Dreigliederung des sozialen Organismus - Unterdrückte Friedensidee Europas

Quelle
Zeitschrift „Info3“
4/1984, April 1984, S. S.15-16

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Bibliographische Notiz

lm Friedenszentrum Martin-Niemöller-Haus in Berlin fand im Januar diesen Jahres ein Vortrag von Manfred Kannenberg-Rentschler mit anschließendem Gespräch statt. Im Folgenden drucken wir diesen Vortrag ab, in dem versucht wird, der Frage nachzugehen, ob die anthroposophische Bewegung der Friedensbewegung etwas zu sagen hat. Indem er dieser Frage nachgeht, versucht er die Spur der Friedensinitiative Steiners aus dem Jahre 1917 nachzuzeichnen, die eine frappierende Aktualität mit der heutigen Krisenkonstellation hat.

Wie wurde nach dem Scheitern der Memoranden von 1917 die Idee der Entmachtung des Einheitsstaates 1918 und 1919-21 abgeblockt? Inwiefern ist die Waldorfschulbewegung nur ein Fragment dieser Volksbewegung geblieben?

In der extremen Bedrohung der gegenwärtigen Konfrontation gegensätzlicher Blöcke lässt sich die Signatur einer fehlenden sozialen Friedensordnung Mitteleuropas ablesen, deren Elemente in der Dreigliederung des sozialen Organismus zu finden sind. Fruchtbar und tragfähig kann ein gedankliches Eingehen auf diese Elemente auch für denjenigen sein, der seine Aufgabe in unmittelbaren Friedensaktionen sucht. (Vorspann der Redaktion)

Wieso bin ich berechtigt, diese Frage aufzuwerfen: „Hat die anthroposophische Bewegung der Friedensbewegung etwas zu sagen?“ Ich habe sie nicht konstruiert; der eigene tägliche Lebensschauplatz, auf den ich mich gestellt habe, stößt mich darauf; denn auch mit seinem täglichen Kleinkram ist man Glied geistiger Bewegungen. Und da erfahre ich, durch die extreme Bedrohung hervorgerufen, nicht nur Angst, sondern Mut und Bereitschaft, aus Denkgewohnheiten auszubrechen. Das Gewicht der Individualität: Ich muss mich entscheiden. Und da erfahre ich auch, wie eingekapselt sich die Bewegungen voneinander haben; auch solche, die sich vieles zu sagen hätten. Manchem wird gerade jene Bewegung von Menschen besonders abgekapselt vorkommen, die in einer Art unbedingter Treue zu Rudolf und Marie Steiners Werk an der Zukunft zu arbeiten versuchen.

Die soziale Frage wird in der Neuzeit nicht mehr verschwinden. Weder als Brotfrage noch als Rechtsfrage noch als Frage des Zusammenlebens der Menschen. [1] Sie drängt nach Gestaltung durch selbstständige Menschen. Der Einheitsstaat (Allstaat) ist das Überbleibsel der Epoche der Unselbständigkeit. Wir müssen lernen, uns entschlossen dieser teilweise subtilen Fesseln (im Bewusstsein/in den Einrichtungen) zu entledigen. Gerade dabei spielt der Dialog zwischen den geistigen Strömungen eine große Rolle. Ist das nicht der hervorstechendste Zug der Gegenwart: dieser geknebelte Wille zur Selbstgestaltung? Ich werde versuchen anzudeuten, inwiefern Geisteswissenschaft Hilfen bereithält für den Befreiungsprozess.

In diesem Sinne glaube ich etwas beitragen zu können für ein solches gemeinsames Geschichtserlebnis, das einen konstruktiven Widerstand gegen die Hypertrophie der Macht und Rüstung aussichtsreicher macht. Dieser Beitrag hat einen mehr entwicklungspsychologischen (Erkenntnis-) Pol und einen Pol soziologischer und geschichtlicher Manifestation. Im Sozialen sind ja Gedanken Wirklichkeiten, und es gibt kein Fortkommen, wenn Menschen es nicht bewusst wollen. So lässt sich fragen: Was schlummert im Schoße des Sozialen und fordert immer wieder neu zu schaffende Aufmerksamkeit?

