Die Befreiung des Bildungswesens als gesellschaftliche Notwendigkeit

Vom 3. bis 6. Oktober 2013 veranstaltet die Freie Bildungsstiftung an der Universität Witten/Herdecke einen Kongress zum Thema «Die Befreiung des Bildungswesens als gesellschaftliche Notwendigkeit». Jens Wernicke sprach mit den Initiatoren der Veranstaltung.

Frau Steinkellner, Herr Brunner, ihr Kongress proklamiert es als Notwendigkeit, das Bildungswesen zu «befreien». Wie meinen Sie das?

Thomas Brunner: Zuerst einmal geht es um die Befreiung von der Illusion, es wäre möglich, eine menschliche Kultur mit den Prinzipien eines mechanistischen Weltbildes zu organisieren. Am deutlichsten zeigt sich diese Illusion im heutigen staatlichen Bildungsmonopol: Jeder einzelne aufwachsende Mensch soll nach generellen Standards zentral erfasst und gelenkt werden. Dass, was bei der Konstruktion einer leblosen Maschine funktioniert, ist für die Gestaltung eines Entwicklungsraumes eigenwilliger Individuen jedoch kontraproduktiv. Dass das wiederum so wenig zu Bewusstsein kommt, liegt daran, dass sich individuelle Fähigkeiten trotz dieses Systems entwickeln. Mit Abstand betrachtet ‚funktioniert‘ das gegenwärtige Schulsystem jedoch schon lange nicht mehr: Es entlässt permanent nahezu zehn Prozent funktionaler Analphabeten, es betreibt eine ungerechtfertigte soziale Selektion, der Einsatz von Ritalin – um Kinder ruhig zu stellen - ist in den letzten Jahren bedenklich in die Höhe geschnellt, der Lehrerstand gehört zu den Berufen mit den höchsten Burn-Out-Quoten etc. Schon Hölderlin formulierte in seinem Hyperion die schönen Sätze:

«Du räumst dem Staate denn doch zu viel Gewalt ein. Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann. Was aber die Liebe gibt und der Geist, das lässt sich nicht erzwingen. Das lass er unangetastet, oder man nehme sein Gesetz und schlag es an den Pranger! Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.»

Doch Hölderlin, wie auch die anderen Bildungsbefreier Pestalozzi, Schiller oder Humboldt verstauben heute als Klassiker im Bücherschrank. Stattdessen ist bereits das 19. Jahrhundert der national-wirtschaftlichen Utopie Johann Gottlieb Fichtes gefolgt, wie er sie in seiner Schrift «Der geschlossene Handelsstaat» entworfen hatte. Das heißt, Bildung wird nicht mehr primär als Feld individueller Entwicklung und Fähigkeitsbildung verstanden, sondern der Staatsbürger wird konditioniert, den national-wirtschaftlichen Zielen zu dienen. Die EU als Bildungsraum ist dabei nur die Erweiterung dieser Konzeption. Der Anachronismus dieser staats-wirtschaftlichen Bildungsausrichtung in Zeiten weltweiter Arbeitsteiligkeit und wirtschaftlicher Zusammenarbeit, zeigt sich nicht allein im zunehmenden Kollabieren der staatlichen Haushalte.

Ich verstehe nicht recht. Sie wollen das Bildungssystem also von der Notwendigkeit, Individuen zu normieren, «befreien»? Wie sollte das gehen?

Clara Steinkellner: Zuallererst wollen wir mit dem Kongress zum Gespräch über «die Bildungsfreiheit als gesellschaftliche Notwendigkeit» einladen. Damit ist ein pädagogischer ebenso wie ein gesamtgesellschaftlicher Paradigmenwechsel verbunden. Es geht uns jedoch nicht darum, mit neuen Vorschlägen am bestehenden Bildungssystem herumzubasteln, sondern darum, einen öffentlichen Reflexions- und Visionsraum zu schaffen, in dem Menschen, die sich seit längerem und in unterschiedlichen Kontexten mit Fragen der «Bildungsfreiheit» beschäftigen, zu Wort kommen und sich gegenseitig ergänzen können.

Es geht uns darum, die Perspektive einer radikalen Selbstverwaltung des Bildungswesens zu erörtern und sie unvoreingenommen auf ihre Zukunftsfähigkeit hin zu prüfen. Unsere Vision sind zivilgesellschaftlich selbstverwaltete Bildungslandschaften, die dezentral und bottom up gestaltet werden, und die sich dem normierenden Staat genauso wie der vereinnahmenden Wirtschaft aktiv gegenüberstellen. Wie das konkret und genau aussehen wird, hängt auch von den Menschen ab, die jeweils vor Ort ihre Bildungsinitiative gestalten. Wichtig ist uns, Phantasie für die Vielfalt der Möglichkeiten, Bildungsräume zu gestalten, zu entwickeln.

Die Befreiung des Bildungswesens bedeutet für uns dabei ausdrücklich nicht die Entsolidarisierung der Gesellschaft, sondern im Gegenteil ein Weg zu mehr bürgerschaftlicher und demokratischer gesellschaftlicher Verantwortung. Die Ökonomisierung des Bildungswesens sehen wir selbst als ein großes Problem der aktuellen Entwicklungen. Ungut «privat» im Sinne exklusiver Vorrechte ist Bildungsfreiheit aber gerade dann, wenn sie nicht rechtlich für alle gesichert ist, sondern von privatwirtschaftlichen Faktoren abhängt, wenn sie also durch Geldmacht erkauft werden kann.

