Zum Ewigen Frieden von Kant Abschwächung der vorchristlichen Stoiker

Quelle: GA 175, S. 336-337, 3. Ausgabe 1996, 24.04.1917, Berlin

Ein Benediktiner-Pater, Knauer, hielt in den achtziger Jahren in Wien Vorträge. Eine Stelle aus diesen Vorträgen möchte ich Ihnen lesen. Der Vortrag, von dem ich Ihnen ein ganz kleines Stückchen lesen möchte, handelt über die Stoiker. Die wichtigsten Vertreter dieser Stoiker waren: Zeno (342-270), Kleanthes, der 200 Jahre vor Christus lebte, und Chrysippos (282-209); wir sind also Jahrhunderte vor dem Mysterium von Golgatha. Was kann derjenige, der die Stoiker kennt, von diesen Stoikern sagen? Also wir sind Jahrhunderte vor dem Mysterium von Golgatha.

«Um schließlich noch etwas zum Lobe der Stoa zu sagen, möge noch erwähnt sein, daß sie einen das ganze Menschengeschlecht umfassenden Völkerbund anstrebte, der allem Rassenhaß und Krieg ein Ende zu machen geeignet wäre. Es braucht wohl nicht ausdrücklich gesagt zu werden, daß die Stoa damit hoch über den oft unmenschlichen Vorurteilen ihrer Zeit und selbst der fernsten Geschlechter künftiger Zeiten stand.»

Ein Völkerbund! Ich mußte diesen Vortrag wieder vornehmen, weil man die Meinung haben könnte, man hätte nicht recht gehört, wenn man jetzt den Wilson und andere Staatsmänner der Gegenwart von einem Völkerbunde reden hört - man hätte nicht recht gehört; man meinte, man hörte eine Stimme der alten Stoiker aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert! Denn die haben das alles viel besser gesagt. Sie haben es wirklich viel besser gesagt, denn hinter ihnen stand die Kraft der alten Mysterien. Sie haben es gesagt mit einer inneren Kraft, die nun geschwunden ist, und die Schale ist nur zurückgeblieben, Stufe für Stufe immer die Schale nur zurückgeblieben. Nur die Historiker, die nun nicht in dem ganz gewöhnlichen trivialen Sinn Historiker sind, die sehen sich manchmal historische Erscheinungen noch anders an.

Und Knauer fährt fort - ich brauche durchaus nicht über Immanuel Kant dasjenige zurückzunehmen, was ich neulich gesagt habe, aber man kann es trotzdem doch sehr bemerkenswert finden, daß ein guter Philosoph wie der Knauer in den achtziger Jahren folgende Worte über die Stoa gesagt hat -: «Unter den neueren Philosophen hat diesen Gedanken» - er meint den Gedanken des Völkerbundes - «kein Geringerer wieder aufgegriffen und für durchführbar erklärt, als Immanuel Kant in seiner viel zu wenig beachteten Schrift Der zugrundeliegende Gedanke Kants ist jedenfalls ein ganz richtiger und praktischer. Er führt nämlich aus, der ewige Friede müsse dann eintreten, wenn die mächtigsten Staaten der Erde eine wahre Repräsentativ-Verfassung haben.» Ja, jetzt nennt man es Neuorientierung in einer schattenhaften Abschwächung. Bei Kant ist es ja schon sehr abgeschwächt, aber jetzt ist es noch mehr abgeschwächt, jetzt nennt man es Neuorientierung. Aber indem er Kant weiter betrachtet, findet Knauer: An einer solchen werden die Besitzenden und Gebildeten, die durch den Krieg am meisten geschädigt werden, in der Lage sein, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Unsere der englischen nachgebildeten Konstitutionen aber hält Kant für keine solchen Repräsentativ-Verfassungen. In ihnen herrscht zumeist nur die Parteileidenschaft und das Cliquenwesen, dem die fast nur auf arithmetisch-statistischen Grundsätzen beruhende Wahlordnung den größten Vorschub leistet. Der Angelpunkt dieser Ausführungen aber ist: »

Hören wir Kant oder hören wir die Dinge von der Neuorientierung? Bei Kant ist die Sache noch viel kräftiger, noch auf viel besserem Untergrunde. Nun, was dann noch nachfolgt, das will ich schon gar nicht vorlesen, sonst könnte noch der gute alte Kant mit der Zensur in einen unliebsamen Konflikt kommen.