Geistesleben soll Bedürfnisse der Seele befriedigen

Quelle: GA 023, S. 048-049, 6. Ausgabe 1976, 24.03.1919, Stuttgart

Das neuere Geistesleben ist von den führenden Klassen der Menschheit an die proletarische Bevölkerung in einer Form übergegangen, die seine Kraft für das Bewußtsein dieser Bevölkerung ausschaltet. Wenn an die Kräfte gedacht wird, welche der sozialen Frage die Lösung bringen können, so muß dies vor allem andern verstanden werden. Bliebe diese Tatsache weiter wirksam, so müßte sich das Geistesleben der Menschheit zur Ohnmacht verurteilt sehen gegenüber den sozialen Forderungen der Gegenwart und Zukunft. Von dem Glauben an diese Ohnmacht ist in der Tat ein großer Teil des modernen Proletariats überzeugt; und diese Überzeugung wird aus marxistischen oder ähnlichen Bekenntnissen heraus zum Ausdruck gebracht. Man sagt, das moderne Wirtschaftsleben hat aus seinen ältern Formen heraus die kapitalistische der Gegenwart entwickelt. Diese Entwickelung hat das Proletariat in eine ihm unerträgliche Lage gegenüber dem Kapitale gebracht. Die Entwickelung werde weitergehen; sie werde den Kapitalismus durch die in ihm selbst wirkenden Kräfte ertöten, und aus dem Tode des Kapitalismus werde die Befreiung des Proletariats erstehen. Diese Überzeugung ist von neueren sozialistischen Denkern des fatalistischen Charakters entkleidet worden, den sie für einen gewissen Kreis von Marxisten angenommen hat. Aber das Wesentliche ist auch da geblieben. Dies drückt sich darinnen aus, daß es dem, der gegenwärtig echt sozialistisch denken will, nicht beifallen wird, zu sagen: Wenn irgendwo ein aus den Impulsen der Zeit herausgeholtes, in einer geistigen Wirklichkeit wurzelndes, die Menschen tragendes Seelenleben sich zeigt, so wird von diesem die Kraft ausstrahlen können, die auch der sozialen Bewegung den rechten Antrieb gibt. Daß der zur proletarischen Lebensführung gezwungene eine solche Erwartung nicht hegen kann, das gibt seiner Seele die Grundstimmung. Er bedarf eines Geisteslebens, von dem die Kraft ausgeht, die seiner Seele die Empfindung von seiner Menschenwürde verleiht. Denn als er in die kapitalistische Wirtschaftsordnung der neueren Zeit hineingespannt worden ist, wurde er mit den tiefsten Bedürfnissen seiner Seele auf ein solches Geistesleben hingewiesen. Dasjenige Geistesleben aber, das ihm die führenden Klassen als Ideologie überlieferten, höhlte seine Seele aus. Daß in den Forderungen des modernen Proletariats die Sehnsucht nach einem andern Zusammenhang mit dem Geistesleben wirkt, als ihm die gegenwärtige Gesellschaftsordnung geben kann: dies gibt der gegenwärtigen sozialen Bewegung die richtende Kraft. Aber diese Tatsache wird weder von dem nicht proletarischen Teile der Menschheit richtig erfaßt, noch von dem proletarischen.