Ethischer Individualismus und Dreigliederung des sozialen Organismus
Individuelle und gesellschaftliche Aspekte der Freiheitsfrage

01.06.1988

Quelle
Zeitschrift „info3“
Info3, 6/1988, Juni 1988, S.3-10
Bibliographische Notiz und Zusammenfassung

Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis der Erbin des Autors

„Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sich viele Menschen ... gar nichts anderes vorstellen können, als daẞ bei ... freier Gestaltung der menschlichen Verhältnisse im geistigen Gliede des sozialen Organismus nur anarchische Zustande innerhalb desselben sich ergeben müßten. Wer so denkt, der weiß eben nicht, welche Kräfte der innersten Menschennatur dadurch an ihrer Entfaltung verhindert werden, daß der Mensch in die Schablonen hinein entwickelt wird, die ihn vom Staats- oder Wirtschaftsleben aus formen. Solche Kräfte der innersten Menschennatur können ... allein dadurch (entfaltet werden), daß Menschenwesen auf Menschenwesen in völliger Freiheit wirkt“. [1] Rudolf Steiner deutet in diesen Sätzen aus einem Leitartikel für die Wochenschrift ‚Dreigliederung des sozialen Organismus‘ (1919) auf zwei verschiedene, aber eng zusammenhängende Lebenstatsachen hin. Es gibt, so unterstellt die Formulierung, erstens ein ‚geistiges Glied des sozialen Organismus‘ zweitens einen Teil der ‚innersten Menschennatur‘ der allein im Zustand ‘völliger Freiheit‘ zur Entfaltung kommen kann. Dies zu ermöglichen, ist eine Aufgabe der Gestaltung der menschlichen Verhältnisse im sozialen Organismus. An gleicher Stelle wird jedoch betont, die bezeichneten „Kräfte der innersten Menschennatur“, die aus sich heraus freie Verhältnisse fordern, könnten „nicht durch Einrichtungen entfaltet werden“. Vielmehr sei anzustreben „ein Zusammenwirken von Menschen ... ‚ das ganz auf den freien Verkehr und die freie Vergesellschaftung von Individualität zu Individualität begründet ist“, nämlich so, daß „in keine vorbestimmte (Hervorh. H.K.) Einrichtung ... da die Individualitäten hineingezwängt (werden)“. [2] Es wird sich im Folgenden darum handeln, den erwähnten beiden Voraussetzungen, die Steiner macht, nachzuspüren und zu prüfen, inwiefern wir einem Bereich des individuellen und gesellschaftlichen Lebens, für den ‚keine Einrichtungen‘ im Sinne von Vorbestimmungen taugen, doch so

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gegenübertreten können, daß durch ihn der soziale Gestaltungswille aufgerufen wird. Die Verwirklichung individueller Freiheit ist keine positive politische Aufgabe, d.h. sie kann durch Politik nicht eingelöst, sondern ‚nur` verhindert werden. Darüber hat es unter klar denkenden Demokraten und Sozialisten nie Zweifel gegeben. Was bedeutet aber demgegenüber ‚freie Vergesellschaftung von Individualität zu Individualität‘ als Zielperspektive im Rahmen eines Konzeptentwurfs sozial-evolutionärer Architektur?

,Freiheit im (oder: für das) Geistesleben` ist ein Schlüsselbegriff in der Sprache des anthroposophischen Sozialimpulses. Wie alle Schlüsselbegriffe befindet sich auch dieser in der Gefahr inflationärer Abnutzung, d.h. er entwickelt sich zur Redensart mit fortschreitendem Bedeutungsschwund. Man findet in der Alltagssprache viele ehemals bedeutungsvolle, durch Popularisierung ausgeleierte und vom ursprünglichen Sinn abgekoppelte Begriffe. Wenn jemand achselzuckend sagt: ‚Alles ist relativ`, hat das, was er zum Ausdruck bringen will, weder mit dem physikalischen noch mit dem philosophischen Relativitätsbegriff irgendetwas zu tun. Jean Jacques Rousseau, der Philosoph der ‚volonté générale‘, des kollektiven ‚Gemeinwillens` unterhalb egoistischer Einzelbestrebungen, wäre erschüttert, wenn er hören musste, wie heute alle Welt gedankenlos daherplappert: ‚Der Staat, das sind wir ... Nicht daß es mit dem ‚freien Geistesleben` schon so weit wäre – der Terminus ist noch kaum aus dem anthroposophischen Milieu ausgebrochen aber die Tendenz ist unverkennbar. Wer darauf aufmerksam werden will, kann leicht finden, daß ‚freies Geistesleben` unter Steiner-Anhängern vielfach in der (schon alarmierend reduzierten) Bedeutung von Freiheit zur Abhaltung von Tagungen und Kongressen, Freiheit zur Gründung von Privatschulen oder Studienstätten, Freiheit zur Verbreitung anthroposophischer Schriften usw. verwendet wird. Hier wird nicht eigentlich Falsches behauptet, aber die Simplifizierung einer zentralen und durchaus denkerisch anspruchsvollen Idee durch Herauslösung derselben aus ihrem philosophischen und sozialwissenschaftlichen Kontext ist unschwer zu erkennen. Wäre die Sache nämlich mit dem oben Gesagten abgetan, müßte festgestellt werden, daß freies Geistesleben hier und heute im Großen und Ganzen gewährleistet sei, daß wir uns also im Zustand der verwirklichten Dreigliederung des sozialen Organismus befanden (denn das eine folgt, wie zu zeigen sein wird, notwendig aus dem anderen).

Zweifellos durchzieht die Forderung nach geistiger Freiheit auf verschiedenen Stufen die gesamte abendländische Kulturgeschichte der Neuzeit, [3] ja sie wirkt in gewisser Hinsicht mit bei allen großen europäischen Auseinandersetzungen und Ost-West-Konflikten seit Beginn der christlichen Zeitrechnung. Über weite Strecken, insbesondere zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert, war die Freiheitsidee eng an das Besitztum, nämlich die persönliche Verfügungsgewalt über ein Stück Erde, die Bestellung und Bebauung dieses Stücks Erde und den Anspruch auf seine Erträgnisse gebunden. Zwar entbrannten im religiösen Bereich und im Spannungsfeld Religion – Naturwissenschaft offene, dramatische Konflikte um das Menschenrecht, Für-wahr-Befundenes ohne Rücksicht auf traditionelle Empfindlichkeiten öffentlich zu außern, aber die Ideen von Freiheit und Individualität als solche waren (Ausnahmen bestätigen die Regel) selbst bei den hervorragendsten Denkern noch unscharf, gleichsam unerweckt. Stattdessen regte sich als Vorbote der Freiheitsidee das tiefempfundene Bedürfnis, innerhalb eines umgrenzten, obrigkeitlicher Einflußnahme entzogenen Bewegungs- und Handlungsspielraums (,Privatsphäre`) zur Erfahrung personaler Selbstverwaltung vorzustoßen. Hieraus erklärt sich die stark ‚territoriale` Färbung der Freiheitssehnsucht in der Zeit des aufblühenden Bürgertums. Diese nicht länger an Adel und Erbfolge gebundene ‚Gutsherrenmentalität` eines quantifizierenden, Grenzen ziehenden Unabhängigkeitsdranges bedeutet, wertfrei betrachtet, nichts anderes, als daß das mittelalterliche Fürstenprivileg den Charakter eines allgemeinen, Ständeübergreifenden Anspruchs an die Lebensqualität annahm. Menschenkündlich gesprochen verbarg (und verbirgt) sich dahinter die Empfindung, nur innerhalb der ‚sicheren Burg` eines separaten Einflußbereiches selbstbewußtes Seelenleben entwickeln zu können. Im Grunde ist das Gut, der Besitzstand, das Privathaus mit eingezäuntem Garten, heute auch das Auto, die symbolische Erweiterung der (als noch nicht ganz evident erlebten) Leiblichkeit. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß Philosophen der beginnenden Neuzeit wie John Locke oder Hugo de Groot es für nötig hielten, mit heute kaum mehr begreiflichem Nachdruck zu betonen, der Leib des Menschen sei sein alleiniges Eigentum. Was uns ganz selbstverständlich erscheint, war damals ein durchaus umwälzender Gedanke.