Zivilgesellschaftlich selbstverwaltete Bildungslandschaften also? Was genau meinte das denn? Lokale Bündnisse, die entscheiden, wie Lehrpläne aussehen, wer und unter welchen Bedingungen Lehrkraft werden kann, welche Kinder die Schule besuchen dürfen etc. pp.? Das klingt aber sehr nach einer Pädagogik der Ungleichheit… Wie sollten ohne Reglementierungen denn sonst gleiche Chancen für alle hergestellt werden?

Clara Steinkellner: Sich tatsächlich eine «zivilgesellschaftliche Selbstverwaltung» vorzustellen, ist zugegebenermaßen nicht leicht. Vorbilder sind rar. Aber es gibt sie, sogar Wilhelm von Humboldt gründete seine Universität ausdrücklich als Bürgeruniversität – und musste schon wenige Jahre darnach konstatieren, dass die Universität «mehr als verloren» sei, da sie sich der preußische König als sein Prestigeobjekt gegriffen und gleich einige Professoren, darunter Fichte, abgesetzt hatte.

Ansonsten: Lokale Bündnisse klingt gut, wobei ja nicht gesagt ist, dass es keine überregionalen, ja transnationalen Vernetzungen geben kann. Ich habe in meinem Buch 300 Seiten gebraucht, um dem Thema einigermaßen gerecht zu werden. Es ist ein fulminanter Paradigmenwechsel, der erst einmal die Grundfragen neu stellt: Wozu lernen wir? Warum müssen die Lehrpläne so zentralistisch gemacht werden? Wer hat die Schulfächer erfunden, brauchen wir die noch? Ist die Schule, so wie wir sie kennen, überhaupt der beste Art, Lernen zu organisieren? Was bedeutet Chancengleichheit? Impliziert nicht gerade unser Begriff von Chancengleichheit auch die Praxis des «Rassismus der Intelligenz», wie der große französische Soziologe Pierre Bourdieu es nannte, dass wir also sagen: «Es tut mir Leid, Du hattest Deine Chance, aber Du hast den Abschluss dennoch nicht geschafft, Du musst Dich also mit den schlecht bezahlten Jobs zufriedengeben»?

Es geht ja beim Projekt der Befreiung der Bildung auch um eine Humanisierung der Wirtschaft. Selbstverantwortung statt Systemzwang, heißt es in beiden Fällen. Wozu das Ganze? Das müssen wir uns doch immer mehr fragen.

Eine meiner Freundinnen ist Familientherapeutin, und die erzählte neulich: Wenn es Zoff gibt zwischen Eltern und Kindern, geht es in 9 von 10 Fällen um die Schule, und den Druck, der von dieser ausgeht. Die Eltern setzen die Kinder zusätzlich unter Druck, verlieren den Kontakt zu ihnen, und warum? Weil die Angst so groß ist: Wenn mein Kind den Abschluss nicht schafft, bekommt es keinen Job! Dabei brauchen wir heute mutige Menschen, die ihre selbstgesetzten Ziele verfolgen und in die vielfältigen globalen Probleme als Herausforderung an ihre kreativen Problemlösungsfähigkeiten betrachten, und keine ängstlichen Vorgabenerfüller!

Meine Überzeugung ist inzwischen: Es kann eigentlich nur besser werden, wenn man den direkt Betroffenen mehr Gestaltungsfreiraum gibt. Erwin Wagenhofers neuer Film «Alphabet», der im November auch in die deutschen Kinos kommt, wird diesbezüglich hoffentlich einiges bewegen. Beim Bildungskongress in Witten wollen wir jedenfalls versuchen, diese Fragen sozialwissenschaftlich und pädagogisch auszuleuchten.

Gut. Hand aufs Herz, Frau Steinkellner, und abschließend nur noch mit Ja oder Nein geantwortet: In den lokalen Bildungslandschaften, wie Sie sich diese wünschen:

Soll es da noch feste Lehrpläne oder anderweitig außerhalb der Schule selbst bestimmte Bildungsziele geben?

Nein.

Werden da zivilgesellschaftliche Akteure vor Ort deutlich an Einfluss in Bezug auf Bildung gewinnen?

Ja, aber überregional müssen wir selbstverständlich für eine neue Einkommensgerechtigkeit sorgen, was wiederum auch eine staatliche Aufgabe ist.

Wird Schule da auch finanziell mehr und mehr durch vor Ort vorhandene Engagements unterstützt?

Ja, das eröffnet auch ganz neue Synergien und Gestaltungsmöglichkeiten.

Entscheiden die Bildungseinrichtungen selbst, wen Sie einstellen und wie diese Personen zu bezahlen sind?

Ja, was jedoch staatlich geregelte Mindestlöhne nicht ausschließt.

Soll es da noch Noten geben und welchen Sinn erfüllen diese?

Nein, aber es sollen neuen Konzepte der Beurteilung verwendet werden, die längst erprobt sind oder vorbereitet in den Schubfächern liegen. Die schriftliche Beurteilung der Waldorfschulen, der «Kompetenzbaum», den die bayrische Grundschullehrerin Sabine Czerny ausgearbeitet hat, Portfolio-Modelle als Abschluss-Mappe. Insgesamt geht es um mehr direkte Kommunikation und Vielfalt.


Thomas Brunner, langjähriger Waldorfpädagoge, freischaffender Künstler, diverse Veröffentlichungen im Kontext "Kunst und soziale Frage", Initiator der Freien Bildungsstiftung.

Clara Steinkellner, Studium der Internationalen Entwicklung an der Universität Wien, 2012 Veröffentlichung der Diplomarbeit "Menschenbildung in einer globalisierten Welt - Perspektiven einer zivilgesellschaftlichen Selbstverwaltung unserer Bildungsräume", lebt in Berlin.


Das Programm des Kongresses findet sich hier im Internet: www.freiebildungsstiftung.de/kalender/WH_Programm.pdf