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Eine Erinnerung an die Dreigliederungsarbeit mit Rudolf Steiner
Quelle
Beiträge zur sozialen Dreigliederung
Jahrgang 5, Heft 3-4, Dezember 1960, S. II-IV
Bibliographische Notiz
Es sei mir erlaubt [...] daran zu erinnern, daß vor jetzt genau 42 Jahren sich drei Persönlichkeiten Herrn Dr. Steiner für die Verbreitung seiner Sozial-Ideen zur Verfügung gestellt hatten, nämlich die Herren Kommerzienrat Emil Molt, Fabrikant Dr. Carl Unger und, als damals Jüngster und heute allein Überlebender, der Unterzeichnete. In der Schweiz folgte Herr Dr. Roman Boos unserem Beispiel. Mit dem Ausbruch der Revolution am 9. November 1918 begann eine überaus bewegte, hochinteressante Zeit für uns, weil wir von Rudolf Steiner aufgefordert wurden, uns aktiv an dem Geschehen zu beteiligen und zu helfen, wo wir könnten, „damit nicht alles in die falsche Richtung gehe“. Wir berichteten ihm jeden Abend von den Ereignissen des Tages und erhielten neue Direktiven für den nächsten Tag.
Im Laufe des Winters 1918/19 wurde – als eine Vorstufe des assoziativen Wirtschaftens – die Idee einer Art Treuhandbank ausgearbeitet. Leider ist der Wortlaut dieses Entwurfes bisher nicht wieder aufgefunden worden. Roman Boos erwähnt diese Bestrebungen in seinem Buche „Vom Wesen der Anthroposophie Rudolf Steiners – in memoriam Carl Unger“ (Phil. Anthrop. Verlag, 1929) indem er einen von Dr. C. Unger im Jahre 1927 verfaßten Artikel zum Abdruck bringt. Da dieser heute weitgehend vergessene Artikel die damaligen Absichten in der Unger eigenen machtvoll-sachlichen Sprache deutlich schildert, sei er hier wieder zum Abdruck gebracht:
„In einer Zeit, die wieder einmal vor lösbaren Fragen des Wirtschaftslebens steht, in der alles zu neuen Katastrophen im Leben der Völker drängt, gerade weil die wirtschaftlichen und damit die sozialen Fragen nicht gelöst werden können, interessiert es vielleicht, was Menschen gedacht und empfunden haben, die inmitten schwerster Zusammenbrüche und allgemeinster Hilflosigkeit aller in Betracht kommenden Faktoren und Instanzen den Mut hatten, neue Ideen tatkräftig ins Werk zu setzen, weil sie erleben konnten, wie einzig aus der von Rudolf Steiner inaugurierten Anthroposophie oder Geisteswissenschaft Ideen fließen, die frei von Routine und Vorurteil den Tatsachen und Notwendigkeiten gerecht werden können.
Wieder zeigt sich die furchtbare Armut an Ideen, der Mangel an initiativen Persönlichkeiten, an moralischer Phantasie im Sinn von Steiners ‚Philosophie der Freiheit‘. Man fühlt instinktiv, daß große, weltumspannende Regelungen notwendig wären, und fällt doch immer nur in Altgewohntes zurück.
Rudolf Steiners Wirken ging aus seiner umfassenden Erkenntnis immer auf Erneuerung und Fortentwicklung zentralen Menschentums. Die Anwendung seiner Erkenntnisart auf die soziale Frage mußte bei allen Kennern seines Wirkens auf größte Aufmerksamkeit treffen. Schon 1905 hatte er grundlegende Aufsätze über die soziale Frage veröffentlicht, namentlich im Hinblick auf bestimmte Einrichtungen des Wirtschaftslebens. Seit 1917 waren mir seine Vorschläge zur Dreigliederung des sozialen Organismus, mit denen der Krieg beendet und liquidiert werden sollte, bekannt. Dazu hätte es des Verständnisses der damaligen Machtfaktoren bedurft. Sie haben völlig versagt.
