Illustration zum Prinzip «Ausgleich von Kollektivismus und Individualismus»

Quelle: GA 079, S. 239-246, . Ausgabe 1988, 30.11.1921, Oslo (Kristiania)

Wir sehen, wie derjenige Teil des wirtschaftlichen Lebens, den wir als den Produktionsprozeß überschauen, durch die Kompliziertheit des technischen Lebens immer mannigfaltiger geworden ist. Und wenn ich es mit einem Worte, das ja schon ein Schlagwort geworden ist - allein man muß solche Worte gebrauchen -, bezeichnen will: Wir sehen, daß das Produktionsleben immer kollektivistischer geworden ist.

Was kann denn im Grunde genommen heute der einzelne innerhalb unseres sozialen Organismus im Produktionsleben leisten? Er ist überall eingespannt in das, was mit anderen in Gemeinschaft getan werden muß. Unsere Art des Produzierens ist so kompliziert geworden, daß der einzelne wie in einem großen Produktionsmechanismus eingespannt ist. Es ist das Produktionsleben kollektivistisch geworden. Darauf sieht gerade der Proletarier hin, und er verspricht sich in seiner wirtschaftlich fatalistischen Anschauungsweise, daß der Kollektivismus noch immer stärker und stärker werden wird, daß immer mehr und mehr die Produktionszweige sich zusammenschließen werden, und daß dann die Zeit kommen werde, wo das internationale Proletariat selbst diese Produktion übernehmen kann. Auf das wartet der Proletarier. Er gibt sich also dem großen Irrtum hin, daß der Kollektivismus der Produktion das Naturnotwendige ist - denn er empfindet das wirtschaftlich Notwendige fast wie eine Naturnotwendigkeit -, und daß dieser Kollektivismus weiter ausgebaut werden soll, daß vor allen Dingen das Proletariat dazu berufen sei, sich dann auf die Stühle zu setzen, auf denen die heutigen Produzenten sitzen, und daß das kollektivistisch Gewordene nunmehr kollektivistisch verwaltet werde. Wie stark das Proletariat aus seinem wirtschaftlichen Interesse heraus an einer solchen Idee hängt, sehen wir in den traurigen Ergebnissen des wirtschaftlichen Experimentes im Osten, denn dort wurde sozusagen - allerdings nicht so, wie es sich die Proletarier-Theoretiker geträumt haben, sondern aus den kriegerischen Verhältnissen heraus - der Versuch gemacht, in diesem Sinne das Wirtschaftsleben zu gestalten. Man kann heute schon sehen, und man wird es immer mehr und mehr sehen: Der Versuch wird - ganz abgesehen von seinen ethischen oder sonstigen Werten oder von den Sympathien oder Antipathien, die man ihm entgegenbringen kann - durch seine eigenen inneren zerstörenden Kräfte kläglich scheitern und unsägliches Unglück in die Menschheit bringen.

Dem Produktionsleben steht gegenüber das Leben der Konsumtion. Aber das Leben der Konsumtion kann niemals von selbst kollektivistisch werden. In der Konsumtion steht der einzelne im Grunde genommen durch Naturnotwendigkeit als Individualität darinnen. Aus der Persönlichkeit des Menschen, aus dem menschlichen Individuum heraus kommen die Bedürfnisse der Gesamtkonsumtion. Es blieb daher, neben dem Kollektivistischen der Produktion, das Individualistische der Konsumtion bestehen. Und immer schroffer und schroffer wurde der Abgrund, tiefer und tiefer wurde dieser Abgrund zwischen der nach Kollektivismus strebenden Produktion und den doch sich immer heftiger geltend machenden, gerade durch den Kontrast immer heftiger geltend machenden Interessen der Konsumtion. Für den, der das heutige Leben durchschauen kann mit unbefangenem Blicke, ist es nun keine Abstraktion, sondern für den beruhen die furchtbaren Disharmonien, in die wir hineingestellt sind, gerade auf dem Mißverhältnis, das sich durch das Angedeutete heute herausgebildet hat zwischen den Impulsen der Produktion und den Bedürfnissen der Konsumtion.

