Freies Geistesleben I-II

01.06.1994

I

Für ein tieferes Verständnis der umfassenden kulturellen und sozialen Verfallserscheinungen, an denen die gegenwärtige Welt leidet und die sie in die ungeheuren, gefahrdrohenden Krisen hineingetrieben haben, ergibt sich klar, daß diese gegenwärtige Welt primär und fundamental an der Ohnmacht und dem Versagen des Geisteslebens krankt.

Jeder auf die soziale Wirklichkeit gerichtete Blick in die Ver gangenheit der Menschheitskulturen zeigt dies. Einst im alten Orient, aber in anderer Art auch im alten Westen blühte, von Priestern und Priesterkönigen mit absoluter Machtfülle verwaltet, im engsten Zusammenhang mit dem alten Mysterienwesen ein lebensvolles, im höchsten Maße produktives Geistesleben, Quell allen sozialen Lebens auf allen Gebieten: nicht nur des geistig religiösen im engeren Sinne, sondern auch dessen, was damals Recht war, und der Wirtschaft. So war alles eine große Einheit aus der Vollkraft des geistigen Lebens, in das unmittelbar die Impulse geistiger Welten befruchtend und dirigierend einströmten.

Dieses geistige Leben der alten Theokratien war aber alles andere als frei. Der einzelne Mensch war noch in keiner Weise erwacht, er fühlte sich nicht als Individualität, sondern träumte im großen Bewußtseinsschlummer der Gruppenseele, als Glied die ser durch das gemeinsame Blut gebildeten Gemeinschaften: der Großfamilie, des Stammes, des Volkes.

So gehen damals Hand in Hand äußerste Produktivität des Gei steslebens und äußerste Unfreiheit der einzelnen Menschen.

Der weitere Verlauf der Entwicklung läßt nach und nach beides sich vermindern: Die Fruchtbarkeit des Geisteslebens nimmt ab, und nach und nach erwacht das Bewußtsein des einzelnen Men schen, um im weiteren Verlauf ständig mehr hervorzutreten.

Beides wurde auf einer nächsten Stufe der geschichtlichen Entwicklung deutlich, als zunächst das politisch-rechtliche Element in relativer Selbständigkeit zu dem älteren des geistig-religiösen, sakralen Lebens hinzutrat, in den Kulturen der Griechen und Römer. Damit erstarkte im Bürgerbewußtsein besonders des "civis romanus", des römischen Bürgers, das Ego des einzelnen Menschen, und mit der politisch-rechtlichen Gewalt trat eine solche hervor, die mit der älteren theokratisch-sakralen rivalisierte und deren Allmacht aufhob.

An das werdende Ich des einzelnen Menschen wandte sich zentral die allerneuernde Kraft des Christus, der sich in diesem Zeitalter Mensch werdend mir der Erde verband. Zwischenformen zwischen dem eminenten Zukunftsimpuls des Christentums und den überkommenden Kulturinhalten und -impulsen entstanden. So kam es im Abendland zu der kirchlich geleiteten Kultur der romanisch-germanischen Völker des Mittelalters. Noch immer war da das Geistesleben in hohem Maße produktiv, den Menschen geistig-seelisch sozial tragend, zugleich ihn autoritativ führend und leitend.