Im September 1918 wurden mir Tatsachen bekannt, die nicht nur auf den unvermeidlichen Zusammenbruch der deutschen Westfront, sondern auch der sozialen Innenfront hinwiesen. Die maßgebenden Stellen waren bis herunter zu den zivilen Behörden ratlos und gegenüber den revolutionären Bewegungen lethargisch. Da hörte ich Ende Oktober bis zum 6. November 1918 die Vorträge Rudolf Steiners am Goetheanum in Dornach, in denen er schonungslos die Hüllen von dem blutenden sozialen Körper herunterriß und alle Versäumnisse der bürgerlichen Welt im geistigen, politischen und wirtschaftlichen Feld in voller Schärfe brandmarkte.
Da mußte insbesondere der aktive Wirtschafter sich klar sein, daß die Zeit der Erörterungen endgültig vorüber sei und nur unmittelbares Handeln das Gebot der Stunde war. Das Ziel war klar, die Ideen reif zur Verwirklichung; der Punkt zum Angreifen war jede sich bietende Gelegenheit. Das unmittelbar zunächst Liegende mußte unter der Impulskraft der Ideen mit moralischer Phantasie angepackt werden. Ein Beispiel hierzu soll kurz erzählt werden:
[Beiträge, Jahrgang 5, Heft 3-4, S. II]
Unmittelbar nach dem Sturm vom 9. November tauchte das furchtbare Gespenst der Wirtschaftsnot auf. Arbeitslosigkeit, Hungersnot, Kapitalmangel, Marasmus jeder industriellen Tätigkeit. In der Industrie wurde weiter Kriegsmaterial hergestellt, weil einfach keine andere Arbeit in den auf den Krieg umgestellten Betrieben vorhanden war. Das war vollkommen sinnlos. Mit den Arbeitern war durchaus zurecht zu kommen, denn sie wollten arbeiten und verlangten nach sachverständiger Führung; sobald man ihnen Vertrauen entgegenbrachte, gingen sie mit. Vor dem Bonzentum ihrer Gewerkschaftler und Politiker war ihnen rasch übel geworden. Wirkliche Ideen mußten fruchtbar werden, der Boden war durchgepflügt und verlangte nach Aussaat.
Nun erinnere ich mich sehr lebhaft eines Gesprächs unter vier Augen mit einem bekannten Industriellen, dem die Forderungen Rudolf Steiners durchaus vertraut waren. Das Gespräch fand am 7.November in der Nacht in Zürich statt; es war veranlaßt durch die oben erwähnten Vorträge Rudolf Steiners am Goetheanum. Die Frage war, wie Industrielle im freien Entschluß ihre Betriebe sogleich in einer solchen Weise zwischen Kapital und Arbeit stellen könnten, daß dadurch ein Übergang zur Dreigliederung des sozialen Organismus von der Seite der Wirtschaft her angebahnt werden könnte. Da bot sich die Idee der „treuen Hand“ als einer frei zu schaffenden Stelle, um Kapital, Sachverständigkeit und Arbeit in ein rechtes Verhältnis zu bringen, bis aus dem Beispiel heraus das Verständnis erwachsen würde für die dem Wirtschaftsleben notwendigen Assoziationen, die, unabhängig vom Staat, und von einem freien Geistesleben befruchtet, den Neuaufbau der Volkswirtschaft und ihre Überleitung zur Weltwirtschaft leisten sollen. – Die Unterredung war keine theoretische Erörterung, sondern, da sie unter Wirtschaftern geführt wurde, stand praktische Entschlußkraft zum gemeinsamen Handeln zugrunde.
