen Handlungen durch „Gesetze“, „Regeln“ usw. zu einem sinnvollen Ganzen zusammenführt. Folgerichtig läuft jedes soziale Bemühen letztlich darauf hinaus, eine demokratisch legitimierte Obrigkeit für die „Umsetzung“ vermeintlich besserer Ideen zu gewinnen.

Die Idee der sozialen Dreigliederung handelt von der Überwindung dieser Perspektive: Nicht die Idee sozialisiert, sondern der Mensch selber. Sie kann niemals, weder ganz noch in Teilen „eingeführt“ werden. Aber sie kann eine Wirkung auf die Seele desjenigen entfalten, der sie durchdenkt. Dieser entwickelt durch sie die Fähigkeiten, den sozialen Organismus als einen objektiv-geistigen Zusammenhang empfinden zu lernen und die individuelle Handlungsweise daran zu orientieren. Sie ist also weder Name, noch Programm für die sich unseren äußeren Sinnen gebende soziale Umwelt, sondern Hinweis auf eine zunächst verborgene Seite derselben. Indem sie so Mensch für Mensch durch die Erkenntnis des sozialen Organismus erobert, kann sie, auf dem Umweg durch das Ich, in eine soziale Bewegung münden. Allerdings nur dann, wenn nicht partielle Forderungen aus ihr abgeleitet werden, sondern sie als Ganzes durchdrungen und innerlich lebendig gemacht wird.

Die Idee der sozialen Dreigliederung hat somit grundsätzlich den selben Charakter wie jeder andere Inhalt der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft. Die Natur von der mineralischen Welt bis zum Menschen herauf als einen Wirkungszusammenhang geistiger Kräfte erleben zu können, ist tägliche Übung innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft. Die geistige Welt endet aber nicht mit dem natürlichen Einzelmenschen, sondern setzt sich fort als „soziales Leben.“ Die AG wird zu zeigen haben, wie die soziale Frage als eine geistige Frage verstanden werden muss, damit wirklich praktische Einrichtungen erfolgen können. Wahr ist, dass sie bislang nicht die Wege gefunden hat, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Daraus folgt aber gerade nicht, dass sie sich nun in die Tagespolitik stürzen, sondern vielmehr, dass sie sich auf sich selbst besinnen sollte. Die praktische Frage im Hinblick auf das aktuelle Zeitgeschehen lautet aus Sicht der Anthroposophischen Gesellschaft nicht: wo können wir im sozialen Leben mitmischen, sondern vielmehr: was ist das soziale Leben in Wahrheit? Wie können wir Prozesse moderieren, durch welche partei- und religionsübergreifend das Verständnis dafür wächst, was in der Gegenwart tatsächlich geschieht?

An guten, sozialen Ideen mangelt es nicht, daran mangelt es am allerwenigsten! Was fehlt, ist das soziale Leben selber, das Objekt, an welchem der gute Wille ansetzen könnte. Denn dieses Objekt ist für die oben skizzierte Seelenverfassung gar nicht gegeben. Für die Wirtschaftswissenschaft z.B. ist die Wirtschaft ein Wunder, weil sie grundsätzlich nicht erklären kann, wie aus dem zufälligen Aufeinanderprallen egoistischer, wahrnehmungsmäßig voneinander entkoppelter Iche ein die Welt überspannender Zusammenhang entsteht, der wiederum gewissen Gesetzmäßigkeiten zu gehorchen scheint. Sie hat deshalb die Wahl, entweder bei der Anerkennung eines Wunders stehen zu bleiben und den Staat zu verpflichten, die Unantastbarkeit des wunderbaren Geschehens zu überwachen (Neoliberalismus), oder aber die Wirtschaft nach sozialen Ideen zu organisieren (Sozialismus) und dabei freilich den wirtschaftlichen Niedergang in Kauf zu nehmen. Dasselbe beim Rechtsleben: entweder, man verallgemeinert das persönliche moralische Empfinden, oder aber man versteht Recht positivistisch und leitet es vom Verfahren ab: Recht ist, was nach den einmal als rechtmäßig definierten Regeln (direkte Demokratie, repräsentative Demokratie, Diktatur, Kalifat usw.) als Gesetz beschlossen wurde. Und auf dem Gebiet des Geistes- und Kulturlebens: dass sich in den „Stellvertreterkriegen“ der Gegenwart Ost und West als unerbittliche Feinde gegenüberstehen, bleibt ein Rätsel, solange man sich den Gegensatz nur als ökonomischen Interessenskonflikt oder als Streit um die „richtige“ Ideologie erklären kann.

