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Die Dreigliederungsbewegung heute
Quelle
Zeitschrift „Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus“
14. Jahrgang, Heft 1/2, Oktober 1972, S. 23–26
Bibliographische Notiz und Zusammenfassung
Die folgende Darstellung wurde im vergangenen Herbst für die „Mitteilungen aus der Arbeit der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland“ geschrieben in der Hoffnung, daß sich dadurch bei vielen Mitgliedern unserer Gesellschaft ein neues Interesse für die so brennenden sozialen Fragen unserer Zeit wecken ließe. Dies schien mir wichtig, weil die Gegensätze bei der Tagung und Mitgliederversammlung 1971 in Berlin kräftig aufeinandergeprallt waren und jetzt eine - im positiven Sinn zu nehmende - offene Situation eingetreten war. Leider wurde der Artikel nicht abgedruckt. Hätte er zu viel Wirbel gemacht? Das möge der Leser selbst entscheiden. Ich habe jedenfalls versucht, die Lage möglichst objektiv darzustellen:
„Die Dreigliederung hat in unserer Gesellschaft jahrzehntelang ein Mauerblümchendasein geführt. Sie erscheint vielen Mitgliedern als etwas Fremdes, zwar Ideales, aber doch schwer Durchschaubares, um das man ganz unbewußt einen Bogen macht ; ebenso um „die Dreigliederer“ unter uns, die als idealistische Weltverbesserer halb bewundert und halb belächelt werden. Sie studieren seit vielen Jahren mit großer Hingabe Rudolf Steiners soziale Schriften, halten Tagungen ab, diskutieren heftig z.B. über Geldprobleme, über Eigentum, Lohn und Preis, um am Tage X, „wenn die Dreigliederung eingeführt wird,“ Bescheid zu wissen und aktiv mitwirken zu können.
Immer wieder konnte man bei den großen Jahrestagungen der deutschen Landesgesellschaft beobachten, wie diese Art, die Dreigliederung unter uns zu vertreten, in der Mitgliedschaft kein Echo fand. Mit tiefem Schmerz haben die sogenannten Dreigliederer immer wieder erleben müssen, daß für die soziale Frage, die doch für Rudolf Steiner eine so entscheidende war, offenbar heute in unserer Gesellschaft wenig Verständnis ist. Und man fragte sich immer wieder: Warum ist das so? Selbst in diesem Jahr, als der Impuls der Dreigliederung mit neuer Kraft und, wie noch zu zeigen sein wird, auf ganz neue Art in Erscheinung trat und viele Freunde stark ergriffen hat, schweigen die Berichte, die bisher über Tagung und Generalversammlung erschienen sind, zu diesem Thema! Warum?
Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite wird von anthroposophischen Freunden seit dem Ende des zweiten Weltkrieges sehr viel Aktivität auf sozialem Gebiet entfaltet und zwar durch die Gründung und Entwicklung der verschiedenartigsten Institutionen, die alle in gewisser Weite aus der Gesinnung der Dreigliederung heraus geführt werden und - hier mehr, dort weniger gut gelungen - bis in die Verfassung hinein, in die Art des Zusammenwirkens der Menschen, „dreigliedrige Züge“ tragen. Man denke an die Waldorfschulen, die Heilpädagogischen Heime - ganz besonders ausgeprägt in der Camphill-Bewegung - und in den letzten Jahren
[Beiträge, Oktober 1972, S. 23]
an die Einrichtungen im Ruhrgebiet, die Gemeinnützige Treuhandstelle, die Gem. Kreditgarantiegenossenschaft, die Kooperationsgesellschaft oder an die Klinik in Herdecke.
Ferner haben eine ganze Anzahl von anthroposophischen Unternehmern in ihren Betrieben das ihnen möglich Erscheinende getan, um die Betriebsstruktur im Sinne der Ideen Rudolf Steiners zu verwandeln. Da gibt es manche fruchtbaren Ansätze, die hier nur kurz mit den Stichworten Neue Betriebsverfassung (z.B. als konsultativer Betrieb oder Partnerschaft) und Stiftung umrissen werden können. Viele dieser anthroposophischen Freunde vertreten ganz eindeutig die Auffassung, es sei sinnlos, die Dreigliederung als gesellschaftliches System insgesamt zu vertreten, weil man ja da nichts ausrichten könne und weil das Warten auf „den Tag X“ unsinnig sei - eine reine Utopie; man könne nur an der Stelle, an die man mit seinem Lebensberuf gestellt ist, im Sinne der Dreigliederung umwandelnd tätig sein. Es gelte, von sich selbst ausgehend, in seiner unmittelbaren Umgebung zu wirken und durch die mit Freunden gemeinsam geschaffenen Institutionen immer weitere Kreise für die Idee der Dreigliederung zu gewinnen.