Kurze Zeit darauf fanden sich dieselben Persönlichkeiten mit einigen anderen zusammen, um die Idee der treuen Hand in der an den Tatsachen abgelesenen Metamorphose zur Bannung des Gespenstes der Wirtschaftsnot ins Werk zu setzen. Der Plan war kurz der, daß die Wirtschaft, d.h. in diesem Falle die Industrie, über das unmittelbar erreichbare Gebiet hin unverzüglich zur Friedensproduktion zurückkehren sollte, unbekümmert um die zunächst fehlenden Aufträge. Die dazu nötigen Kredite sollten durch eine Treuhand-Gesellschaft aufgebracht werden, die dagegen die hergestellten Friedenswaren übernehmen sollte. Das Wichtigste war die sofortige Aufnahme der Friedensproduktion. Damit wäre eine Stelle geschaffen gewesen, die zentral an den unbedingt zu erwartenden Konsum herankommen und die relative Abhängigkeit der verschiedenen Produkte voneinander und vom Konsum selbst regeln konnte.
Man bedenke, welche Werte dadurch geschaffen werden konnten und welche Ersparnisse an Wertvernichtung erzielt worden wäre; man ermesse die Wirksamkeit gegen die immer mehr fortschreitende Inflation, die dann, nachdem Monate versäumt waren, die rasch einsetzende Hochkonjunktur auffraß. Das alles könnte zahlenmäßig belegt werden, unabschätzbar ist der moralische Wert, der errungen worden wäre, und der sich gewiß bei den Verhandlungen in Versailles ausgewirkt hätte und zwar, wie heute leicht durchschaubar ist, für alle Beteiligten.
Die Idee leuchtete sofort ein den Volkswirten, einigen Wirtschaftern und maßgebenden Behörden (Finanz- und Arbeitsministerium); Arbeiter, mit denen man sprach, waren begeistert; sogar die juristischen Einwände insbesondere in Fragen des Pfandrechtes konnten leicht überwunden werden. Die Frage war nun, wie das Anfangskapital zu beschaffen sei; sie regelte sich merkwürdig glatt. Binnen zwei Tagen war folgendes erreicht; Die Reichsbank war bereit, eine Reihe von Millionen (etwa 60prozentiger Papiermark) zur Verfügung zu stellen, und das Finanzministerium wollte die Garantie dafür übernehmen! Nur eine Bedingung war dabei: Die Industrie sollte ihrerseits ihr Interesse praktisch bekunden und dieselbe Summe zeichnen, war gar nicht schwer war, denn ganz erhebliche Zeichnungen wurden sofort geleistet.
Dann aber wurde ein Fehler begangen: es wurde eine Großbank herangezogen, und von dieser Seite her wurde Mißtrauen gesät, ein Aufschub gefordert und kostbare Zeit vertan. Die Banken wollten die Idee selbst aufgreifen; es wurde die ganze Angelegenheit auf das falsche Geleise reiner Finanzkonstruktion geschoben und damit die volkswirtschaftlich-technische und soziale Seite abgewürgt. Dann kam die Trägheit des Herzens ... Zuletzt wurde ein lächerliches Mäuschen einer von Banken gespeisten Treuhandgesellschaft gewöhnlichsten Formats geboren.
[Beiträge, Jahrgang 5, Heft 3-4, S. III]
Carl Unger hatte auch den Sozialisten Vorschläge für ein verbessertes Parteiprogramm im Sinne eines freien Geisteslebens gemacht, zu deren Formulierung Rudolf Steiner seine hilfreiche Hand bot. Leider ist auch dieser Wortlaut bisher nicht wieder aufgefunden worden. Diese Ereignisse spielten sich ab, bevor das Buch „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ erschienen war, als die Revolution, welche das hergebrachte bürgerliche Klassensystem hinwegfegte, sich noch in vollem Flusse befand. Damals war Rudolf Steiner noch nicht an die breite Öffentlichkeit getreten mit seinen Vorschlägen für eine Dreigliederung des sozialen Organismus. Über die Anfänge der großen Bewegung, die mit dem Aufruf „An das deutsche Volk und an die Kulturwelt“ im Frühjahr 1919 begann, werden im nächsten Heft weitere Erinnerungen folgen.
Hans Kühn
[Beiträge, Jahrgang 5, Heft 3-4, S. IV]