Das praktische Leben stößt heute überall an die Grenze zur geistigen Welt. Und hier sollte ihm die Anthroposophische Gesellschaft entgegenkommen. Mit der oben skizzierten Seelenverfassung ist die Praxis nämlich gar nicht zu fassen. Erst eine Haltung, die in sozialen Ideen mehr sehen kann als „Programme“ oder „Wertvorstellungen“ für eine vermeintlich an sich bestehende Außenwelt, die vielmehr den Geist von der (scheinbar subjektiven) Ideologie bis hin zum (scheinbar äußeren) Warenwert verfolgt, wird praktische Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart finden können. Dass die Menschheit über die ganze Erde hin ein Organismus ist, dass durch die Milliarden Iche der Einzelmenschen hindurch ein einziges Wesen wirksam ist und als dreigliedriger sozialer Organismus Gestalt annehmen will, muss sich vom dunklen Fühlen zu einem klaren Wissen von Wesen und Aufgabe der Menschheit weiterentwickeln, und zwar so, dass die Wirksamkeit dieses Wesens in den konkreten Einzelerscheinungen des sozialen Lebens aufgezeigt werden kann.

Dann beginnt das soziale Leben allmählich durchsichtig zu werden, was wiederum die Angriffspunkte für das soziale Wollen offenlegt und verschiedenste individuelle Initiativen ermöglicht. Ob diese Angriffspunkte dort liegen, wo sie die Unterzeichner der genannten Kampagne sehen, darüber kann man sich streiten. Es spricht jedenfalls nichts dagegen, dass Mitglieder der AG ganz unterschiedliche oder auch gegensätzliche Konsequenzen aus der geisteswissenschaftlichen Durchdringung der sozialen Frage ziehen – solange sie dies nicht im Namen der Anthroposophischen Gesellschaft tun. Ziehen Sie die Konsequenzen nämlich als Vertreter der AG, verhindern sie damit die umfassende Sozialisierungsmassnahme, welche die Anthroposophische Gesellschaft selbst ist: Dass Menschen aus den unterschiedlichsten Lebensverhältnissen, Kulturzusammenhängen oder politischen Lagern zusammenfinden, weil sie die soziale Frage als eine geistige Frage zu erleben beginnen und ihr individuelles Verhältnis hierzu bestimmen möchten.

Der Moment des Erwachens für die sozialen Nöte der Gegenwart ist ein gefährlicher Augenblick im Leben der Anthroposophischen Gesellschaft. Diese Gesellschaft existiert nämlich von Anfang an nicht anders denn als freies Geistesleben. Die Mitglieder der AG verbindet keine gemeinsame Ideologie, sondern die freie Begegnung im individuellen Ringen um geistige Erkenntnis. Sofern sie sich so versteht, ist die Anthroposophische Gesellschaft als solche bereits eine soziale Initiative, die zur „Transformation“ der Gesellschaft beiträgt. Durch den Verzicht auf jede politische Positionierung und die Selbstbeschränkung darauf, dem Einzelnen zu einem individuellen, selbstbestimmten Verhältnis gegenüber einer als objektiv-geistig erlebten sozialen Wirklichkeit zu verhelfen, kann sie eine nie dagewesene Wirkung auf das soziale Leben entfalten. Redet sie dagegen Parteimeinungen das Wort, ganz gleich, wie einleuchtend oder akzeptiert diese sein mögen, grenzt sie Menschen aus und macht sich zum Spielball der Polarisierungen „öffentlicher“ Meinungen. Damit verliert sie beides: sich selbst und ihren gesellschaftlichen Einfluss.

Wenn immer mehr Menschen den umgekehrten Weg gehen, das heisst, aus ihren sozialen Zusammenhängen heraustreten und sich jenseits politischer, religiöser oder sonstiger Einteilungen in ihrem allgemeinmenschlichen Suchen begegnen und damit beginnen würden, das Politische als solches zu überwinden, wäre das die umfassendste und wirksamste politische Aktion, welche die Welt je gesehen hat. Praktische Initiativen, natürlich auch politische Kampagnen, könnten sich anschliessen und selbstverständlich auch von den selben Menschen betrieben werden, die in der Anthroposophischen Gesellschaft geistig zusammenwirken. Ja, das wäre gerade das Revolutionäre, dass es dieselben Menschen sind, die einerseits in der Praxis stehen, und andererseits auf neutralem Boden um geisteswissenschaftliche Erkenntnis dieser Praxis ringen.

Johannes Mosmann, www.dreigliederung.de

Anmerkungen

[1] Vgl. ›Soziale Zukunft jetzt! Aufruf zur Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft‹ – https://weact.campact.de/p/sozialeZukunftjetzt

[2] Siehe dazu den ersten Teil meiner Artikelserie „Das Grundeinkommen: Pathologie und Wirkung einer sozialen Bewegung“ in der Februarausgabe der Zeitschrift „Die Drei“, bestellbar unter diedrei.org

Veröffentlichung

Mitteilungen der anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, 3/2018, S. 22-23