Vom Ende des Mittelalters an aber geriet diese Kultur des Abendlandes nach und nach in die Dekadenz (im Orient erhielt sich das Alte viel länger mit einer großen Konstanz), wie im gleichen Maße das Selbstbewußtsein des einzelnen Menschen zu erstarken begann und dieser sich immer kraftvoller der physischsinnlichen Welt zuwandte, an ihr erwachte Naturwissenschaft begründete, das rationelle Denken des Intellekts ausbildete und bald immer konsequenter anzuwenden begann. In all dem lagen, zuerst in den Städten gepflegt, die Wurzeln des modernen Wirtschaftslebens, später gewaltig hochgetrieben durch die moderne Technik; im Laufe der "Neuzeit" trat sie immer mehr in den Vordergrund, um schließlich zu der allbeherrschenden Macht zu werden, in deren Dienst der Mensch geriet und von der er in der Gegenwart vollends in seinem Menschtum verschlungen zu werden im Begriffe und sogar physisch vernichtet zu werden (Atombombe!) in Gefahr ist. - Im Zuge dieser Entwicklung hat das Geistesleben als von innen her sozial aufbauender Faktor der menschlichen Gesellschaft an Kraft rapide abgenommen. Jahrhundertelang zehrte es immer mehr nur noch von alten Traditionen, die aber in der Gegenwart vollends am Erlöschen sind. So verlor es seine alte Kraft, für die der Intellektualismus keinen Ersatz bieten konnte, der sie vielmehr nur ständig mehr aushöhlte.

In dem gleichen Maße, wie es schwächer wurde und gerade weil es dies wurde, geriet das Geistesleben unter die Macht des Staates, der sich als typische Sozialform des materialistischen Bewußtseins in den neueren Jahrhunderten mächtig entwickelte, und bald eben auch unter die Macht der Wirtschaft, in den Dienst beider tretend. (Das ist das für die Neuzeit charakteristische Phänomen der Verkehrung von Mitteln und Zweck.) Schon Luther mußte seine von ihm rein religiös gemeinte Reformation, in der der Freiheitsimpuls des menschlichen Ich lebte, politisch auf die deutschen Territorialfürsten und deren egoistische politisch- wirtschaftlichen Interessen stützen und trug dadurch zu einer erheblichen Verstärkung dieser neueren staatlich-wirtschaftlichen Mächte bei, zugleich aber zu einer Schwächung des religiösen Impulses. ("lrreligiöserweise", sagt Novalis, wurde "die Religion in Staatsgrenzen eingeschlossen.")

Dadurch kam es zwar zu einem Stück Befreiung von der als überlebt empfundenen alten kirchlichen Herrschaft, die dem sich entwickelnden freiheitlich-individuellen Bewußtsein des modernen Menschen nicht mehr Rechnung tragen konnte. Aber mit der weitgehenden Abhängigkeit des Geisteslebens vom Staate, seiner mit ihr Hand in Hand gehenden Verintellektualisierung, die den Tod in das trug, was einmal viel seelenvoller und lebenswärmer gewesen war, verlor es immer mehr seine menschentragende Kraft. Wir haben es also in dieser ganzen Entwicklung mit einem Doppelten zu tun, das im Sinne eines circulus vitiosus in einer Wechselwirkung steht:

1. Das von innen heraus schwächer gewordene alte Geistesleben verfällt der Herrschafts des Staates und der Wirtschaftsmächte.
2. Die Herrschaft von Staat und Wirtschaft über das Geistesleben schwächt dieses ständig weiter, so daß es immer weniger seine notwendige Funktion gegenüber dem sozialen Organismus zu erfüllen vermag. Es läßt ihn, können wir sagen, geistig-moralisch "verhungern".

Was dabei, d.h. an all den viele Jahrhunderte währenden Absterbeprozessen des alten sozialen Lebens sich entzündend ständig wuchs, war das Selbstbewußtsein und das Freiheitsstreben und -erleben des einzelnen Menschen, bis schließlich auch dieses in der Gegenwart durch die Übergewalt der mechanisierenden Mächte bei einem Großteil der Menschen mangels innerer Gegenkraft wieder verschlungen zu werden begonnen hat und in dem durch diese hervorgerufenen Massenwesen unterzugehen droht.

Und doch kann nur in dem sich selbst bewußt in seiner Geistigkeit erfassenden und die Impulse der geistigen Welten in sich aufnehmenden Menschen-Ich und seinem freien, auf das soziale Leben gerichteten Tun der Ausgangspunkt jedweder Erneuerung ergriffen und von da aus z.B. jener circulus vitiosus durchbrochen werden, - in dem neuen Zeitalter, das aus seinen tiefsten Wesenskräften, aus der Auferstehungskraft, die in der Menschheit waltet, eine solche Spiritualisierung und Aktivierung des Menschen-Ichs möglich macht, fordert und in ihnen seinen wahren Sinn findet gegenüber allen anderen Tendenzen der Gegenwart.