„Der Mensch“, schreibt Egon Friedel (über die beginnende Neuzeit, „bisher in dumpfer andächtiger Gebundenheit den Geheimnissen Gottes, der Ewigkeit und seiner eigenen Seele hingegeben, schlägt die Augen auf und blickt um sich. Er blickt nicht mehr über sich, verloren in die heiligen Mysterien des Himmels, nicht mehr unter sich, erschauernd vor den feurigen Schrecknissen der Hölle, nicht mehr in sich, vergrübelt in die Schicksalsfragen seiner dunklen Herkunft und noch dunkleren Bestimmung, sondern geradeaus, die Erde umspannend und erkennend, daß sie sein Eigentum ist. Die Erde gehört ihm:“ Und weiter: „Das Irdische, bisher mit Mißtrauen und Geringschätzung betrachtet, wird erst jetzt legitim, Realität, schließlich alleinige Realität“. [4] Diese Realität, auch und besonders des eigenen Leibes und der ihn umgebenden Befestigungen, muß gesichert, bestätigt werden, und der Mensch empfindet gegenüber seiner neu entdeckten irdischen Lebenswirklichkeit, um noch einmal mit Friedell zu sprechen: „Assimiliere dir von ihr, so viel du kannst: dazu hat sie ja Gott ... geschaffen“.

Im politischen Denken entsprach diesen Umwälzungen der Bewußtseins- und Seelenverfassung das Heraufkommen von Liberalismus und Bürokratismus. Das Ideal war, kurz zusammengefaßt, daß innerhalb eines allgemeinverbindlichen, der ‚volonté générale`

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entsprechenden gesetzlichen und verwaltungsökonomischen Regelwerks jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, sich kraft seiner Tüchtigkeit, seines planenden Verstandes, zu Einfluß und Ansehen emporzuarbeiten. Die Lage der Armen und Benachteiligten verbesserte sich dadurch zunächst keineswegs. Während ihnen dereinst immerhin zugebilligt wurde, ein gottgewolltes Schicksal zu erleiden und eine gewisse Ehrfurcht vor dem Los des leigeprüften Menschenbruders, bei aller Barbarei, als Ausdruck echter Frömmigkeit galt, entwickelte sich seit der Renaissance die typisch bürgerliche, eitle Geringschätzung des ‚Versagers` durch den schlauen Opportunisten, den Karriere-Typ, der sich Wohlstand und Macht erarbeitet (oder erschwindelt) hat. „Das nachdrückliche Betonen der Klugheit“, schreibt Bertrand Russell, „ist typisch für den Liberalismus. Das hängt mit dem Entstehen des Kapitalismus zusammen; denn der Kluge wird reich, der Unkluge ist oder bleibt arm“. [5] Solche Gesinnung abstoßend zu finden, ist im Großen und Ganzen ein Phänomen unserer heutigen Zeit, durch das sich ein weitreichender Bewußtseinswandel ankündigt, oder vorsichtiger gesagt: ankündigen könnte. Vor relativ kurzer Zeit noch zollte man der Skrupellosigkeit, sofern sie mit Klugheit und Erfolg einherging, mehr Bewunderung als Verachtung, und vielfach erleben wir das ja bis auf den heutigen Tag. Zunächst, im Entstehen aufgesucht, ist diese Erscheinung nur sehr eingeschränkt ein moralisches Problem, etwa im Sinne des Bankrotts sittlicher Prinzipien. Es handelt sich einfach um eine Entdeckung, die erregend genug war, um vorübergehend alles andere in den Hintergrund zu drängen. Im sechzehnten, siebzehnten Jahrhundert wurde die Macht des produktiv-planenden, forschenden, erobernden, nur von Nutzerwägungen geleiteten Verstandes, der ethische Gesichtspunkte nurmehr für die Bestimmung des Endzwecks dieser oder jener Handlungsweise, nicht jedoch für die Wahl der Mittel gelten ließ, enthusiastisch gefeiert und geradezu mit Sittlichkeit identifiziert: Gott hat dem Menschen die Vernunft gegeben; sie einzusetzen, ist wahre Frömmigkeit. Derjenige, der es im Leben ‚zu nichts brachte`, rückte so geradezu in die Nähe des Sünders.

Ein Wirtschaftsleben das von sich aus die Rechte der wirtschaftenden Menschen ordnet und nach den in ihm waltenden Interessen die Menschen erziehen und unterrichten, macht den Menschen zu einem Rade im Wirtschaftsmechanismus. Es verkümmert seinen Geist, der sich nur frei entfalten kann, wenn er sich seinen eigenen Impulsen gemäß entfaltet. Es verkümmert auch die gefühlsmässigen Beziehungen zu seinen Mitmenschen, die nicht berührt sein wollen von der Stellung zu diesen Mitmenschen, die er durch seine wirtschaftliche Lage einnimmt; die vielmehr nach einer Regelung drängen im Sinne der Gleichheit aller Menschen in bezug auf das Rein-menschliche. – Ein Rechts- oder Staatsleben, das die Entwicklung der individuellen menschlichen Fähigkeiten verwaltet, drückt auf diese Entwickelung wie eine schwere Last; denn es wird aus den sich ihm ergebenden Interessen heraus naturgemäß auch dann die Tendenz entwickeln, diese Fähigkeiten nach seinen Bedürfnissen, nicht nach deren eigener Natur zu entfalten, wenn anfangs der beste Wille dazu vorhanden ist, den Eigenartigkeiten der Menschen Rechnung zu tragen. Und ein solches Rechtsleben drängt den von ihm betriebenen Wirtschaftszweigen einen Charakter auf, der nicht aus den Wirtschaftsbedürfnissen kommt. Der Mensch wird innerhalb eines solchen Rechtslebens geistig beengt und wirtschaftlich durch Bevormundung an der Entfaltung von Interessen behindert, die seinem Wesen angemessen sind. – Ein Geistesleben, das von sich aus Rechtsverhältnisse feststellen wollte, müßte aus der Ungleichheit der menschlichen Fähigkeiten heraus auch zu einer Ungleichheit der Rechte kommen; und es müßte seine wahre Natur verleugnen, wenn es durch die Hingabe an wirtschaftliche Interessen sich in seiner Betätigung bestimmen ließe. Der Mensch könnte in einer so gearteten Geisteskultur nicht zu einem rechten Bewußtsein davon kommen, was der Geist seinem Leben wahrhaft sein kann; denn er sähe den Geist durch Ungerechtigkeit sich entwürdigen und durch wirtschaftliche Ziele sich verfälschen.