Woran krankt das soziale Leben am meisten? An einer ungeheuren Gedankenlosigkeit, oder genauer: Gedankenarmut. Selbst da, wo Gedanken fast industriell fabriziert werden, tendieren sie zur Abstraktion, Ideologie, Programmatik – ungeeignet zur unmittelbar praktischen sozialen Gestaltung. Die Art, wie wir in dieses Gedankenleben hineingeschult werden, taugt oft nur, „unser Gehirn zu vermieten“. (Bettina Wegner in einem ihrer Lieder) So kommen viele auf die Forderung der Entschulung oder auch Abschaffung der Schulen (Illich). – Waldorfpädagogen haben eine andere Konsequenz gezogen aus dem beschriebenen Mangel. Man kann dieser Pädagogik der Freiheit ihre Berechtigung wohl kaum absprechen. Ein Stichwort: Schule muss uns befähigen, vom Leben zu lernen.

In dem heute zu besprechenden Zusammenhang will ich auf das dieser Pädagogik innewohnende soziale Gestaltungsprinzip hinweisen, weil es als Ideal für alle Schulen gilt: Selbstverwaltung und Selbstverantwortung durch Lehrer und Eltern! Welche produktiven, fruchtbaren Kräfte sind in der bürokratisierten Bildungslandschaft gefesselt! So berechtigt die Verstaatlichung des Bildungslebens gegenüber den Feudalstrukturen einmal war, so verhängnisvoll wirkt sie sich gegen mündige Menschen aus. Hier ist eine der Fesseln des Einheitsstaates, die es zu sprengen gilt. Dies geschah 1919 bei der Gründung der Waldorfschulbewegung. Aber wohlgemerkt, das war eine Initiative für die gesamte Öffentlichkeit; in der Dreigliederungsbewegung wurde für ein soziales Strukturgesetz breite Einsicht gesucht. Weil diese Einsicht fehlte oder bekämpft wurde, sollte man deswegen ganz auf Waldorfpädagogik verzichten? Aber ihre volle Berechtigung kann sie nur in einem gegliederten Organismus erlangen, weil dann jedem Kind bis zum 18. Lebensjahr eine allgemeine Bildung zustünde. Das würde wirkungsvoll die Klassengegensätze abbauen, die viel mehr im verstaatlichten privilegierten Bildungswesen wurzeln, als wir uns oft klarmachen. Was ist unser wirkliches Gemeineigentum? Ein freies und dadurch sozial fruchtbares geistiges Leben, an dem alle teilhaben. Undenkbar? – Oder sind wir zu feige, ein auf die Kraft des Individuellen gebautes soziales Leben zu denken?

Damit sind wir bei einem Angelpunkt der Soziologie der Dreigliederung und ihrer geschichtlichen Bedingungen. Aber beleuchten wir vorher die geistigen Bedingungen des Einzelnen als dem Wirklichkeitsfaktor des Sozialen. Denn irgendwie muss ich Stellung nehmen, wozu denn Anthroposophie der herkömmlichen Philosophie verhelfen will: Philosophie der Freiheit. Nicht Wissen ist Macht, sondern Erkenntnis wandelt den Menschen und dient dem Zusammenleben. Der Erkenntnisprozess ist ein selbstgewollter Entwicklungsprozess über das Alltagsbewusstsein hinaus. Es ist ein Vorurteil dieses Alltagsbewusstseins, dass meine Begriffe bloße inhaltslose Abziehbilder sind. Eine so argumentierende Erkenntnislehre bleibt dualistisch, außerhalb, hypothetisch – die Folgen kennen wir. Eine radikale Selbstbeobachtung des Erkennens zeigt etwas anderes: Die Welt ist nichts ohne mein inhaltvolles Denken. Da beginnt der anthroposophische Übungsweg. Das hat Rudolf Steiner in seiner Dissertation und den darauf aufbauenden Schriften ausgeführt. [2]

