Dumpfheit des Ichs statt Klarheit der Welt

Quelle: GA 322, S. 020-026, 5. Ausgabe 1981, 28.09.1920, Dornach

Eine Gestalt von außerordentlicher philosophischer Größe sieht uns ja heute noch mit einer gewissen Lebendigkeit aus der ersten Hälfte des19. Jahrhunderts heraus an, es ist Hegel.

In Lehrsälen, in der philosophischen Literatur wird ja erst wiederum in den letzten Jahren Hegel mit etwas mehr Achtung genannt als unmittelbar vorher. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bekämpfte man wohl Hegel, namentlich bekämpften ihn Akademiker. Allein man wird wohl ganz wissenschaftlich nachweisen können, daß die in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Eduard von Hartmann ausgesprochene Behauptung, man könne beweisen, daß überhaupt in Deutschland nur zwei Universitätsdozenten Hegel gelesen haben, richtig ist. Man hat Hegel bekämpft, aber man hat ihn auf philosophischem Boden nicht gekannt. Aber man hat ihn in einer andern Weise gekannt, und in einer gewissen Art kennt man ihn heute noch. Hegel, so wie er beschlossen ist, oder besser gesagt, wie seine Weltanschauung beschlossen ist in der großen Anzahl der Bände, die als Hegels Werke in den Bibliotheken stehen, in dieser ihm ureigenen Gestalt kennen ihn allerdings wenige. Allein in gewissen Verwandlungsformen ist er, man könnte sagen, gerade der populärste Philosoph, den es jemals in der Welt gegeben hat. Wer heute, vielleicht aber noch besser wer vor einigen Jahrzehnten eine Proletarierversammlung mitmachte und hörte, was da diskutiert wurde, wer eine Wahrnehmung dafür hatte, woher die ganze Art der Gedankenbildung in einer solchen Proletarierversammlung kam, der wußte, wenn er wirkliche Erkenntnis der neueren Geistesgeschichte hatte, daß diese Gedankenbildung durchaus von Hegel ausgegangen ist und durch gewisse Kanäle in die breiteste Masse hineingeflossen ist. Und wer Philosophie und Literatur des europäischen Ostens gerade auf diese Frage hin untersuchen würde, der würde finden, daß in das Geistesleben Rußlands in breitestem Umfange die Gedankenformen der Hegelschen Weltanschauung voll eingewoben sind. Und so kann man sagen: Anonym gewissermaßen ist Hegel vielleicht einer der allerwirksamsten Philosophen der Menschheitsgeschichte in den letzten Jahrzehnten der neueren Zeit geworden. - Allein man möchte sagen, wenn man wiederum kennenlernt dasjenige, was da in den breitesten Schichten der neueren Menschheit als Hegeltum lebt, man werde erinnert an jenes Bild, das von einem etwas häßlichen Manne ein wohlwollender Maler gemalt hat, und es so gemalt hat, daß es die Familie gerne sah.

Als dann ein jüngerer Sohn herangewachsen war, der vorher das Bild wenig betrachtet hatte, und es sah, da sagte er: Aber Vater, wie hast du dich verändert! - Man möchte sagen, wenn man sieht, was Hegel geworden ist: Aber mein Philosoph, wie hast du dich verändert! - Und es ist ja in der Tat etwas höchst Eigentümliches um diese Hegelsche Weltanschauung.

Kaum war Hegel selber hinweggegangen, so zerfiel seine Schule. Und man konnte sehen, wie diese Hegelsche Schule ganz die Gestalt eines neuen Parlamentes annahm. Es gab da eine Linke, eine Rechte, eine äußerste Rechte, eine äußerste Linke, einen radikalsten, einen konservativsten Flügel. Es gab ganz radikale Menschen mit einer radikalen wissenschaftlichen, mit einer radikalen sozialen Weltanschauung, die sich als die richtigen geistigen Abkömmlinge von Hegel fühlten. Es gab auf der andern Seite vollgläubige positive Theologen, die nun wiederum ihren theologischen Urkonservativismus auf Hegel zurückzuführen wußten. Es gab das Hegel-Zentrum mit dem liebenswürdigen Philosophen Karl Rosenkranz, und alle, alle diese Persönlichkeiten, sie behaupteten jeder für sich, sie hätten die richtige Hegelsche Lehre.

Was liegt denn da eigentlich für ein merkwürdiges weltgeschichtliches Phänomen aus dem Gebiete der Erkenntnisentwickelung vor? Das liegt vor, daß einmal ein Philosoph die Menschheit heraufzuheben versuchte auf die höchste Höhe des Gedankens. Wenn man auch noch so sehr Hegel wird bekämpfen wollen, daß er den Versuch einmal gewagt hat, in reinsten Gedankengebilden die Welt innerlich-seelisch gegenwärtig zu machen, das wird nicht geleugnet werden können. In eine Ätherhöhe des Denkens hob Hegel die Menschheit herauf. Aber kurioserweise, die Menschheit fiel gleich wieder herunter aus dieser Ätherhöhe des Denkens. Auf der einen Seite zog sie materialistische Konsequenzen, auf der andern Seite positive theologische Konsequenzen daraus. Und selbst wenn man das Hegelsche Zentrum mit Karl Rosenkranz nimmt, so kann man nicht sagen, daß die Hegelsche Lehre so geblieben ist in dem liebenswürdigen Rosenkranz, wie Hegel sie selber gedacht hat. Da also liegt der Versuch vor, einmal mit dem Wissenschaftsprinzip in höchste Höhen hinaufzusteigen.