Es ist die Menschheit der zivilisierten Welt in ihre gegenwärtige Lage dadurch gekommen, daß die drei Lebensgebiete in bezug auf vieles im Laufe der letzten Jahrhunderte zum Einheitsstaate zusammengewachsen sind. Und es besteht die Unruhe der gegenwärtigen Zeit darinnen, daß eine unübersehbar große Menge von Menschen unbewußt des eigentlichen Charakters ihres Strebens darnach drängt, diese drei Lebensgebiete im sozialen Organismus als besondere Glieder so auszubilden, daß das Geistesleben frei aus seinen eigenen Impulsen heraus sich gestalten kann; das Rechtsleben demokratisch auf die Auseinandersetzung – die unmittelbare oder mittelbare – einander gleichgeltender Menschen gebaut werde; das Wirtschaftsleben nur in Warenerzeugung, Warenkreislauf und Warenkonsum sich entfalte.

Rudolf Steiner

Niccolo Macchiavelli (1467-1527) hatte in Italien als tiefgefrorener, radikal pragmatischer Vorbote der Aufklärung die neue Hierarchie der Klugheit, List und Tücke philosophisch konzipiert und die Ansicht vertreten, moralische Erziehung der Völker könne nur von Führungspersönlichkeiten geleistet werden, die selbst keine Rücksicht auf irgendwelche Grenzen des Anstandes nahmen, wohl aber sich geschickt den Anschein von Redlichkeit und Vertrauenswürdigkeit zu geben vermöchten. Wer heute die politischen Vorgänge beobachtet, weiß, daß Macchiavelli ein Denker von prophetischem Zuschnitt war. Der (unfreiwillige ?) Enthüllungseffekt seines imposant bösartigen Gedankensystems bestand darin, daß er den (insbesondere klerikalen) damaligen Machthabern mit allen Zeichen der Ehrerbietung bescheinigte, nicht etwa Statthalter Gottes auf Erden, sondern besonders begnadete Schurken zu sein. Man kann diese Art von Hochachtung vor rücksichtslosen, erwiesenermaßen korrupten, aus jeder Schmutzaffaire sich nicht etwa angeschlagen, sondern gestärkt erhebenden Politikern auch heute überall finden. Wer sich in der bayrischen Provinz an einen Stammtisch setzt und mit eingeschworenen CSU-Wählern diskutiert, erfährt spätestens nach dem dritten Krug Bier, daß Franz Joseph Strauß ein Schuft sei, – aber der Schlaueste zwischen Alpen und Nordsee. Damit identifiziert man sich augenzwinkernd und ein bißchen neidisch.

Es sind die verfaulten Überreste des Freiheitsgefühls der frühliberalen Epoche, die da noch allenthalben in den Seelen herumliegen. Einstmals erzeugte die Entdeckung der grenzüberwindenden Stoßkraft persönlichen Ehrgeizes, eiserner Zielstrebigkeit und strategischer Planung des Erfolges noch eine Art positive Aufbruchsstimmung, Sehnsucht nach neuen Ufern, und verband sich mit schöpferischen Impulsen. Heute ist daraus eine trostlose Ersatz-Lebensphilosophie für perspektivlose Gemüter geworden. Die Egomanie als Vorbotin des Individualismus ist eine vergreiste, starrsinnig gewordene bewußtseinsgeschichtliche Figur, die gleichwohl noch so viel Erinnerungscharisma hat, daß sie überall dort, wo keine Zukunftsimpulse leben, mit dumpfer Wehmut angehimmelt wird wie ein alter König im Exil von seinen hinterbliebenen, enteigneten Günstlingen.

Die Verheißung der Macht (des emanzipierten Verstandes und der zupackenden Kraft der Hände), sowie die Ansicht, nur so seien soziale Rangunterschiede nicht nur begründet, sondern auch gerechtfertigt, setzte sich in der bürgerlichen Weltanschauung und Staatsphilosophie durch gegen den contra-emanzipatorischen (nicht in jeder, aber in dieser Hinsicht contra-emanzipatorischen) Kurs der Reformation, die eine harte Prädestinationslehre vertrat (Calvin, Luther), d.h. von den Gläubigen Fügsamkeit in die ihnen von Gott zugewiesene soziale Stellung forderte. Man muß sich die Vorstellung abgewöhnen, die Vordenker der Reformation seien geistige Freiheitskampfer gewesen. Zwar ist es bewußtseinsgeschichtlich ihr Verdienst, das persönliche Gewissen als den eigentlichen Begegnungsort mit Gott erkannt und damit der priesterlichen Anmaßung einen schweren Schlag versetzt zu haben, aber die meisten von ihnen waren, was die Ideen von Freiheit und Selbstbestimmung angeht, schlimmere Reaktionäre als ihre katholischen Antipoden. Die weltliche Macht wurde durch sie nicht ernsthaft in Frage gestellt, im Gegenteil. Luther war von den Bauernaufständen dermaßen angewidert, daß sich ihm vor Haß der Verstand vernebelte: „Hohe Zeit ist's, daß sie erwürgt werden wie tolle Hunde. Hie soll zuschmeißen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann. – Ein Fürst (kann jetzt) den Himmel mit Blutvergießen besser verdienen denn andere mit Beten“, heißt es in seiner Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Bauern“. Er hat dies wohlgemerkt niedergeschrieben, nicht (was verzeihlicher wäre) irgendwann im Affekt unter das Volk gebrüllt. Seine Wut auf

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Thomas Müntzer (der sich in Thüringen an die Spitze der Aufständischen stellte) war nicht wegen dessen fanatischer Rohheit so maßlos, sondern weil Müntzer, was Luthers Fassungsvermögen überstieg, radikale (und eben auch politische) Konsequenzen zog aus der reformatorischen Grundidee, jeder Mensch müsse seinen Weg zu Gott allein finden, ohne priesterliche Mittlerschaft, ohne Rechtfertigungszwang vor geistlichen und weltlichen Autoritäten, lauschend einzig auf das ‚innere Wort`. Bei allem, was man mit Recht abstoßend findet an Müntzer und dem brachial-dionysischen wiedertauferischen ‚Ur-Kommunismus`, muß dennoch festgehalten werden, daß hier, wenn wir den zugrundeliegenden Impuls von seinen Verzerrungen in der Lebenswirklichkeit abstrahieren, anfängliche Versuche einer individualistischen Kultur des Zusammenlebens erkennbar sind, – Versuche freilich, die, hoffnungslos verfrüht, ins Halt- und Bodenlose abirren mußten. Es ist Luzifer, der die Menschen in barbarische Zustände treibt, indem er ihnen einflüstert, sie könnten sogleich zu Engeln werden. Der Weg durch Egoismus und Materialismus war unvermeidlich.

