Vom Leben lernen statt mit ihm demokratisch fertig zu werden

Quelle: GA 193, S. 020, 3. Ausgabe 1977, 04.02.1919, Zürich

Wir sehen heute wenig darauf hin, wie das ganze Leben des Menschen ein immer Reifer- und Reiferwerden ist. So innerlich ehrliche Menschen wie Goethe fühlten dieses Reifer- und Reiferwerden. Goethe wollte auch im höchsten Alter noch lernen, Goethe wußte im höchsten Alter, fertig sei er als Mensch noch nicht. Und er blickte zurück in seine Jugend, in seine Mannesjahre, indem er alles das, was in der Jugend und in den Mannesjahren sich zugetragen hat, als Vorbereitung empfand für dasjenige, was er im Alter erleben konnte. So denkt man, in der heutigen Zeit nur sehr wenig, namentlich dann, wenn man den Menschen als soziales Wesen ins Auge faßt. Am liebsten möchte mit zwanzig Jahren heute jeder Mitglied einer Körperschaft sein und über alles - nun, wie man sagt - demokratisch urteilen. So kann sich der Mensch nicht denken, daß man etwas zu erwarten hat vom Leben, indem man immer mehr und mehr dem Alter entgegenreift. Daran denken die Menschen heute nicht. - Das ist das eine, daß wir wieder lernen müssen, daß das ganze Leben, nicht nur die zwei bis drei ersten Jugendjahrzehnte, dem Menschen etwas bringt.