Man kann allerdings das ganze Elend, das in dieser Beziehung heute bis in die tiefsten Gemüter der Menschen hinein herrscht, nur überschauen, wenn man sich eben nicht durch Studium, sondern durch Lebenspraxis Jahrzehnte hindurch in das vertieft hat, aus dem sich auf den einzelnen Gebieten des Lebens diese Disharmonie ergeben hat. Und nun wirklich nicht aus irgendwelchen Prinzipien, nicht aus theoretischen Erwägungen, sondern aus diesen Lebenserfahrungen heraus ist entstanden, was ich niedergelegt habe in meinem Buche « Die Kernpunkte der sozialen Frage ». Ganz fern lag es mir, aus dieser Lebenspraxis heraus irgendwie eine utopische Lösung der sozialen Frage zu versuchen. Ich mußte allerdings erfahren, daß das heutige Denken der Menschen ganz unwillkürlich nach der utopischen Seite hinneigt. Ich mußte selbstverständlich zusammenfassen, was sich mir aus der großen Mannigfaltigkeit des Lebens ergeben hat, was ich lieber in einzelnen konkreten Beispielen erörtert hätte, ich mußte es zusammenfassen in allgemeine Sätze, die dann wiederum ihrerseits zusammengestellt sind in den Schlagworten « Dreigliederung des sozialen Organismus ». Aber was da drinnen ist, das mußte doch durch einige Richtlinien wenigstens exemplifiziert werden. Man mußte sagen, wie man sich denkt, daß die Dinge in die Hand genommen werden sollen. Deshalb habe ich einige Beispiele gegeben, wie die Entwickelung des Kapitalismus weiter fortschreiten soll, wie etwa die Arbeiterfrage zu regeln ist und so weiter. Da habe ich versucht, konkrete, einzelne Andeutungen zu geben. Nun, ich habe viele Diskussionen mitgemacht über diese « Kernpunkte der sozialen Frage », und, ich habe stets gefunden, daß die Menschen in ihrer utopistischen Meinung von heute immer fragen: Ja, wie wird denn in der Zukunft das oder jenes sein? - Sie haben sich dabei gestützt auf die Andeutungen, die ich über das einzelne gegeben habe, was ich aber niemals anders gemeint habe, denn als Beispiel. Im ganzen konkreten Leben ist es ja so, daß man irgend etwas, was man tut, was man nach seinem besten Wissen einrichtet, daß man das in irgendeiner Gestalt in die Wirklichkeit hineinstellen kann, daß man es aber selbstverständlich auch anders machen könnte. Die Wirklichkeit ist nicht so, daß nur ein einzelnes Theoretisches auf sie paßt. Man könnte selbstverständlich auch alles anders machen. Der Utopist aber, der möchte bis ins einzelne hinein schlagwortartig alles charakterisiert haben. Und so sind denn diese « Kernpunkte der sozialen Frage » vielfach gerade durch die anderen im utopistischen Sinne ausgedeutet worden. Sie sind in Utopien vielfach umgewandelt worden, während sie nicht im entferntesten als Utopie gemeint sind, sondern hervorgegangen sind aus einem Betrachten dessen, was sich im Produktionsprozeß als der Kollektivismus ergeben hat, aus der Anschauung, wie nun wirklich von seiten der Produktion eine gewisse Notwendigkeit vorliegt, in diesen Kollektivismus hineinzusegeln, wie aber auf der anderen Seite alle Kraft der Produktion doch wiederum abhängt von den Fähigkeiten des menschlichen Individuums.

So trat einem gerade aus der Betrachtung der modernen Produktion mit furchtbarer Intensität vor das seelische Auge, daß eigentlich der Grundimpuls, der aller Produktion zugrunde liegen muß, das persönliche Können, gewissermaßen absorbiert wird durch den Kollektivismus, der sich aus den wirtschaftlichen Kräften selbst heraus ergeben hat und immer weiter ergibt. Es trat einem auf der einen Seite entgegen dasjenige, wozu das wirtschaftliche Leben neigt, und auf der anderen Seite die auch selbstverständliche Forderung, die individuellen Kräfte der einzelnen menschlichen Persönlichkeit gerade innerhalb des Wirtschaftslebens zur Geltung zu bringen. Und es obliegt einem, über den sozialen Organismus so nachzudenken, wie diese Grundforderung des wirtschaftlichen Fortschrittes: die Pflege der individuellen Fähigkeiten -, bestehen kann im rein durch die technischen Verhältnisse immer Komplizierterwerden der Produktionsprozesse. Das ist es auf der einen Seite, was einem so ganz lebendig vor die Seele tritt: der wirkliche wirtschaftliche Fortgang, und die notwendigen Anforderungen, die man stellen muß an das wirtschaftliche Leben, damit es gedeihen könne.