Zu dieser Auffassung habe ich mich auch jahrelang bekannt. Und man kann beobachten, daß die zuerst geschilderten „Dreigliederer“ meist der älteren Generation angehören, die z.T. sogar noch Rudolf Steiner im Jahr 1919 selbst erlebt hat, während die dann erwähnten in bestimmten Institutionen Tätigen aus der mittleren Generation kommen.
Und nun taucht seit zwei, drei Jahren ein drittes Element unter uns auf: Die Jungen! Sie stellen mit Temperament die Antithese zur Auffassung „der Mittleren“ hin: die von Rudolf Steiner aus der Menschheitssituation der Gegenwart unmittelbar abgelesene Idee einer inneren Gliederung der sozialen Bereiche in ein freies Geistesleben, ein demokratisches Rechtsleben und ein aus der Brüderlichkeit heraus getragenes Wirtschaftsleben, also die „Dreigliederung“, könne nur als Gesamtidee verstanden und realisiert werden; der Einzelne könne niemals „dreigliedrig tätig sein“, aber die gesamte korrupte Gesellschaftsstruktur des Westens und ebenso die von den pseudosozialistischen Parteien in völliger Unfreiheit gehaltenen Gesellschaftsordnungen des Ostens müssten von Grund auf revolutioniert werden; und das kann nur durch Bewußtseinsweckung auf breiter Basis geschehen: also durch Aktivität in der Öffentlichkeit - und zwar in großem Stil. An dieser Stelle treffen sich die Jungen wieder mit den ganz Alten, und es kommt zu manchen fruchtbaren Begegnungen und Aussprachen.
Wer nun unvoreingenommen die Argumente der jüngeren Freunde prüft, Gespräche mit Schülern und Studenten miterlebt und dabei Rudolf Steiners wirkliche Absichten im Hintergrund hat, der kann sich unmöglich der Echtheit und Überzeugungskraft der „neuen Dreigliederungsbewegung“ verschließen. Er beginnt zu ahnen, daß die offene Situation, die Rudolf Steiner 1919 - nach dem Ende des ersten Weltkrieges - in der Arbeiterschaft fand und deshalb auch dort den Hebel ansetzte, um etwas ganz Neues an die Stelle der alten, nicht mehr tragfähigen Gesellschaftsordnung zu setzen, heute in der studierenden Jugend wieder
[Beiträge, Oktober 1972, S. 24]
auftritt: das „Proletariat des Wirtschaftslebens, die schwer arbeitende, abhängige und schlecht bezahlte Arbeiterschaft von damals, existiert heute nicht mehr, aber es gibt eine Art „Proletariat des Geisteslebens“, junge Menschen, die andere Vorstellungen über ein Zusammenleben der Menschen aus der geistigen Welt mitbringen und sich mit Recht gegen die herrschende Gesellschaftsordnung auflehnen. Genaue Vorstellungen über das, was an seine Stelle treten soll, können sie - ihrem Alter entsprechend - freilich noch nicht haben; so nehmen sie alles zwar kritisch, aber mit vollem Engagement auf, was ihnen angeboten wird: und das ist heute zu allererst der Marxismus-Leninismus. Wir haben deshalb als Anthroposophen die Verpflichtung, diesem heute nur zu mächtig wirkenden Einfluß aus dem Osten die mitteleuropäische Idee der Dreigliederung entgegenzustellen. Und zwar bei jeder nur möglichen Gelegenheit: zu allererst in den Waldorfschulen, aber ebenso auch durch Arbeitsgruppen an den Universitäten, in Betrieben usw. Die Aufgabenstellung ist es, eine Bewußtseinsbildung in der Öffentlichkeit für die Dreigliederung zu erreichen und zwar in erster Linie bei der jungen Generation. Dieser Aufgabe haben sich die „Aktionsgruppen für Dreigliederung“ in vielen deutschen Städten und, als deren Kern, das „Internationale Kulturzentrum Achberg“ bei Lindau ganz besonders verschrieben.
In Berlin konnten wir nun zwei wichtige Erfahrungen machen: im „Seminar für Dreigliederung“ an den Nachmittagen der Tagung trafen sich die drei oben geschilderten Strömungen der Dreigliederungsbewegung zu einem sehr lebhaften Gedankenaustausch, und als Ergebnis der Gespräche kristallisierte sich am Schluß klar heraus: man kann die Dreigliederung auf dreierlei Art vertreten
- durch das eigene Studium und interne sozialwissenschaftliche Zusammenarbeit (Grundlagenarbeit)
- durch Gründung von beispielgebenden Institutionen ( „Modellen“) auf Teilbereichen des sozialen Lebens
- durch Öffentlichkeitsarbeit auf breitem Felde im Sinne der Bewußtseinsbildung für eine neue gesamtgesellschaftliche Ordnung.