Aber man konnte sozusagen, indem man nachher Hegels Gedanken in sich selber verarbeitete, die entgegengesetztesten Urteile, die entgegengesetztesten Erkenntnisrichtungen daraus hervorgehen lassen.

Nun, streiten über Weltanschauungen läßt sich in der Studierstube, läßt sich innerhalb der Akademien, läßt sich zur Not auch in der Literatur, wenn nicht gerade an die literarischen Streitigkeiten sich wüste Klatscherei und wüstes Cliquenwesen anschließt. Aber mit dem, was in einer solchen Art aus der Hegelschen Philosophie geworden ist, läßt sich das Urteil nicht loslösen von Studierstuben und Lehrsälen und hinaustragen, so daß es Impuls werde für das soziale Leben. Man kann denkerisch streiten über entgegengesetzte Weltanschauungen, man kann aber nicht gut im äußeren Leben mit entgegengesetzten Lebensanschauungen friedlich sich bekämpfen. Diesen letzten paradoxen Ausdruck müßte man geradezu gebrauchen für ein solches Phänomen. Und so steht, ich möchte sagen, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beängstigend vor uns ein Entwickelungsfaktor des Erkennens, der sich in hohem Grade sozial unbrauchbar erwiesen hat. Und auch demgegenüber müßten wir dann die Frage aufwerfen: Wie kommen wir denn dazu, unser Urteil so zu bilden, daß es brauchbar werde im sozialen Leben? Insbesondere an zwei Erscheinungen können wir diese soziale Unbrauchbarkeit des Hegeltums für das soziale Leben bemerken.

Einer derjenigen, die innerlich am energischsten Hegel studiert haben, die Hegel ganz in sich lebendig gemacht haben, ist Karl Marx. Und was tritt uns in Karl Marx entgegen? Ein merkwürdiges Hegeltum! Hegel auf dem höchsten Gipfel des Ideenbildes droben, auf dem äußersten Gipfel des Idealismus - der treue Schüler Karl Marx das Bild sogleich ins Gegenteil wendend, mit derselben Methode, wie er glaubt, indem er gerade dasjenige, was in Hegel die Wahrheit ist, herauszubilden glaubte, und es wird daraus der historische Materialismus, jener Materialismus, der für breite Massen diejenige Weltanschauung oder Lebensauffassung sein soll, die sich nun wirklich hineintragen lassen soll in das soziale Leben. So begegnet uns in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der große Idealist, der nur im Geistigen, in seinen Ideen lebte, Hegel; so begegnet uns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein Schüler Karl Marx, der nur im Materiellen drinnen forschte, der nur im Materiellen drinnen eine Wirklichkeit sehen wollte, der in alledem, was in idealen Höhen lebte, nur Ideologie sah.

Man sollte nur einmal durchempfinden diesen Umschlag der Welt- und Lebensauffassungen im Laufe des 19. Jahrhunderts, und man wird die ganze Stärke desjenigen in sich fühlen, was heute dazu treibt, eine solche Naturerkenntnis zu gewinnen, die, wenn wir sie haben, in uns ein Urteil loslöst, das sozial lebensfähig ist.

Nun, sehen wir nach einer andern Seite hin, nach etwas, was zwar nicht so sehr betont hat, daß es aus Hegel stammt, was aber nichtsdestoweniger historisch ganz gut auf Hegel zurückgeführt werden kann, so finden wir den Ich-Philosophen noch aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber herüberragend in die zweite Hälfte, wir finden Max Stirner. Während Karl Marx den einen Pol des menschlichen Anschauens, auf den wir gestern hingewiesen haben, die Materie zur Grundlage seiner Betrachtung macht, geht Stirner, der Ich-Philosoph Max Stirner, aus von dem andern Pole, von dem Bewußtseinspol. Und gerade deshalb, weil die neuere Weltanschauung, indem sie nach dem materiellen Pol hinzielt, das Bewußtsein nicht aus ihm heraus finden kann, wie wir gestern an dem Beispiel Du Bois-Reymonds gesehen haben, so wird auf der andern Seite die Folge sein, daß eine Persönlichkeit, die sich nun ganz nur auf das Bewußtsein stellt, die materielle Welt nicht finden kann. Und so ist es bei Max Stirner. Für Max Stirner gibt es im Grunde genommen kein materielles Weltall mit Naturgesetzen. Für Max Stirner gibt es nur eine Welt, die einzig und allein bevölkert ist von menschlichen Ichen, von menschlichen Bewußtseinen, die ganz und gar nur sich ausleben wollen. «Ich hab' mein Sach' auf nichts gestellt», das ist so eine der Losungen Max Stirners. Und von diesem Gesichtspunkte aus lehnt sich Max Stirner selbst gegen eine göttliche Weltenführung auf. Er sagt zum Beispiel: Da fordern gewisse Ethiker, gewisse Sittenlehrer, wir sollen nicht aus Selbstsucht irgendeine Tat begehen, sondern wir sollen sie begehen, weil sie Gott gefällt; wir sollen auf Gott hinschauen, indem wir eine Tat begehen, auf das, was ihm gefällt, was er anordnet, was ihm sympathisch ist. Warum sollte ich das - meint Max Stirner -, der ich meine Sache lediglich auf die Spitze des Ich-Bewußtseins stellen will, warum sollte ich zugeben, daß Gott nun der große Egoist sei, der verlangen kann von der Welt, der Menschheit, daß alles so gemacht werde, wie es ihm gefällt!