Mit dem Egoismus entwickelt sich das Empfinden für die eigene Würde und ihre Zerbrechlichkeit. Diese selbstbezogene Erlebnisqualität, diese Sensibilisierung muß errungen werden. Jedes Kind muß sie ausbilden. Sie wendet sich, indem der Egoismus zum Individualismus fortschreitet, dem Mitmenschen zu. Im Zustand des reinen Egoismus erlebe ich es als existenziell erschütternde Demütigung, wenn mir jemand ins Gesicht schlägt, aber ich bin, wenn es zu meinem Vorteil ist, ohne weiteres dazu bereit, andere zu schlagen. Der modifizierte Egoismus eröffnet eine erste soziale Perspektive: Ich erkenne, daß ich mittelbar davon profitiere, wenn ich die Mitmenschen respektvoll behandle, mich für sie einsetze und so weiter: Sie werden sich wahrscheinlich bei passender Gelegenheit revanchieren. [6] Eine präzise Definition von Individualismus auf der Ebene des Rechtsempfindens hat der bolivianische Arzt Che Guevara gegeben, als er sagte: „Ein wirklicher Mensch muß jeden Schlag am eigenen Leibe spüren, der einem anderen Menschen versetzt wird“. Diesem Satz eines Mannes, der wußte, daß es lebensgefährlich ist, mit solchen Ansichten allzu viel Gehör zu finden, ist nichts hinzuzufügen. Wer einwenden wollte, hier sei doch nicht von Individualismus, sondern von gruppenseelenhafter Verbundenheit die Rede, möge bedenken, daß ich mein eigenes Seelenleben sehr deutlich und mit höchster Empfindlichkeit wahrnehmen muß, um mich durch die Verwundung, die einem anderen zugefügt wird, vollbewußt im Zustand des Schmerzes zu finden. In dieser Verfassung lebe nicht ich im mitmenschlichen Umkreis, sondern der mitmenschliche Umkreis lebt in mir. Das ist der Unterschied zwischen der Solidarität der Gruppenseele und derjenigen des sich entwickelnden Individualismus: „Ich werdend spreche ich Du“ (Martin Buber). Guevara hat mit schlichten Worten die soziale Utopie (nicht Illusion) bezeichnet, an der sich die Seelen scheiden. Wer sich von ihr verabschiedet, verabschiedet sich, und sei er ein noch so gewaltiger Erkenntnisriese, vom Menschheitsfortschritt.

Ich habe mich über die hier nur grob skizzierten bewußtseinsgeschichtlichen Zusammenhänge an anderer Stelle ausführlicher geäußert. [7] Sie müssen berücksichtigt werden, um in bezug auf die eingangs gestellten Fragen bloßes Theoretisieren zu vermeiden und einigen obligatorischen Irrtümern zu entgehen. Die haufigste irrtümliche Auffassung von Freiheit ist zugleich die unter Anhängern Rudolf Steiners am heftigsten und mit größter Einhelligkeit beklagte. Sie besagt, der Mensch sei umso freier, je ungehinderter er dem gehorchen könne, was sich, durch äußere Affizierungen ausgelöst, unvermittelt, also reflexartig, als lustvoller Drang in ihm geltend macht. In Teilen der Jugendkultur wurde und wird solche sogenannte Spontaneität geradezu vergöttert, was auch seine Richtigkeit hat, denn die Verwechslung von Freiheit und Unbeherrschtheit ist in einer bestimmten Lebensphase entwicklungsimmanent. Wer allerdings als erwachsener Mensch diese Fehleinschatzung weiterschleppt und gar zur Philosophie erheben will, muß einräumen, daß dann nach seiner Definition ein schwer betrunkener Mann, der im Affekt einen anderen niedersticht, eine geradezu freiheitliche Tat begangen hat.

Ein zweiter freiheitsphilosophischer Irrtum bildet in gewisser Hinsicht den Gegenpol zum unreflektierten Spontaneismus. In ihm spricht sich nicht die jugendlich-ungestüme, sondern die bürgerlich-pedantische Seele aus, die Angst davor hat, Freiheit wirklich zu denken und eigentlich zu ihrer Selbstberuhigung einen Freiheitsbegriff sucht, der sich sogleich wieder selbst aufhebt. Die Angst vor der Freiheit produziert bei Menschen, die sich doch gleichzeitig irgendwie verpflichtet fühlen, theoretisch für Freiheit einzutreten, den warnenden Satz: ‚Freiheit ist nicht Beliebigkeit`, oder seine Abwandlung: ‚Freiheit ist nicht Willkür`. Da das Gegenteil einer beliebigen Handlung eine determinierte und das Gegenteil einer willkürlichen Handlung eine unwillkürliche, das heißt ohne mein bewußtes Zutun einfach stattfindende ist, wäre ich demnach frei, wenn ich registriere, was mit eiserner Notwendigkeit, ob ich will oder nicht, durch mich geschieht. Der Freie wäre ein sich selbst beobachtender Automat. Daran ändert auch der Einwand nichts, daß die handlungsbestimmende Notwendigkeit, die Nötigung also, auf einer höheren Bewußtseinsebene doch eine geistige sei: die durch mich wirkende unerbittliche Macht der Wahrheit, deren ‚unwillkürlicher` Diener zu sein höchste Freiheit bedeute, nämlich Erlösung von triebhaften Bestimmungen und so welter. Dann wäre der Freie eben ein sich selbst beobachtender Wahrheitstransformator, der mit fortschreitender Entwicklung immer seltener die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten hätte. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Wenn ich so und nicht anders handle, weil ich so und nicht anders handeln muß, bin ich nicht frei. Freiheit beinhaltet die Möglichkeit des Irrtums, des Scheiterns, und wer sich auf den Weg der Freiheit begibt, setzt sich diesen Gefahren besonders aus – freilich: um sich in ihnen zu bewahren.

Hier ist auch der Grund dafür zu suchen, daß der gelebte Individualismus, das Hinaustreten in die Souveranität des Entscheidens und Handelns (was zugleich bedeutet: Zurückweisung aller außerindividuellen, d.h. nötigenden Einwirkungen einschließlich einer „sogenannte(n) innere(n) Stimme“, wie Rudolf Steiner betont, die in Wahrheit eine verinnerlichte ist: heraustönend aus dem „Räderwerk (meiner) Moralprinzipien“, durch die ich „höherer Automat" bin, aber nicht frei [8]) der erste Schritt zur mündigen Sozialität ist. Sich der Gefahr des Scheiterns auszusetzen durch Zertrennung der religio (Rückverbindung/Rückversicherung) zum konventionellen, d.i. vorgefundenen Sitten- und Weltanschauungskodex, von dessen Zustandekommen sich der Einzelne ausgeschlossen fühlt, kann zweierlei zur Folge haben: Das Scheitern, nämlich die Verirrung in sittliche Indifferenz, oder die Einsicht, daß der einzige zuverlässige Maßstab für den Menschen der Mensch ist; daß also der eingestürzte Wertekosmos neu aufgebaut werden kann und muß aus dem „freien Verkehr ...

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von Individualität zu Individualität“ (vgl. Anm. 2). Diese zweitgenannte Folge für abwegig zu halten, weil die Mehrheit dafür noch nicht reif sei und so weiter, gehört zu den hartnackigsten Desorientierungsparolen der Vergangenheit und Gegenwart. Unter dem Deckmantel pädagogischer Gesamtverantwortung erklären diejenigen, die so etwas sagen (und wohlweislich immer sich selbst davon ausnehmen), den Rest der Menschheit für unmündig. In der Behauptung, daß jeder, der keine Gebote und Lebensregeln von ‚oben` oder außen mehr hinnehmen will (es sei denn, sie entsprächen seiner Erfahrung), zwangsläufig in ein moralisches Vakuum gerate, spricht sich die verstaubte, aber immer noch hochgeschätzte Erziehungsideologie vergangener Jahrhunderte aus, – ganz davon abgesehen, daß sich nach dieser Theorie, wenn man sie zuendedenkt, besonders die großen Sittenlehrer der Geschichte, auf die unsere sämtlichen Moralprinzipien zurückgehen, zur Zeit ihres Wirkens in einem solchen Vakuum befunden haben müßten.