Freies Geistesleben kann daher fundamental als diejenige Art des aus seinen eigenen Voraussetzungen heraus sich gestaltenden und verwaltenden Geisteslebens verstanden werden, durch die allein unsere gegenwärtige Kultur zu der Erneuerung aus den IchKräften der Menschen heraus gelangen kann, ohne die sie nur dem universellen Kulturtod verfallen könnte.

II

Unmittelbar vom Wesen des Menschen aus betrachtet - und welche Betrachtung könnte grundlegender sein! - hat das Geistesleben im sozialen Organismus es ganz und gar zu tun mit den individuellen Anlagen und Fähigkeiten des einzelnen Menschen. (Dazu gehören natürlich auch die körperlichen.) Der Mensch bringt sich seine individuellen Anlagen und Fähigkeiten als Frucht seines individuellen vergangenen Schicksals, d.h. seiner früheren Erdenleben aus der geistigen Welt durch die Geburt mit in die Erdenwelt herein. Das Geistesleben ist innerhalb des sozialen Organismus funktionell die Stätte, wo diese individuellen Anlagen durch Erziehung und Unterricht (und Selbsterziehung!) ausgebildet und wo sie in Freiheit angewendet und ausgelebt werden müssen. Insofern kann alles Geistesleben im umfassendsten Sinne als etwas verstanden werden, das wie ein Glanz von den übersinnlichen Welten (der "Präexistenz") in die physisch-sinnliche Welt hereinstrahlt, an den höheren Wesensursprung des Menschen gemahnend. (1)

Polar das Entgegengesetzte trifft auf das Wirtschaftsleben zu, insofern dieses die Aufgabe hat, die physischen Bedürfnisse des Menschen in möglichst rationeller und zweckmäßiger Weise zu befriedigen. Von der Art, wie dies geschieht, ob im Geiste der Brüderlichkeit, wie es sein sollte, oder in einem anderen Geiste, etwa der Gesinnung des Egoismus oder der Ausbeutung, also: von ihrem menschlich- moralischen Ertrag hängt es ab, was, wie hinausstrahlend vom Wirtschaftsleben in das nachtodliche Leben der Menschen, im weitesten Sinne zukünftiges Schicksal des Menschen und der Menschen-Gemeinschaften begründet. (2)

Zwischen Wirtschaft und Geistesleben in der Mitte steht ausgleichend das Rechtsleben. Es hat ganz und gar nur mit dem Dasein des Menschen zwischen Geburt und Tod zu tun, wo die Menschen, wie wir es ausdrücken können, einander ihre leibliche Außenseite (im weitesten Sinne genommen) zuwenden. Der Rechtsstaat hat den leiblich verkörperten Menschen zu schützen und seine äußeren Beziehungen zu allen anderen Angehörigen der bürgerlich Gemeinschaft zu ordnen, in einer für alle in gleicher Weise geltenden Art. Der Rechtsstaat ist daher der Boden, auf dem die Menschen als Gleiche sich gegenüberstehen, nicht insofern sie individuelle Wesen sind, wohl aber, insofern alle Individuen sind! Der Schutz durch das Recht bezweckt, daß jeder sein irdisches Dasein sinnvoll und menschenwürdig führen könne. Auch dem Geistesleben gegenüber hat der Staat die Aufgabe, es zu schützen und seinen Angehörigen (d.h. letzten Endes wieder allen Menschen) die verfassungsmäßigen bürgerlich Freiheitsrechte zu garantieren, welche die äußeren Voraussetzungen dafür sind, daß das Geistesleben seine Aufgabe erfüllen kann.