Und das Wichtigste: die drei Richtungen müssen zusammenwirken, weil sonst jeder für sich allein unfruchtbar bleibt und die darin tätigen Freunde allzuleicht der Gefahr der Einseitigkeit erliegen, sei es als weltferner Idealist in der Studierstube, sei es als blinder Aktivist, der die Zusammenhänge verliert, oder schließlich als fanatischer politischer Dauerredner! Diese Extreme gilt es zu überwinden. Wir haben uns deshalb im Kreis der anwesenden Freunde vorgenommen, zwar Toleranz gegenüber der Eigenart des Andersdenkenden zu üben, ihm aber doch auch gründlich die Meinung zu sagen, wenn er uns in die Einseitigkeit zu geraten scheint. Dazu war in Berlin durchaus Gelegenheit. Und das Zusammenhalten der so verschiedenartigen Freunde hat sich als Hilfe für die gemeinsame Sache erwiesen.
[Beiträge, Oktober 1972, S. 25]
In der Generalversammlung ergab sich dann das Bild, daß die neue Dreigliederungsbewegung, vor allem vertreten durch die Achberger Freunde, sich immer wieder mit Vehemenz Platz zu verschaffen suchte, aber keinen rechten erhielt, weil dieses Thema nicht auf der Traktandenliste stand. Was sich so spontan aus der Seminararbeit heraus als vordringliches Anliegen ergab - die gründliche Information der Mitgliedschaft über die Forderungen der Jugend an die Anthroposophische Gesellschaft auf sozialem Feld - wurde entweder weggeschoben oder brach sich selbst an unpassender Stelle Bahn, so daß man als Beobachter hin- und hergerissen war zwischen Zustimmung (inhaltlich) und Ablehnung (zeitlich). Wer dabei war, wird das bestätigen; nur, daß das inhaltliche Anliegen bei einem Teil der Freunde die Oberhand gewann, der formale Aspekt bei anderen.
Die Art, wie junge Menschen Diskussionen führen, ist völlig offen und kennt wenig Formvorschriften. Je freier, desto besser! Die Art, wie wir Generalversammlungen abzuhalten gewohnt sind, hält sich an ziemlich strenge Formen - aus Erfahrung! Wir wollen aber junge Menschen in der Gesellschaft haben. Wir sind glücklich, wenn sie auftreten und Initiative zeigen. Also muß das Problem der rechten Form eines gemeinsamen Gesprächs klar gesehen und gelöst werden. Ich meine, das könnte durch ein Entgegenkommen von beiden Seiten in Zukunft möglich werden. Die Wichtigkeit der Aufgabe - die Verbreitung der Dreigliederungsidee auf neue, zeitgemäße Art - rechtfertigt alle gemeinsamen Anstrengungen.“
So weit der Bericht vom vergangenen Jahr. Inzwischen hat eine gründliche und von gegenseitigem Verstehen getragene Aussprache zwischen dem Arbeitskollegium und Beirat der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft und den Achberger Dreigliederungsfreunden stattgefunden, von der bei der Generalversammlung 1972 in Bremen in humorvoller Weise berichtet wurde. So weit - so gut. Aber die so sehr notwendige intensive Zusammenarbeit der drei verschiedenen Dreigliederungsströmungen gestaltet sich nach wie vor nicht einfach. Am 5./6. Februar 1972 kam eine Anzahl Freunde - etwa 30 - zum „Sozialwissenschaftlichen Colloquium“ in der Rüspe zusammen; dort bemühten wir uns, zur Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft für Dreigliederungsinitiativen“ zu kommen, die auf der folgenden Basis zusammenarbeiten will:
1) Allgemeine Ebene: Die Dreigliederung des sozialen Organismus als gesamtgesellschaftliche Konzeption (Freie Kultur, Demokratischer Staat, Assoziativer Sozialismus in der Wirtschaft) ist die tragende Idee, die alle zugrundelegen. Außerdem ist „aktive Toleranz“ die Bedingung für eine fruchtbare Zusammenarbeit.
2) Individuelle Ebene: unsere Aufgaben sind
- die wissenschaftliche Erarbeitung der Idee und ihrer einzelnen Probleme
- das Schaffen von lebenskräftigen Institutionen im Sinne der Dreigliederung
- die Verbreitung der Dreigliederung in der Öffentlichkeit.
[Beiträge, Oktober 1972, S. 26]
Auf der ersten Ebene geht es um die Anerkennung der gemeinsamen Basis, auf der zweiten um die individuelle und persönliche Vertretung einer bestimmten Aufgabe. Hier können die Wege auseinandergehen.
Eine eigentliche Gründung kam nicht zustande. Dazu war die Zeit noch nicht reif. Aber das macht vielleicht auch nichts: wichtiger scheint mir, daß wir dennoch initiativ bleiben, jeder auf seinem Feld, und daß wir daran weiterarbeiten, uns „zur rechten Stunde“ zu vereinigen.
[Beiträge, Oktober 1972, S. 27]