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Rudolf Steiner in Berlin 1897 – 1905
Quelle
Zeitschrift „Info3“
11/1984, November 1984, S. 9
Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis der Autorin
Bibliographische Notiz und Zusammenfassung
Als Herausgeber des „Magazines für Litteratur“ kommt Steiner 1897 nach Berlin; seine Arbeit bringt ihn schnell in Berührung mit den geistigen Strömungen der Zeit. Die Atmosphäre in Weimar – Steiner beklagte sich häufiger über die Sterilität und Philistrosität seiner gelehrten Umgebung am Goethe-Archiv – hat er endgültig hinter sich gelassen; das Berlin der Jahrhundertwende ist ein Berührungspunkt der verschiedensten geistigen Strömungen, ein ungeheuer geistiges Spannungsfeld, und Steiner taucht in eine Flut von Menschenbegegnungen ein, die er mit großer Intensität erlebt.
Als Organisator der literarischen Abende der „Kommenden“, die sich jeweils donnerstags im Nollendorf-Casino trafen, lernt er z.B. Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam, Stefan Zweig und Käthe Kollwitz kennen. Ausgesprochen „unbürgerliche“ Menschen verkehren in diesem Kreis, es war üblich, die Nächte durchzureden – die letzte Straßenbahn war ja ohnehin abgefahren – , und es kam durchaus vor, daß jemand keine Unterkunft hatte und die Nacht auf einer Parkbank verbrachte. Diese Lebensweise hatte dann auch Folgen: Der Dichter Peter Hille z.B. trug seine Gedichte sicherheitshalber immer in der Manteltasche bei sich. –
Auf der anderen Seite bringt Steiners gleichzeitige Tätigkeit an der Berliner Arbeiterbildungsschule – als Lehrer für Geschichte, Naturwissenschaften und Redeübungen – ihn in Berührung mit Menschen, die in den monotonsten Arbeitsprozessen stehen und sich abends nach zwölf Stunden in der Fabrik noch einmal aufraffen, um sich weiterzubilden. Steiner wird der gesuchteste Lehrer dort, wohl auch, weil er keinen „abgehobenen“ Unterricht gibt, sondern sich z.B. in den Redeübungen bemüht, die Fähigkeit der Arbeiter zu fördern, eigene Gedanken und Erlebnisse zu formulieren. Er nimmt seine Aufgabe und seine Verbindung zu den Arbeitern so ernst, daß er z.B. auch an ihren Sonntagsausflügen teilnimmt.
Zwischen diesen polaren Menschengruppen – den Künstlern, die am Rande der sich immer mehr ausbreitenden Industrie und Technik versuchen, Entwürfe für eine neue Gesellschaft oder auch nur für die eigene Seibstverwirklichung zu finden und die dabei doch oft nur Luftgebilde schaffen; und den Arbeitern, die die Folgen der Industrialisierung völlig in ihrem persönlichen Leben austragen müssen – bewegt sich Steiners Wirken in Berlin. Dazwischen liegt noch seine Tätigkeit als Regisseur von Stücken, die von den offiziellen Bühnen abgelehnt wurden; seine Lehrtätigkeit an der ersten deutschen Volkshochschule; seine intensive Auseinandersetzung mit dem Anarchisten John Henry Mackay (der bei Steiners erster Heirat Trauzeuge ist); schließlich die Übernahme des Amtes des Generalsekretärs der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft. –
Man sollte das nicht vergessen, wenn man vom „anthroposophischen Sozialimpuls“ redet: daß derjenige, der ihn formuliert hat, der dann 1919 in unzähligen Versammlungen vor Menschen gesprochen hat, eine ungeheure Begabung zum Zuhören, zum Eingehen auf andere Menschen, zur Begegnung gehabt hat. Auch der Sozialimpuls kann seine Quellen letztlich immer wieder nur in dem unmittelbaren lnteresse am anderen Menschen haben. Nur dieses Interesse kann es verhindern, daß man sich mit irgendwelchen Programmen und Theorien weit von der sozialen Wirklichkeit entfernt.