Diese Andeutung muss genügen. Aber diese Entwicklungsbedingung des Einzelnen ist der Drehpunkt der sozialen Dreigliederung. Der konkrete Mensch in seiner selbst errungenen inneren Selbstständigkeit muss immer mitgedacht werden bei der Durchdringung der sozialen Ordnung. Er kann nicht als psychischer Faktor nachträglich zu einem abstrakten System hinzuaddiert werden. – Welche Welten liegen zwischen einem solchen mitteleuropäischen Freiheitsbegriff [3] und dem westlichen, der sagt: Freiheit ist, was dem Einzelnen nützt bzw. zur politischen Machtausübung taugt! Aus dieser Einsicht kann die Überzeugung resultieren, dass eine Gesellschaft erst dann menschlich wird, wenn der Staat sich auf die Verwaltung und Gewährung der Menschenrechte zurückzieht unter Ausschaltung aller wirtschaftlichen und weltanschaulichen Interessen. Der Staat kann nicht freie Menschen erziehen, aber er kann den Boden sichern, auf dem freie Erziehung gedeihen kann. Das ist eine erste Friedensbedingung. Politiker allein können gar keinen Frieden machen (vgl. Waffenstillstand seit 1945)

1917 sollten diese Ideen durch Rudolf Steiner einfließen: die Dreigliederung als geschichtlich geforderte Grundstruktur für eine soziale Neuordnung: Beschränkung des Staates auf das reine Rechtsgebiet, Eigenverantwortung und kooperative Organisation im Wirtschaftsleben, Autonomie für das Erziehungswesen; damit die Fähigkeit zur Selbstbestimmung als Erziehungsziel, ohne dass staatliche und wirtschaftliche Nützlichkeitserwägungen eine Rolle spielen sollen.

Was kann uns diese Initiative heute bedeuten? Sie könnte dazu beitragen, ein geschichtliches Gewissen auszubilden und die Zukunft zu gestalten. Der Gegensatz zwischen individueller und Volksfreiheit ist durch sie in einer bestimmten historischen Situation in Mitteleuropa als produktiv beschrieben. – Das Jahr 1917 stellt der Tragik die Weichen, dass die Mitte ihre geistig veranlagte Mittlerrolle verlieren konnte. Man vergleiche Leo Trotzkis Bemerkung über Kühlmann mit Steiners Einschätzung der Aufgabe dieses Diplomaten [4]. – Steiner hat immer wieder auf die abstrakte verhängnisvolle Friedensformel der Völkerbefreiung hingewiesen [5]. 1916 hatte W. Wilson die Selbstbestimmung des Volkes und den Völkerbundgedanken proklamiert. 1918 gingen die Mittelmächte auf die 14 Punkte Wilsons ein. Die Friedenslösung Mitteleuropas ist die Dreigliederung. Der Wilsonianismus hat durch das falsche nationale Prinzip immer neues Unheil geschaffen (vgl. Palästina-Israel, Zypern, Kreta u.a.).

So wurde der Einheitsstaat konserviert als Dynastie mit neuen Regierungsmechanismen, Staatsräson, Machtentfaltung, Ausdehnung. Der Einzelne wird dem Interesse des Staates geopfert. Die weltbürgerliche Bewusstseinslage kann sich nicht artikulieren.

Was ist Geschichtsfälschung? So zu tun, als sei diese Friedensinitiative gar nicht geschehen, als sei die Idee der Dreigliederung dem Westen und Osten nicht gegenübergestellt worden. Diese Geschichtslüge hat die furchtbaren Entschlüsse von 1951 (Wiederaufrüstung) und vom November 1983 (Nachrüstung) vorbereitet. Es ist kein Zufall, dass die Historikerin, die mit der Geschichtsfälschung aufräumte, Renate Riemeck, die erste Hochschullehrerin ist, die nach der Restauration der Bundesrepublik mit Berufsverbot belegt wurde [6]. Für mich ist sie eine der ersten „Frauen für den Frieden“ der Nachkriegszeit.

Wenn die Stufe der geistigen Selbstständigkeit nicht bloß Phrase ist, sondern durchlebbar, wenn man dem Einzelnen seinen „inneren Kriegsschauplatz“ zugesteht, dann wird Weltgeschichte zum Lernprozess für das menschliche Bewusstsein. Daraus werden soziale Strukturen, denen die freie Individualität ihre Gesetze gibt, soziales Gleichgewicht durch die rechtsschöpferische Potenz des Menschen. Kommt die Herausgliederung des Bildungs- und Kulturlebens aus Wirtschaftskreislauf und Staatszugriff nicht, dann ist dreifacher äußerer Krieg die Folge: Selbsterhaltungstrieb der Nationen durch den Irrtum der kollektiven Freiheit, Wirtschaftskriege, ideologische Kriege.