Richtig ist, daß Emanzipation von dem (wie Rudolf Steiner sich ausdrückt) allgemeinen „Wust von Sitte, Gesetzeszwang, Religionsübung und so weiter“ [9] der innere Schritt ist, durch den Moral überhaupt erst als individuelle Qualität Geltung gewinnen und dadurch sozialbildend auf der Stufe des „freien Verkehrs“ wirken kann. Das ist der unseren heutigen Erkenntnismöglichkeiten angemessene Ausgangspunkt. Die Quintessenz des ethischen Individualismus ist, sozialgeschichtlich gesehen, daß die Zeit der pädagogischen Doktrin, mithin die Zeit des Nachschleppens theokratischer Ideen und Haltungen abgelaufen ist. ‚Mensch, erkenne (und erziehe) dich selbst!`

Dieses Freiheitsverständnis, das die Vorstellung, zu allen Zeiten obliege einer irgendwie bevorzugten Minderheit die sittliche Erziehung der Mehrheit, nicht abwandelt (wie es z.B. Voltaire tat, der weder den klerikalen, noch den feudalen, noch den Kapitaladel herrschen sehen wollte, jedoch die Philosophen), sondern fahren läßt, muß deutlich abgegrenzt werden gegen jene ‚Freiheit`, die zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert zu gleichen Teilen Faszination ausübte und Entsetzen hervorrief und bis heute Hauptgegenstand der Auseinandersetzungen darüber ist, wie viel Selbständigkeit den Menschen zugestanden werden könne, ohne daß ‚Anarchie` (ein mißhandeltes Wort: man meint Chaos, also etwas ganz anderes) ausbräche. Wer aber ‚gesteht zu`, und durch welche Vollmacht (nachdem keine bevollmächtigende höhere Instanz mehr in Betracht kommt)? Man hat in den vergangenen Jahrhunderten abwechselnd die von Gott direkt verliehene Herrscherwürde, die ebenfalls von Gott zum Zwecke der Menschenführung zugeteilte Klugheit, einen mystischen ‚ursprünglichen Gesellschaftsvertrag`, den unbestechlichen Allgemeinwillen, den der Herrscher nur umsetze, oder einen nur für wenige einsichtigen, aber alle ‚listig` (Hegel) einschließenden geschichtlichen Meta-Plan bemüht, um die Bevormundung des Menschen durch den Menschen zu sanktionieren. Heute duldet die Frage keinen Aufschub mehr, ob der sicherste Weg zu menschengemäßen, von gegenseitiger Achtung, Besorgnis und Friedfertigkeit getragenen sozialen Umgangsformen nicht derjenige wäre, der immer mehr Menschen zu der Erkenntnis führte: „Eine sittliche Tat ist nur meine Tat“. [10]

Das mit dem Bürgertum aufkommende Privatrecht, in dem sich Leistungsorientierung, persönliches Gewinnstreben, praktische Vernunft, organisatorisches Kalkül und religioser Relativismus als neue Seelenhaltungen und Glücksverheißungen zu der Forderung verdichteten, die Staatshoheit habe dort zu enden, wo jemand die Früchte seines persönlichen Fähigkeiteneinsatzes erntet und verwaltet, brachte eine Freiheitsdebatte mit sich, die darum kreiste, in welchem Umfang der Staat berufen sei, gegenüber diesen Eruptionen der Egoität sittliche Normen festzusetzen und ihre Einhaltung unnachsichtig zu erzwingen. Hobbes' berühmter „Leviathan“, das (wie er fand: notwendige) Ungeheuer Staat, ist ebenso wie Rousseaus „volonté générale“, die nur bei Ausschaltung aller Einzelinteressen rein sprechen könne, ein Resultat der Panikstimmung, die das um sich greifende neue Persönlichkeitgefühl auslöste: der Angst, jeder werde nur noch seine eigenen Zwecke verfolgen und einer den anderen um des eigenen Vorteils willen totschlagen. [11] Daraus entwickelte sich die neuzeitliche Vorstellung vom Erziehungsauftrag des Staates, gekoppelt mit einer Fügsamkeits- bzw. Pflichtethik, die das auf wirtschaftlich-materielle Werte bezogene Recht auf Persönlichkeitsentfaltung an ein auf sittliche Werte bezogenes Gehorsamsversprechen band. Man kann verkürzt sagen: Für das mittelalterliche Denken gehörte der Leib des Menschen samt den Erzeugnissen seines Arbeitseinsatzes dem Staat, seine Geist-Seele Gott. Im Zeitalter des Liberalismus (und da stehen wir in vieler Hinsicht noch heute) gehörte der Leib des Menschen samt den Erzeugnissen seines Arbeitseinsatzes ihm selbst, dem Ideal nach wohlgemerkt, und seine Geist-Seele dem Staat. Erst im geistesgeschichtlichen Kulminationspunkt des deutschen Idealismus und der französischen Hochblüte der Aufklärung wagte sich, scheu noch, der Gedanke hervor, das eigentliche, unbestreitbare und unantastbare Eigen-tum des Mensch sei sein individuelles geistig-seelisches Wesen, der Bereich seiner Existenz also, in dem alles sittliche Ideenvermögen urständet.

Es ist unschwer zu erkennen, daß die beiden oben skizzierten freiheitsphilosophischen Grundirrtümer des unreflektierten Spontaneismus und der spirituellen Determination ihre Wurzeln in jener Dauerkontroverse der Renaissance und Aufklarung haben. Der unreflektierte Spontaneismus schlieSt sich, bewußt oder unbewußt, der Vorstellung Rousseaus von der ursprünglichen Güte der Menschennatur an, die erst durch Vergesellschaftung verdorben worden sei. Ganz gegen den Geist seiner Epoche ruft Rousseau aus: „Allmächtiger Gott, ... gib uns die Ungewißheit, die Unschuld, die Armut zurück“, und postuliert (sein Kardinalirrtum) ein „angeborenes Prinzip der Gerechtigkeit und der Tugend“. Der ‚Naturzustand war damals ein philosophischer Zankapfel ersten Ranges. War der Mensch im vorgesellschaftlichen Zustand unschuldig und gut oder roh und gewalttätig? Einig waren sich die Antipoden darin, daß der ominöse Ur-Zustand der Freiheitszustand gewesen sei. Also stand gleichzeitig zur Debatte, ob die Freiheit das Gute oder das Böse im Menschen hervorrufe. Die Antwort lautete fast einhellig: Im Prinzip neigt der Mensch zum Bösen, wenn man ihn freiläßt, aber man muß es doch in gewissem Umfang tun, sonst rebelliert seine Natur. Über den ‚gewissen Umfang' gab es erbitterte Meinungsverschiedenheiten, nicht jedoch über die theoretische Gleichsetzung von Sittlichkeit und freiheitsbegrenzender Notwendigkeit. Freiheit galt also gewissermaßen als das gesellschaftlich tolerierbare Maß von Unmoral. Hier griff folgerichtig der Erziehungsgedanke ein: Eine rechte Volkspädagogik habe die Aufgabe, den Einzelnen so zu bilden, daß er das Handeln im Einklang mit kollektiven Notwendigkeiten als sein ureigenes, freies Handeln empfinde. Der Schritt zu der Behauptung, wahre Freiheit sei vollständige Interessenübereinstimmung, war dann nur noch ein kleiner. Plötzlich ist Freiheit (schon Rousseau hatte das angedeutet) identisch mit Unterwerfung unter das durch den Staat reprasentierte allgemeine Sittengesetz, und das Denken zappelt in der Falle, die z.B. den Satz gebiert: ‚Freiheit ist Notwendigkeit`. Friedrich Engels hat in seinem „Anti-Dühring“ geschrieben, Freiheit sei Gehorsam gegenüber den Naturgesetzen. In der spirituellen Determination wird dieser Gedanke lediglich in ein Übersinnliches verlängert, und die Quintessenz lautet: Wenn alle sich dermaßen geschult haben, daß jeder das Gleiche redet und denkt, herrscht wahre Freiheit.