Mit dem Wesen des Rechts hängt als notwendige Methode zusammen das Nivellierende, Gleichmacherische der Gesetze als solcher, die, für alle Bürger geltend, nicht unmittelbar dem Individuellen der Menschen Rechnung tragen können. Auch muß das Recht unmittelbar mit der nötigen Macht ausgestattet sein, um im Bedarfsfalle durch Gewalt gegen Widerstrebende, Rechtsbrecher oder sonst unterentwickelte Menschen (die sich nicht in der Gewalt haben) durchgesetzt werden zu können.

Wenn nun aber diese auf ihrem eigenen Gebiet und in ihren Grenzen notwendige und wohltätige Dynamik des Rechtsstaates das Geistesleben unmittelbar ergreift und es sich unterwirft, durch machtmäßiges Nivellieren und dgl. - zum Beispiel um durch die staatlichen Schulen den politischen Machthabern genehme Gesinnungen der Untertanen heranzuzüchten -, dann wird der so seine Grenzen überschreitende Staat zum Feind des Geisteslebens. Er lähmt ab, stört oder zerstört dessen wahres, im Individuellen des zur Freiheit strebenden Menschen begründetes Wesen.

Man kann auch sagen: Der Rechtsstaat als der sozial bestehende "Fürst dieser Welt" darf nicht Herrscher sein über das Geistesleben, insofern dieses seinem wahren Wesen nach nicht "von dieser Welt" (wiewohl für sie!) ist, sondern in jenen vorgeburtlichen Geistessphären urständet und die Verbindung des Menschen mit ihnen zu pflegen hat.

Die Aufgabe der Wirtschaft gegenüber dem Geistesleben ist es, ihm physisch seine Existenz zu ermöglichen durch, exakt genommen, "Geschenke" - man könnte auch sagen: Opfer -, aus der Einsicht in die Notwendigkeit des Geisteslebens und dem Vertrauen in die Fähigkeiten der in ihm Tätigen. (Diese Einsicht und dieses Vertrauen gehören selbst zu dem individuellen Walten des Geisteslebens. Der Schenkende nimmt insofern dadurch selbst an ihm teil.)

Reißt aber umgekehrt das Wirtschaftsleben die Macht über das Geistesleben an sich, stellt es dieses in seinen Dienst, dann muß es sein Wesen im tiefsten Sinne pervertieren. Die Wirtschaft macht notwendigerweise alles, was in ihr zirkuliert, zur Ware. Das dürfen die Leistungen des Geisteslebens nicht sein. Die Wirtschaft wohnt als Gesetz der Opportunismus inne, da sie auf äußere Zwecke gerichtet ist. Geistesleben als Mittel zum Geldverdienen als solches erniedrigt, Kommerzialisierung des Geisteslebens verfälscht es.

Wenn gar Staat und Wirtschaft eine Art Condominium über das Geistesleben ausüben, dann wehe diesem und dem auf sein gesundes Funktionieren angewiesenen sozialen Organismus! Es ist zugleich eine Art langsamer, schleichender Selbstmord von Staat und Wirtschaft, denn beide brauchen zu ihrer gesunden Entwicklung die Dienste, die das freie Geistesleben ihnen zu leisten hat, indem es ihnen ein Maximum an individuellen Fähigkeiten der durch das Geistesleben herangebildeten Menschen liefert, um mit diesen Fähigkeiten den ganzen sozialen Organismus zu "emähren .

(Fortsetzung)

Anmerkungen

(1) Vgl. Karl Heyer: Esoterische Grundlagen und Aspekte der sozialen Dreigliederung. Hinweise Rudolf Steiners. In: Karl Heyer: Wer ist der deutsche Volksgeist? 2. Auflage, Basel 1991.
(2) ebd.


Quelle: Beiträge zur Dreigliederung, Anthroposophie und Kunst, Heft 40/41, 1994. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers. Ursprüngliches Erscheinungsdatum unbekannt.