Verhältnisse von Mensch zu Mensch statt Verhältnisse

Quelle: GA 054, S. 095-096, 2. Ausgabe 1983, 02.03.1908, Hamburg

Verhältnisse - davon sind wir ausgegangen - werden vielfach als dasjenige angesehen, was den Menschen anders machen könnte, und man denkt abstrakt nach, wie Verhältnisse geändert werden können. Die Geisteswissenschaft hat es einzig und allein zu tun mit der realen Menschenseele, mit Verhältnissen von Mensch zu Mensch. Nun würde es heute ganz unmöglich sein, auf einzelne konkrete Dinge in bezug auf die soziale Frage einzugehen. Es darf aber doch auf dies oder jenes hingewiesen werden, wollen wir die Bausteine finden, die uns den Weg weisen, da wo wir im Leben stehen, in richtiger Art einzugreifen. Denn an jedem von uns liegt es, einzugreifen. Wollen wir die Bausteine finden, dann fragen wir uns: Was ist denn eigentlich die Grundtatsache, gleichsam das Grundphänomen, von dem alles Elend, alles soziale Leid überhaupt in der Welt abhängen kann? - Diese Grundtatsache kann uns die Geist-Erkenntnis zeigen, indem sie uns vor eine, heute von der größten Zahl der Menschen gar nicht verstandene und gar nicht anerkannte Tatsache stellt. Diese Tatsache hängt zusammen mit einer Grunderscheinung aller Entwickelung. Man möchte sagen, trocken ausgesprochen, sie zeigt uns durch eine tiefere Lebensbetrachtung, daß Not, Leid und Elend nicht allein - und am allerwenigsten, wenn man auf den Grund geht - abhängt von äußeren Verhältnissen, sondern von einer gewissen Seelenverfassung und im Zusammenhang damit mit deren äußeren Wirkungen.