Was dann herrscht, ist aber eine vergeistigte Form der égalité. Rudolf Steiner hat mit aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen, was die moralischen Intuitionen der individualistischen Ethik nicht sind:

[Info3, 6/1988, Juni 1988, Seite 7]

„Nicht das allgemein Übliche, die allgemeine Sitte, eine allgemein-menschliche Maxime, eine sittliche Norm leitet mich in unmittelbarer Art, sondern meine Liebe zur Tat”.  [12] Wenn es an anderer Stelle heißt; „ein sittliches Mißverstehen, ein Aufeinanderprallen ist bei sittlich freien Menschen ausgeschlossen“, [13] so interpretiert man in diesen Satz nur willkürlich etwas hinein, wenn man ihn so auffaßt, als wolle er besagen: Alle sittlich freien Menschen denken, reden und handeln übereinstimmend. Im Gegenteil. Die Reife auf diesem Gebiet zeigt sich, so Steiner, gerade im „Verständnisse des fremden Wollens”: „Nur der sittlich Unfreie ... stößt den Nebenmenschen zurück“, der anders denkt und handelt als er. Freie Menschen gestehen einander die Lauterkeit ihres vielleicht sehr unterschiedlichen Bemühens zu und können sich deshalb, bei aller Verschiedenartigkeit, doch als grundsätzlich im gemeinsamen Freiheitsstreben Verbundene begegnen.

Dieses Niveau der freien, respekt- und interessevollen Menschenbegegnung „in dem Vertrauen darauf, daß der andere Freie mit (mir) einer geistigen Welt angehört“ (Steiner), zu erreichen, würde bedeuten, die erziehungsideologische Doktrin, die das Denken seit dem 15. Jahrhundert mehr oder weniger offen beherrscht, tätig außer Kraft zu setzen. Aber ist es damit getan, dies in allgemeiner Art zu postulieren? Zweifellos nicht. Wir müssen besondere Aufmerksamkeit auf die Frage lenken, welche gesellschaftlichen Bedingungen nötig sind, um in diesem Bemühen, das gewiß letztlich ein individuell-zwischenmenschliches ist, nicht immer wieder an strukturellen Hindernissen zu scheitern.

Will man (um zum Anfang zurückzukehren) die von Steiner erwähnten, nur in einer Atmosphäre „völliger Freiheit“ entwicklungsfähigen „Kräfte der innersten Menschennatur“ charakterisieren, so kann man unter einem bestimmten Gesichtspunkt sagen: Es sind die Kräfte, die im Einzelnen den Wunsch [14] entzünden, sich auf ein idealisches Zukunfts-Selbstbild hin schrittweise zu vervollkommnen, und das heißt: seinem Leben Sinn zu geben. Nur wenn es gelingt, individuelle Fähigkeiten an einen konkret-utopischen Selbstentwurf zu binden und im Hinstreben auf dieses Ziel die Leibes-ursprüngliche Bedürfnisnatur zu transzendieren (nicht auszutilgen, – damit keine Mißverstandnisse aufkommen [15]), entsteht Sinnhaftigkeit. Das ist keine moralische Wertung, sondern ein zwingendes Ergebnis psychologischer Selbstbeobachtung. Man kann eine Tat nicht mit Liebe vollbringen, deren Vorsatz z.B. die Schädigung anderer zum eigenen Vorteil ist, oder im logischen Umkehrschluß: Eine Tat, die ich, indem ich sie vollbringe, liebe, wird niemals andere schädigen. Als frei erlebe ich mich nur im liebevollen Tun. Deshalb ist eine freie Tat immer eine sittliche Tat. Sie hinterläßt mich in der Gewißheit, keinen Selbstverrat geübt zu haben. ‚Unsittliche Ideale` gibt es so wenig wie z.B. traurige Freude oder schläfrige Wachheit. Ein Ideal ist per definitionem die individuelle Formulierung sittlicher Motive. Freiheit ist Idealismus, und es gibt schlechterdings keinen individuelleren Vorgang als denjenigen der Idealbildung.

Anthroposophisch gesprochen ist der oben genannte ‚Wunsch` individueller Vervollkommnung das Hereinstrahlen des Geistselbst ins Erdenbewußtsein. Unter ‚Geistselbst` ist ein für uns heutige Menschen nur selten und annähernd vollwach erreichbarer, höherer Ich-Zustand zu verstehen, der das individuell-selbstbezogene Bewußtsein mit Liebe durchdringt. Hier ist der Widerspruch zwischen Selbstverwirklichung und Sozialität dergestalt aufgehoben, daß soziale Verantwortung als Handlungskriterium – so paradox es klingen mag – hinfallig wird, weil Taten der Selbstverwirklichung, insofern sie sich auf einen idealen Entwurf beziehen, per se sittliche, also soziale Taten sind. Sie bedürfen nicht der Legitimation durch den normativen Richtspruch einer äußeren Instanz oder (in Stellvertretung) inneren Übervater-Stimme. Der Freie prüft nur: Kann ich das, was ich tun will, mit Liebe tun? Auf dieser Stufe wendet sich der ganz bei sich selbst angekommene und in sich selbst eingekehrte Einzelne dem Du zu, ohne sein Eigensein aufzugeben.

Wir befinden uns bewußtseinsgeschichtlich in einem Stadium des alleranfänglichsten Herantastens an die Geistselbst-Qualität. Im sozialen Leben ist das Übungsfeld hierfür jener von Rudolf Steiner so genannte „freie Verkehr von Individualität zu Individualität“, durch den ich mein eigenes ideales Wollen dem fremden idealen Wollen entgegentrage in dem Bestreben, nicht das ausschließende Urteil im Entweder-Oder, sondern die gegenseitige Bestärkung im Sowohl-Als-auch zu suchen. Nicht um ‚Kompromißhaftigkeit` im geläufigen Sinne handelt es sich, denn sie hat im geistigen Leben nichts zu suchen. Ich prüfe meine Intention und Taten nicht daran, ob sie mit fremden lntentionen und Taten einig gehen oder irgendeiner allgemeinverbindlichen Idee von Fortschritt, Allgemeinwohl etc. entsprechen, sondern daran, ob sie in all ihrer Eigenständigkeit so viel Freiheits-, d.h. Liebessubstanz in sich bergen, daß ich andersartige Intentionen und Taten, die ebenfalls aus Idealismus geboren sind, nicht zurückweisen muß, sondern gesprächsbereit begrüßen kann. Selbst- und geltungssüchtige, nur auf persönlichen Vorteil, Lust- und Machtlust-Befriedigung gerichtete Bestrebungen kollidieren, freie Bestrebungen kommunizieren. Das ist ein Gesetz. Es ist der Grundirrtum der bürgerlich-kapitalistischen Weltanschauung, daß sie von der Möglichkeit der Kommunikation blanker Egoismen ausgeht.