Auf der anderen Seite geht ja alles das, was wir die heutige soziale Frage nennen, im Grunde genommen praktisch gar nicht aus den Produktionsinteressen hervor. Wenn im Produktionsgebiete nach Kollektivismus gesucht wird, so ergibt sich das eigentlich aus den technischen Möglichkeiten des Wirtschaftslebens, aus den technischen Notwendigkeiten auch. Was man gewöhnlich die soziale Frage nennt, wird eigentlich ganz und gar aus Konsumtionsinteressen vorgebracht, die wiederum nur auf der menschlichen Individualität beruhen können. Und die merkwürdige Tatsache stellt sich heraus, daß - wenn auch scheinbar etwas anderes stattfindet - aus reinen Konsumtionsinteressen heraus der Ruf nach Sozialisierung durch die Welt geht. Man sieht das auch, wenn man die Diskussionen und das Leben praktisch verfolgt. Ich habe das ja gesehen bei meinen Vorträgen, die ich im April 1919 zu halten begonnen habe, und die immer wieder gehalten wurden, und in den darauffolgenden Diskussionen, wie eigentlich unsympathisch berührt sind diejenigen, die als Produzenten oder Unternehmer im praktischen Wirtschaftsleben drinnen stehen, von der Diskussion dessen, was man soziale Frage nennt, in dem Sinne, wie es aus den Konsumtionsinteressen heraus gepredigt wird.

Dagegen sieht man, wie im Grunde genommen überall, wo der Ruf nach Sozialismus aufkommt, nur das Konsumtionsinteresse ins Auge gefaßt wird. So daß man hier gerade in den Idealen des Sozialismus wirksam hat als Willensimpuls den Individualismus. Im Grunde genommen streben alle diejenigen, die sozialistisch sind, nach dem Sozialismus hin aus ganz individuellen Emotionen heraus. Und das Streben nach dem Sozialismus ist im Grunde genommen nur eine Theorie, die über dem, was die individuellen Emotionen sind, dahinschwimmt. Aber auf der anderen Seite ergibt sich durch eine ganz ernstliche Betrachtung dessen, was sich in unserem Wirtschaftsleben, auch wiederum seit Jahrhunderten, immer mehr und mehr entwickelt hat, die ganze volle Bedeutung desjenigen, was man ja landläufig in der Nationalökonomie, in der Volkswirtschaftslehre zusammenfaßt mit dem Namen Arbeitsteilung.

Ich bin überzeugt davon, daß außerordentlich viel Geistvolles über diese Arbeitsteilung geschrieben und gesagt worden ist, glaube aber nicht, daß sie in ihrer vollen Bedeutung für das praktische wirtschaftliche Leben bis in ihre letzten Konsequenzen schon durchdacht worden ist. Ich glaube das aus dem Grunde nicht, weil man sonst einsehen müßte, daß im Grunde genommen überhaupt aus dem Prinzip der Arbeitsteilung mit Konsequenz folgt, daß niemand eigentlich in einem sozialen Organismus, in dem volle Arbeitsteilung herrscht, für sich selber noch etwas produzieren - ich sage sogar - kann. Wir sehen ja heute noch die letzten Reste der Selbstproduktion, namentlich wenn wir die kleinen Landgüter ins Auge fassen. Da sehen wir, daß eigentlich derjenige, der produziert, das zurückbehält, was für seinen und seiner Familie Bedarf notwendig ist. Und was bewirkt dieses, daß er sozusagen ein Versorger des eigenen Bedarfs noch sein kann? Das bewirkt, daß er eigentlich in einer ganz unrichtigen Weise innerhalb eines sozialen Organismus produziert, der im übrigen auf Arbeitsteilung aufgebaut ist. Jeder, der heute sich selbst einen Rock macht, oder der sich selbst mit seinen eigenen, auf seinem eigenen Grund und Boden gebauten Nahrungsmitteln versorgt, versorgt sich eigentlich zu kostspielig, denn dadurch, daß Arbeitsteilung herrscht, kommt jedes Erzeugnis billiger zustande, als es zustande kommen kann, wenn man es für sich selbst fabriziert. Man braucht nur über diese Tatsache nachzudenken und man wird als ihre letzte Konsequenz das ansehen müssen, daß im Grunde genommen niemand heute so produzieren kann, daß irgendwie seine Arbeit in das Produktionserzeugnis, in das Erzeugnis hineinfließt. Und doch liegt die Merkwürdigkeit ja vor, daß zum Beispiel Karl Marx das Erzeugnis wie eine kristallisierte Arbeit behandelt. So ist es aber am allerwenigsten heute. Das Erzeugnis ist heute in bezug auf seinen Wert - und allein der kommt im wirtschaftlichen Leben in Betracht - von der Arbeit zunächst am allerwenigsten bestimmt. Es ist bestimmt von der Brauchbarkeit, das heißt von Konsumtionsinteressen, von der Brauchbarkeit, mit der es drinnen steht in dem auf Arbeitsteilung beruhenden sozialen Organismus.

Das alles gibt einem auf wirtschaftlichem Gebiete die großen Fragen der Gegenwart auf. Und aus diesen Fragen heraus hat sich mir ergeben, daß wir eben einfach in dem heutigen Zeitpunkte der Menschheitsentwickelung vor der Notwendigkeit stehen, den sozialen Organismus so zu gestalten, daß er immer mehr und mehr seine naturgemäßen drei Glieder zeigt.