Marktprinzip läßt menschliche Bedürfnisse verkümmern

Quelle: GA 024, S. 265, 2. Ausgabe 1982, 01.1920

Es ist durchaus begreiflich, daß manche Menschen zu solchen Ausführungen sagen: wozu das alles, da doch schließlich der menschliche Bedarf der Herr aller Produktion ist und zum Beispiel niemand zur Kreditgewährung oder Kreditentgegennahme kommen kann, wenn nicht aus irgendeiner Ecke heraus ein Bedarf die Sache rechtfertigt. Man könnte sogar sagen: schließlich ist doch alles, was da über soziale Einrichtungen erdacht wird, nichts weiter als ein bewußtes Gestalten dessen, was sicher auch automatisch « Angebot und Nachfrage » regeln. Wer aber genauer zusieht, dem wird durchsichtig werden, daß es bei den Auseinandersetzungen über die soziale Frage, die von der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus ausgehen, nicht darauf ankommt, an die Stelle des freien Verkehrs im Zeichen von Angebot und Nachfrage eine Zwangswirtschaft zu setzen, sondern darauf, die gegenseitigen Werte der Lebensgüter so zu gestalten, daß im wesentlichen der Wert eines Menschenerzeugnisses dem Werte der anderen Güter entspricht, für welche der Erzeuger in der Zeit Bedarf hat, die er auf die Erzeugung verwendet. Ob man bei kapitalistischer Orientierung ein Gut erzeugen will, darüber mag die Nachfrage entscheiden; ob ein Gut erzeugt werden kann zu einem Preise, der seinem Werte im gekennzeichneten Sinne entspricht, darüber kann nicht die Nachfrage allein entscheiden. Diese Entscheidung kann nur durch Einrichtungen bewirkt werden, durch die aus dem ganzen sozialen Organismus heraus die Bewertung der einzelnen Lebensgüter zustande kommt. Wer bezweifeln will, daß solche Einrichtungen erstrebenswert seien, der hat kein Auge dafür, daß bei dem bloßen Walten von Angebot und Nachfrage menschliche Bedürfnisse verkümmern, deren Befriedigung die Zivilisation eines sozialen Organismus erhöht; und ihm fehlt der Sinn für ein Streben, das die Befriedigung solcher Bedürfnisse in die Antriebe des sozialen Organismus einfügen will. In dem Schaffen des Ausgleichs zwischen den menschlichen Bedürfnissen und dem Werte der menschlichen Leistungen sieht das Streben nach der Dreigliederung des sozialen Organismus seinen Inhalt.