Soziales Hauptgesetz setzt soziologisches Grundgesetz voraus

Quelle: GA 337b, S. 049-052, 1. Ausgabe 1999, 09.08.1920, Dornach

Und nun zum Schluß noch etwas über dasjenige, was vorgebracht worden ist über die zwei sozialen Gesetze, wie ich sie formuliert habe, das des Individualismus und das des Sozialismus. Ich habe das eine Gesetz in Anknüpfung an das Buch von Ludwig Stein formuliert. Ich hatte dazumal ein Buch von Ludwig Stein zu besprechen, ein dickes Buch über die soziale Frage vom philosophischen Standpunkte. Es war einigermaßen nicht leicht, sich durch das Gedankengewinde des Ludwig Stein, dieses typischen Philosophen der Gegenwart, hindurchzuwinden. Es ist derselbe Ludwig Stein, der, weil er vieles geschrieben hat, so schnell schreiben mußte, daß ihm einmal das folgende passiert ist: Als er in einem Buch beweisen wollte, daß nur die Leute der gemäßigten Zone der Erde eine Kultur entwickeln können, da sagte er, das sei ganz natürlich, daß nur die Leute in der gemäßigten Zone eine wirkliche Kultur entwickeln können, denn auf dem Nordpol müßten sie erfrieren und auf dem Südpol müßten sie verbrennen. - Nun, sehen Sie, das ist die Enunziation eines Philosophen, der durch viele Jahre hindurch die Philosophische Fakultät Bern mit Philosophie versorgt hat. Und jener Philosoph genoß eine gewisses Ansehen.

Sehen Sie, wie grotesk eine solche Abstraktheit werden kann, das ging mir einmal in Weimar auf. Da arbeitete bei uns im Goethe- und Schiller-Archiv ein anderer Berner Professor, und dieser andere erzählte folgende Geschichte. Wir kamen nämlich ins Gespräch über die Erstlingswerke von Robert Saitschick. Saitschick hat wirklich einige Erstlingswerke geliefert, die schon immerhin etwas Respektables waren; erst später wurde er ein solcher «Kohler», wie er eben jetzt ist. Der Robert Saitschick war dazumal Privatdozent an der Universität Bern, der Ludwig Stein Professor. Robert Saitschick war ein armer Kerl; und der Ludwig Stein war, außerdem, daß er Professor an der Universität Bern war, Besitzer einer ganzen Häuserfront in der Köpenikerstraße in Berlin. Und daher kannte man auch in Berlin diesen Professor Ludwig Stein. Ich kriegte ihn zum Beispiel gar nicht los; wenn ich ab und zu in Berlin war, kam auch der Stein, der dann, wie ich diese Rezension geschrieben hatte, nachher zu mir sagte: Ich hätte wieder Lust, als ihr Positiv mit meinem Komparativ zu sprechen. - Das war der ständige Witz, den er machte. Nun, der Stein war Ordinarius in Bern, der Saitschick Privatdozent, und jener Professor, der es erzählt hat - er war übrigens ein sehr biederer, lieber Herr, nur eben noch sehr in universitären Anschauungen drinnen -, der sagte: Dieser Robert Saitschick, das ist ein ganz unqualifizierbarer Kerl, über den kann man gar nicht reden. - Ich sagte: Er hat doch eigentlich ganz nette Bücher geschrieben. - Ja, denken Sie, was der gemacht hat, sagte der Professor. Er ist ein ganz armer Kerl, und er hat seinen Ordinarius angepumpt. Der Ordinarius hat ihm Geld gegeben, und als es ihm zu lange wurde, da hat er den Saitschick aufgefordert, das Geld zurückzugeben. Und das hat dieser in der Form getan, daß er sagte: Herr Professor, nachdem Sie das gesagt haben, bitte ich Sie, mir schriftlich auszustellen, daß Sie ein gemeiner Kerl sind. Und - der Ordinarius hat dieses Dokument ausgestellt! - Das sagte mir der Professor; ich erzähle nur wiederum, was er mir erzählt hat: Nun, denken Sie, ein Privatdozent, der seinen Ordinarius dazu zwingt, daß er ihm ein solches Dokument ausstellt, das ist doch ein ganz gemeiner Kerl. - Das ist eben universitäre Anschauung.

Ja nun, also ich hatte dieses Buch von Ludwig Stein zu rezensieren, und ich mußte dabei darauf hinweisen, daß der naturgemäße Gang der menschlichen Entwicklung in sozialer Beziehung der ist, daß die Menschen erst in Gebundenheit leben, in den Verbänden, der einzelne dann aus den Verbänden sich herausarbeitet zur Individualität. Von einer selbständigen Seite aus versuchte ich später zu formulieren das andere Gesetz, das Gesetz des sozialen Lebens, und stellte dar, daß die ganze soziale Konstitution sich nur bilden kann, wenn der einzelne im wirtschaftlichen Zusammenhange nicht lebt von demjenigen, was er selbst verdient, sondern wenn er dasjenige, was er selbst verdient, an die Gemeinschaft abgibt und wenn er wiederum aus der Gemeinschaft erhalten wird - auf welchem Wege das geschieht, zeigen ja gerade die «Kernpunkte», und ich habe das in Zürich einmal auseinandergesetzt. Nun, wer soziale Zusammenhänge heute durchschauen kann, der weiß - wenn es auch zunächst anders aussieht -, daß derjenige, der heute einen Rock für sich selber fabriziert, tatsächlich ihn nicht in Wirklichkeit produziert. Daß er ihn produziert - das ist auf einem Gebiet, wo wir heute eine so weitgehende Arbeitsteilung haben, nur eine Scheinvorstellung, weil das, was er produziert, von ihm selbst konsumiert wird. Aber dieses Gesetz des sozialen Lebens gilt durchaus. Es liegen die Dinge ja so, daß dieses Gesetz bewußt nur verwirklicht werden kann von denjenigen, die sich aus den Verbänden herauslösen und zur Individualität werden. Diese beiden Dinge sind vielleicht abstrakt im Widerspruch; in der Realität fordern sie einander, gehören durchaus zusammen. Es müßte die Individualität sich aus den Verbänden erst herauslösen, damit aus der Individualität heraus sich das Soziale verwirklichen kann. Das ist des Rätsels Lösung in diesem Falle. Und so würden sich verschiedene scheinbare Widersprüche lösen, wenn man auf das eingehen wollte.