„Freiheit im Geistesleben“ ist also nicht nur die Freiheit, die ich für mich beanspruche, sondern auch und vor allem diejenige, die ich aktiv toleriere, d.h. für alle beanspruche. Die Freiheit des Nebenmenschen wird für den Freien zum höchsten Anliegen, – aber nicht im Sinne des Vernunftegoismus, der mir sagt: Lasse den anderen gewähren, dann wird er dich gewähren lassen, sondern aus Liebe zur Wahrheit. Denn die Liebe zur Wahrheit belehrt mich rasch darüber, daß sie kein quantifizierbarer Bestand ist, von dem der eine mehr, der andere weniger zusammenraffen und besitzen kann, sondern eine prozessuale Qualität, Ereignisqualität: ein Dialog-Geschehen, in das jeder sein Ur-eigenstes einbringt, den Nebenmenschen in seiner Ureigentümlichkeit mit ebensolcher Vorfreude erwartend, wie lange getrennte Freunde einander erwarten. Erwarte ich den Freund, um sein Gesicht zu verändern? Nein. Ich will sein Gesicht sehen. In diesem Sinne ist freies Geistesleben überall dort, wo uneigennütziges Interesse an den Ideen, Werken und Zielen anderer Menschen und Menschenzusammenhänge auf der Wahrnehmungsseite dieselbe innere Haltung kennzeichnet, für die auf der Tatseite gilt: „Frei ist der Mensch, insofern er in jedem Augenblicke seines Lebens sich selbst zu folgen in der Lage ist“. [16] Ich muß mein Verhältnis zur Ideenwelt einerseits auf der mir gemäßen Stufe allein finden und gestalten und die Früchte dieses Verhältnisses in die mir gemäße Form kleiden. Andererseits ist es eine Tatsache, daß sich ideelles Leben als sittliches Leben nur in einem kommunikativ-dialogischen Element entfalten kann.

[Info3, 6/1988, Juni 1988, Seite 9]

Mein individuelles Ideenvermögen findet nur aus dem individuellen Ideenvermögen anderer den kräftigenden, verlebendigenden Zustrom, den es braucht, um nicht unkreativ, d.h. zwanghaft zu werden. Man kann beobachten, daß sozial schädliche Vorstellungskomplexe und daraus abgeleitete Handlungsgewohnheiten immer diesen zwanghaft-reduzierten Charakter haben, der im Gegensatz zur Phantasie steht. Was nicht zur Sag- und Vernehmbarkeit im Gesprächsfeld des sozialen Organismus, im freien Geistesleben gelangt, dort gleichsam im Rohzustand, Entwurfzustand seine wirklichkeitsgemäße Formung erwartend; d.h. was als unbeantwortbare, weil vorgefertige, ver-einsamte, in sich eingekerkerte Gedankenfigur auftritt, ist sittlich unproduktiv. Sittlich unproduktive Ideengebilde sind Gespenster, also das Gegenteil von Idealen. Wir bezeichnen als Gespenster destruktiv wirkende, weil ohne sozial-zwischenmenschlichen Bezug umherirrende Gedankenwesen, die am Kulturprozeß nicht mitwirken, sondern ihn überall unterbrechen, stauen, verzerren. Sie treten nicht individuell vermittelt auf, sondern isoliert und stereotyp. Ein Mensch, durch den sich ein sittlich unproduktiver Gedankenzusammenhang äußert (z.B. die ‚Abschreckungslogik`), redet und tut genau dasselbe wie Dutzende anderer, durch die sich dieser Gedankenzusammenhang äußert. Geistige Uniformität ist ein untrügliches Indiz für sittlich unproduktives, nämlich unfreies Denken. „Eine Ethik als Normwissenschaft kann es ... nicht geben“. [17] Auch nicht, übrigens, wenn ‚Anthroposophie` darübersteht.

Wir müssen uns mit einem fur die soziale Frage fundamentalen Satz auseinandersetzen. Er lautet: Uniformierung bzw. Normierung des Geisteslebens im Zeitalter der Bewußtseinsseele hat zur Folge, daß das menschliche Denken und Handeln sittlich unproduktiv und zuletzt unmoralisch wird. Nicht der Inhalt der jeweiligen Norm ist ausschlaggebend, sondern der Vorgang der Normierung als solcher. Denn Normierung bedeutet Gesprächsbeendigung, und die Beendigung des Gesprächs kündigt den Bankrott der Moral an. Wir haben es also immer dann mit einem Frontalangriff auf den sittlichen Menschheitsfortschritt zu tun, wenn, wie sich Rudolf Steiner ausdrückt, „die äußeren Gewalten ... meinen Geist knechten und mir meine Beweggründe aus dem Kopfe jagen und an deren Stelle die ihrigen setzen wollen“. [18] Deshalb sind die Ideen der ‚Volkspädagogik` und ‚Aufklärung` im altgebrauchlichen Sinne zu gefährlichen Anachronismen geworden. Sie setzen voraus, daß einige wenige wissen können, was alle denken sollen. Dies aber ist das gerade Gegenteil vom freien Geistesleben.

Es gibt im gesellschaftlichen Maßstab zwei Ausgangsorte für die von Steiner so genannten „äußeren Gewalten, (die den) Geist knechten“, wenn er sich nicht unabhängig von ihnen entwickeln kann. Dem staatlich-rechtlichen Leben (Gesetzgebung, Ordnungsmacht, Verwaltung) wohnt die Tendenz inne, alle Menschen als unterschiedlos Gleiche zu betrachten und zu behandeln. Dies entspricht für sich genommen einer Forderung der Menschenwürde: Vor dem Gesetz sind alle gleich. Aber geltendes Recht, geltende Regeln des Zusammenlebens sind zunächst immer Formen, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart hereinwirken. Moralische Phantasie jedoch ist das in der Gegenwart aufblitzende Zukünftige. Ihr die rechten Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen, ist die Aufgabe des geistigen Gliedes des sozialen Organismus. Wenn dagegen aus rechtlichen und sittlichen Normen weltanschauliche Richtlinien abgeleitet werden, die in Schule, Ausbildung, Wissenschaft, Religion, Literatur und so weiter dem fühlenden Denken und denkenden Fühlen des Menschen aufgezwungen werden sollen, liegt im geistigen Sinne der Tatbestand der Freiheitsberaubung vor. Aus dem ethischen Individualismus ergibt sich für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens die umgekehrte Forderung: Im Geistesleben sollen sich die Menschen denkend, prüfend, urteilend aus ihrem unkorrumpierten (d.h. inhaltlich durch Erziehung oder ‚Aufklärung` nicht vor-gepragten) Rechtsempfinden heraus so zusammenfinden können, daß die weltanschaulich-sittliche Gewohnheitsstruktur auf dieser Ebene ihren bindenden und begrenzenden Einfluß verliert. Der Freie prüft, ob das vereinbarungsgemäß Geltende dem rein geistig gefundenen Gültigen noch entspricht. Wo dies nach seinem Dafürhalten nicht der Fall ist, bringt er sich im Vertrauen auf die Durchsetzungskraft wirklichkeitsgemäßer Ideen produktiv ein, – vorausgesetzt, er kann davon ausgehen, seine Initiative sei erwünscht. Es ist also ganz und gar im Sinne der sozialen Dreigliederung, zu sagen: Die höheren Schulklassen, universitären Lehrbetriebe, wissenschaftlichen Fakultäten, künstlerisch-literarischen Begegnungsstätten, Theater, ja selbst die Pflegestätten religiosen Lebens, sollten Treibhauser für gesellschaftsverändernde Ideenimpulse und skeptisches Denken sein.