Ich will nicht um des großen Egoismus willen meinen persönlichen Egoismus aufgeben. Ich will die Dinge tun, die mir gefallen. Was geht mich ein Gott an, wenn ich nur mich habe.

Das ist das Sich-Verwickeln, Sich-Verwirren in das Bewußtsein, das dann nicht mehr aus sich herauskann. Ich habe gestern darauf aufmerksam gemacht, wie wir auf der einen Seite zu klaren Ideen kommen können, indem wir erwachen an dem äußeren physisch-sinnlichen Dasein, wie wir aber, wenn wir wiederum dann hinuntersteigen in unser Bewußtsein, zu traumhaften Ideen kommen, die sich wie triebartig in die Welt hineinstellen und aus denen wir nicht wieder herauskommen. Zu klaren Ideen, man möchte sagen, zu überklaren Ideen ist schon Karl Marx. gekommen. Und das war das Geheimnis seines Erfolges. Die Ideen von Marx sind so klar, daß, trotzdem sie kompliziert sind, sie eben für die weitesten Kreise, wenn sie recht zugerichtet werden, verständlich sind. Da hat die Klarheit zur Popularität verholfen. Und solange nicht bemerkt wird, daß eben innerhalb einer solchen Klarheit die Menschheit verloren ist, so lange wird man sich, wenn man konsequent sein will, eben an diese Klarheit halten.

Neigt man aber seiner ganzen Anlage nach zu dem andern Pol, zu dem Bewußtseinspol, ja dann, dann geht man mehr nach der Stirnerschen Seite hinüber. Dann verachtet man diese Klarheit, dann fühlt man, daß, sozial angewendet, diese Klarheit den Menschen zwar zu einem klaren Rade in der mathematisch-mechanisch gedachten sozialen Ordnung macht, aber eben zu einem Rad. Ist man dann nicht dazu veranlagt, dann revoltiert der Wille, dann revoltiert dieser Wille, der auf dem untersten Grunde des menschlichen Bewußtseins tätig ist. Und dann lehnt man sich auf gegen alle Klarheit. Dann spottet man, wie Stirner gespottet hat, aller Klarheit. Dann sagt man: Was geht mich irgend etwas anderes an, was geht mich selbst die Natur an, ich stelle mein Ich aus mir heraus und sehe, was daraus wird. - Wir werden noch sehen, wie es im höchsten Grade charakteristisch ist für die ganze neuere Menschheitsentwickelung, daß solche Extreme, solche scharf ausgesprochenen Extreme gerade im 19. Jahrhundert aufgetreten sind, denn sie sind das Wetterleuchten desjenigen, was wir jetzt als soziales Chaos erleben, als Gewitter. Diesen Zusammenhang, den muß man verstehen, wenn man heute überhaupt über Erkenntnis reden will.

Wir sind gestern dazu gekommen, hinzuweisen auf der einen Seite auf das, was der Mensch vollzieht, indem er sich in Wechselbeziehung versetzt mit der natürlich- sinnlichen Außenwelt. Sein Bewußtsein erwacht zu klaren Begriffen, aber es verliert sich selbst, es verliert sich so selbst, daß der Mensch nur inhaltlich leere Begriffe, wie den Begriff der Materie hinpfahlen kann, Begriffe, vor denen er dann so steht, daß sie ihm zum Rätsel werden. Aber wir kommen eben nicht anders, als indem wir uns so selbst verlieren, zu solchen klaren Begriffen, die wir brauchen zur Entwickelung unseres vollen Menschentums. Wir müssen uns eben in einer gewissen Weise zunächst verlieren, damit wir uns wieder finden können durch uns selbst. Aber heute ist die Zeit gekommen, wo man an diesen Phänomenen etwas lernen soll. Und was kann man an diesen Phänomenen lernen? Man kann dasjenige lernen, daß zwar die ganze Klarheit der Begriffe, die ganze Durchsichtigkeit des Vorstellungslebens an dem Verkehr mit der äußeren sinnlich-natürlichen Welt für den Menschen gewonnen werden kann, daß aber in dem Augenblicke diese Klarheit der Begriffe unbrauchbar wird, wenn wir mehr erhalten wollen in der Naturwissenschaft als einen bloßen Phänomenalismus, nämlich jenen Phänomenalismus, den Goethe als Naturforscher pflegen wollte, wenn wir mehr wollen als Naturwissenschaft, nämlich den Goetheanismus.