Ich möchte zum Schluss den Umlernprozess, in dem wir mit unserem sozialen Bewusstsein stehen, noch konkreter illustrieren: am Kreislauf der Produktionsmittel und dem Nadelöhr eines neuen Rechtsbewusstseins dieser Frage gegenüber. [7] In einem Vortrag in Berlin am 12.10.1905 (Unsere Weltlage. Krieg, Frieden und die Wissenschaft des Geistes) [8] hat Rudolf Steiner entwickelt, woher die Triebe, Leidenschaften und Kämpfe trotz der Friedensidee ihre Stärke nehmen: Der Kampf ums Dasein (Darwin) ist zur tatsächlichen Wirklichkeit geworden. Die Nationalökonomie hat den Kampf zurück auf die Menschenwelt projiziert. Und er stellt dem gegenüber die Forschung von Keßler und Kropotkin (1880), die das genaue Gegenteil zeigt: diejenigen kommen am weitesten, die das Prinzip der gegenseitigen Hilfe am meisten im Leben ausgeprägt haben. Die Entwicklung ist dort am weitesten, wo an die Stelle des Kampfes der Friede tritt. Und er empfiehlt die Lektüre Kropotkins, um sich ein Sehen mit den Augen des Geistes anzueignen.

Blicken wir auf unseren wirtschaftlichen Kampf aller gegen alle, der wie eine Ideologie und ein Zwangsverhalten über der Realität der Arbeitsteilung, also des Arbeitens füreinander, liegt. Das uneingeschränkte Herrschaftsrecht über Produktionsmittel, die Verkäuflichkeit und Vererbbarkeit von Kapital, das Lohnsystem und die ungebändigte Geldvermehrungstendenz verursachen dies. Trotz Aalener Programm und anderen Einsichten [9] sind diese Weichen nach dem Zusammenbruch restauriert worden. Im gegliederten Eigentumsrecht an Produktionsmitteln, in den assoziativen Organen der Bedarfsdeckungswirtschaft, im Kauf-, Leih- und Schenkungskreislauf des Geldes weist die anthroposophische Sozialforschung Wege, um diese Schäden des sozialen Organismus zu überwinden.

Anmerkungen

[1] Die sieben Stufen der sozialen Frage entwickelt Hans Georg Schweppenhäuser in: Das soziale Rätsel Heft 1 bis 14. Berlin und Freiburg 1966

[2] Rudolf Steiner, Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit (1891), mehrere Auflagen, Dornach
Ders., Die Philosophie der Freiheit (1894), mehrere Auflagen, Dornach
Ders., Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (1886), mehrere Auflagen, Dornach

[3] Vgl. hierzu Renate Riemeck, Mitteleuropa. Bilanz eines Jahrhunderts. Frankfurt 1983. (Fischer Taschenbuchverlag, Zweite Auflage) S. 44 ff.

[4] Leo Trotzki, Mein Leben, Frankfurt 1974 (Fischer Taschen-buchverlag), S. 317, sowie N.G. Schweppenhäuser, Das soziale Rätsel. Heft 10: Die soziale Frage als Gesellschaftsfrage, 2. Teil, S. 67 ff.

[5] s.a. R. Riemeck, a.a.O.: S. 187 ff.
s. R. Boos, „Rudolf Steiner während des Weltkrieges“, Dornach o.J

[6] Klaus Wagenbach (Hrsg), „Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat 1943 bis heute“, Berlin 1979, B. 177

[7] H.G. Schweppenhäuser, Das soziale Rätsel. Heft 7, S. 477 f und ders., Das soziale Rätsel: Heft 9, S. 94

[8] R. Steiner: „Die Welträtsel und die Anthroposophie“, Dornach 1966.

[9] H.G. Schweppenhäuser, „Die Macht des Eigentums“, Stuttgart 1970, S. 14.