Dies ist nur möglich, wenn ‚tausend Blumen blühen`, d.h. alle Einheitlichkeitsbestrebungen in diesem Bereich aufgegeben werden, alle Planungsmentalität und aller Zentralismus aus ihm verschwinden. Wer glaubt, daß dies zu chaotischen Zuständen führen müsse, „der weiß eben nicht, welche Kräfte der innersten Menschennatur dadurch an ihrer Entfaltung verhindert werden, daß der Mensch in ... Schablonen hinein entwickelt wird“. [1] Man muß also festhalten: ‚Freies Geistesleben` im Sinne der sozialen Dreigliederung bedeutet nicht, innerhalb des staatlich beaufsichtigten Kulturbetriebes die eine oder andere Nische zu besetzen und dort weltanschauliche Grundsätze zu verkünden, von denen man überzeugt ist, daß sie innerlich befreiend wirken, sondern die Forderung ist eine politische und die Aufgabe eine strukturelle. Das gesellschaftliche Leben muß, um die „Individualität voll zur Geltung zu bringen“, so gestaltet werden, „daß der Einzelne den Ort finden kann, wo er seinen Hebel anzusetzen vermag“, schrieb Rudolf Steiner und fügte hinzu: „Es darf nicht dem Zufall überlassen bleiben, ob er diesen Platz findet“. [19] Damit wird im Jahre 1886 erstmals auf die im Jahre 1919 publizierte Dreigliederungsidee hingewiesen. Wenn es bei Steiner (vgl. die einleitenden Zitate) andererseits heißt, die Freiheit des Einzelnen könne „nicht durch Einrichtungen entfaltet werden“, so ergibt sich daraus durchaus widerspruchsfrei: Die Einrichtung des Gesamtorganismus muß eine solche sein, daß im Geistgebiet der Mensch „in keine vorbestimmte Einrichtung ... hineingezwängt“ wird. Als 1968 ausgerufen wurde: „Unter den Talaren / Muff von tausend Jahren“, da hätte man eben nicht versuchen sollen, in die alten Universitäten eine neue Ideologie hineinzupumpen, sondern den ganzen staatlich reglementierten akademischen Apparat mitsamt seinen Laufbahnen, Examina, Titeln und Hüten auszuhebeln. Entscheidend ist, sowohl von der Dreigliederung als auch von der ‚Philosophie der Freiheit` her gedacht, nicht, wie dieser oder jener staatlich bestallte Lehrstuhlinhaber denkt, sondern daß staatlich bestallte Lehrstuhlinhaber überflüssig sind.

Die zweite ‚außere Gewalt`, die zur geistknechtenden wird, wenn man sie ihrer ausufernden Eigendynamik überläßt, ist diejenige des Wirtschaftslebens. Der Bereich, in dem es um Produktion und Konsumption, Warenherstellung und Warenzirkulation geht, darf seine Gesetze nicht anderen menschlichen Begegnungsfeldern, wo ganz andere Verhältnisse geregelt werden müssen, aufzwingen. Es sind alarmierende gesellschaftliche Krankheitserscheinungen, wenn einerseits die Politik zum Ausführungsorgan wirtschaftlicher Interessen wird, andererseits die großen Kapitaleigner durch ihre Macht über den ‚Arbeitsmarkt` bis in Schule, Studium und Berufsausbildung hinein bestimmen, welche menschlichen Fähigkeiten brauchbar (d.h. profitabel) oder unbrauchbar sind, wie früh die jugendlichen Menschen vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Trends schon mit Spezialisierungsangeboten gelockt werden und so weiter. Wo Bildung, Wissenschaft und Kunst dem ökonomischen Kalkül ausgeliefert werden, ist (um die gravierendste Folge zu nennen) der freie Ideenzustrom aus dem Geistesleben in die Rechtssphäre blockiert. Nebenbei bemerkt hat dies u.a. zur Folge, daß zwar das Großunternehmen sich weitgehend immun gegen rechtliche Einschränkungen aufblähen kann, während aber kleinere Initiativen, etwa im Sozial- und Dienstleistungsbereich, von einer ideell ausgetrockneten, starr-pedantischen, sinnlos reglementierenden Verwaltungsbürokratie umso mehr tyrannisiert und niedergehalten werden.

Die Zusammenkoppelung von Geistes- und Wirtschaftsleben unter der Vorgabe, daß der Staat als Handlanger der Wirtschaft die Kultur ‚durchökonomisiert`, hat geradewegs in jene rechtlich-sittliche Ödnis geführt, in der statt Blumen Raketen blühen (wie es sinngemäß in einem alten Ostermarschlied heißt). Der erste und einzig folgerichtige Schritt, um diese Situation aufzubrechen, wäre die Herstellung eines freien, nämlich entstaatlichten (aber nicht, wie es Baden-Württembergs Lothar Späth und anderen um einige Jahrhunderte verspäteten Liberaldemokraten vorschwebt, stattdessen unmittelbar wirtschaftlich beaufsichtigten) Geisteslebens bei gleichzeitiger Öffnung des rechtlich-staatlichen Systems in Richtung direkt- und basisdemokratischer Entscheidungsprozesse. Die Utopie ist eine konkrete, – d.h. die Sache würde ohne bewaffnete proletarische Meuterei, Generalstreik oder wirtschaftlichen Zusammenbruch abgehen, wenn man nur ihre Notwendigkeit ins Auge fassen wollte. Und wer behauptet, für das Wirtschaftsleben würde die Verwirklichung solcher Vorschläge zur Folge haben, daß jede unternehmerische Initiative blockiert wäre, hat nicht verstanden, wovon die Rede ist. Was könnte die Wirtschaft besser beleben, als der Zustrom von vielseitig ausgebildeten, phantasievollen und sozial engagierten Menschen? Auch Unternehmertum kann freies Geistesleben sein, wenn es sich in den Dienst zukunftsweisender Ideen stellt.

Anmerkungen

[1] R. Steiner, „Zur Dreigliederung des sozialen Organismus“, gesammelte Aufsätze 1919-1921, dort: ‚Geistespflege und Wirtschaftsleben‘.

[2] Ebenda

[3] Vgl. dazu H. Köhler, ‚Der Einzelne und sein Eigentum‘, 1. Teil: ‚Ethischer Individualismus und Liberalismus‘, in: DIE DREI, März 87. Ebenfalls in DIE DREI erscheint demnächst der 2. Teil: ‚Ethischer Individualismus und Anarchismus‘.

[4] Egon Friedell, Kultugeschichte der Neuzeit, München 1986

[5] Bertrand Russell, Die Philosophie des Abendlandes, Zürich 1950

[6] Rudolf Steiner unterscheidet in seiner ‚Philosophie der Freiheit‘ zwischen dem „reinen Egoismus“ und der „Klugheitsmoral“, die hier gemeint ist (Kap. IX, „Die Idee der Freiheit“).

[7] Siehe Fußnote 3

[8] R. Steiner, „Die Philosophie der Freiheit“, dort: ‚Die Idee der Freiheit‘

[9] Ebenda

[10] Ebenda

[11] Thomas Hobbes, englischer Philosoph, 1588-1679; Jean Jacques Rousseau, französischer Philosoph, 1712– 1778.

[12] Wie Fußnote 8

[13] Ebenda

[14] Rudolf Steiner spricht im 4. Vortrag seiner ‚Allgemeinen Menschenkunde‘ von diesem „Wunsch an sich“.

[15] Vgl. zum Unterschied zwischen asketischer Selbstkasteiung und der Haltung des „schöpferischen Verzichts“: R. Steiner, „Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen“, GA 132, Vortrag vom 14.11.1911.

[16] Wie Fußnote 8

[17] R. Steiner, „Die Philosophie der Freiheit“, dort Kap. XII, ‚Die moralische Phantasie (Darwinismus und Sittlichkeit)‘.

[18] Ebenda

[19] R. Steiner, „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“, dort: Kap. 18 ‚Psychologisches Erkennen‘.

[Info3, 6/1988, Juni 1988, Seite 10]